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SIE VERLÄSST den Zug und bleibt dann auf dem schmalen, kleinen Bahnsteig zwischen den wenigen Gleisen stehen. Sie dreht sich um, jemand reicht ihr das Gepäck hinterher: Zwei Koffer, eine große Reisetasche und eine Aktentasche, die sie als Einziges in der Hand behält, während sie sich nach dem Fahrer des Hotelbusses umschaut, der sie anscheinend sofort erkannt hat und über die Gleise hinweg zu ihr kommt. Sie begrüßen sich herzlich, sie kennen einander, schon mehrmals hat dieser Fahrer sie von hier abgeholt und die wenigen Kilometer bis zum Hotel gefahren.

Er verstaut ihr Gepäck, und sie setzt sich nach hinten, und wie schon oft macht er einen Scherz darüber, dass sie sich nicht neben ihn, sondern nach hinten setzt, sie setzt sich in jedem Taxi und also auch in diesem Hotelbus nach hinten, weil sie einmal einen Unfall in einem Taxi erlebt hat, sie saß vorne, neben dem Fahrer, und war verletzt worden. Der Wagen fährt los, und sie lehnt sich etwas zurück, sie öffnet noch einen weiteren Knopf ihrer Bluse und fährt sich mit der rechten Hand kurz über den Hals, als müsste sie die Haut straffen und nach der Zugfahrt ein wenig aufmöbeln.


Der Fahrer schaut in den Rückspiegel und lächelt ihr zu, er spricht nicht sofort, sondern konzentriert sich zunächst darauf, den Weg aus der kleinen Ortschaft um den entlegenen Bahnhof herum hinter sich zu bringen. Ein paar wenige Abbiegungen, noch drei oder vier Straßen, dann verschwindet der Ort auch schon, und sie fahren nun auf dem hellgrauen Asphalt einer Landstraße ohne Mittelstreifen, auf der sie in kaum einer Viertelstunde das Hotel erreichen werden.

Sie stellt ein paar höfliche Fragen, sie erkundigt sich nach dem Befinden des Fahrers, nach seiner Frau und dem vor zwei Jahren geborenen Kind. Der Fahrer antwortet langsam und spricht davon, was er Tag für Tag mit dem Kind anstellt, er spricht sehr begeistert und so, als dächte er an nichts anderes mehr als an diese Tochter, seine Frau erwähnt er kaum, sie kommt nur noch zusammen mit dem Kind vor, als lenkte und dirigierte das Kind alle Bewegungen der Eltern von früh bis spät.

Diesmal fällt ihr dieses Sprechen von den Vorlieben und Leistungen des Kindes auf, es erscheint ihr beinahe etwas manisch und zu viel, sie sagt das aber nicht, sondern erkundigt sich pflichtbewusst weiter. Der Fahrer hört daraufhin nicht mehr auf, sondern schwelgt in seiner Vaterliebe und in Erzählungen darüber, wie er das Kind Tag für Tag mit einer anderen Kleinigkeit, die er aus dem Hotel mitbringt, überrascht.


Nach einigen Minuten hat sie dann aber endgültig genug von diesen Berichten, sie bittet den Fahrer, die Fenster herunterzulassen und langsamer zu fahren, dann holt sie das Aufnahmegerät aus ihrer Aktentasche und postiert es auf ihren Knien. Sie überzeugt sich, dass es funktioniert, dann hält sie das Gerät bereit und sagt dem Fahrer, dass er nun ganz langsam fahren und für einige Minuten nicht sprechen solle, weil sie diese Fahrt aufnehmen wolle. Der Fahrer kennt das schon, sie hat ihm einmal ausführlich erzählt, dass sie immer wieder ihre Umgebung aufnimmt, sie hält das Mikrophon einfach in das Spätsommerlicht und fängt dieses schwache Rauschen und Summen ein. Kurze Zeit später bittet sie ihn, am Straßenrand zu halten. Als der Wagen stehen bleibt, ist es vollkommen still, nicht einmal der Wind ist zu hören.


Sie schließt die Augen und horcht in diese Stille hinein, das Aufzeichnungsgerät läuft, und der Fahrer sitzt unbeweglich und etwas verkrampft auf seinem Sitz, als versuchte er, sich unsichtbar zu machen. Eine schwache Kühle legt sich auf ihr Gesicht, sie hat die Augen weiter geschlossen, und obwohl anscheinend nichts zu hören ist, glaubt sie doch, etwas zu hören: ein Ausatmen, ein kaum merkliches Strömen, gleichmäßig und konstant, etwas Dunkles, Tiefes. Kurz darauf aber ist auch noch etwas anderes da, ein Flirren, hell, sanft an- und abschwellend, als hätten die Spätsommerstrahlen der Sonne sich in einen Cluster aus lauter dicht nebeneinanderliegenden Tönen verwandelt.


Sie weiß, dass sie noch viel mehr hören würde, wenn sie sich jetzt Zeit dafür nehmen würde, sie kann sich regelrecht in die Klangräume ihrer Umgebung vertiefen und von Minute zu Minute mehr und mehr hören, oft nimmt sie eine ganze Palette von Klangfarben wahr, und diese Klangfarben sind auch bereits orchestriert, als wäre zum Beispiel das helle Flirren ein Flirren von Querflöten und als wäre der dunklere, tiefere Klang ein Rumoren von Tuben.

Ihre Anspannung ist so groß, dass sie sich unmerklich mit der Zunge über die Lippen fährt. Als sie aber die Zunge spürt, öffnet sie die Augen und schaltet das Aufnahmegerät gleich wieder aus. Sie bittet den Fahrer weiterzufahren, und damit sie sich nicht weitere Familiengeschichten anhören muss, erzählt sie von ihren letzten Tagen in München und davon, wie sehr sie sich nach dem Aufenthalt in dieser Vorgebirgslandschaft gesehnt habe. Manchmal, erzählt sie, sei während eines Einkaufs plötzlich das Bild des Schlosses da gewesen, wie eine Erscheinung, und einmal, als ihr das Herumlaufen durch die Stadt am frühen Abend endgültig zu viel gewesen sei, habe sie bloß die Augen schließen müssen und gleich wieder dieses Bild gesehen, die geduckten Flügel des Baus und den dahinter aufragenden Turm mit der grünen Spitze.


Sie fahren jetzt etwas bergab, der Fahrer bremst ein wenig, dann aber fährt er langsamer und sagt auch noch, dass er langsamer fahre, denn jetzt ist das eben noch beschworene Bild des Schlosses auch wirklich da, und sie sagt nichts mehr, sondern sie schaut nur noch starr: Die grauen Schieferdächer der beiden Hotelflügel mit den vielen kleinen Mansardenluken liegen im Licht, und die hellgrüne Turmspitze ragt aus diesem Licht hervor, als wollte sie ihr Grün wie ein mächtiger Sender in die ganze Umgebung der Wälder verstreuen.

Der Fahrer schweigt, und auch sie spricht jetzt nicht mehr, sie fahren langsam die schmale Straße entlang und biegen dann ab und auf das Hotelgebäude zu, durch die Allee mit den Pappeln, die ihr vorkommen wie eine Prozession von beinahe gleich großen Paaren. Sie ist jetzt etwas aufgeregt, jedes Mal, wenn sich der Bus dem Hotel nähert, befällt sie diese Unruhe, dort hinzukommen kann ihr gar nicht schnell genug gehen, und so öffnet sie die Tür des Wagens schon, während er ausrollt und dann direkt neben dem Eingang zum Stehen kommt.


Der Fahrer lacht und ruft ihr nach, dass er das Gepäck gleich aufs Zimmer bringen werde, sie aber hört kaum noch darauf, sondern ist schon in der Lobby und winkt den jungen Frauen an der Rezeption zu. Sie wird erkannt, und die jungen Frauen lachen mit ihr, weil sie bereits wissen, dass sie jetzt nicht sofort an der Rezeption vorbeikommt, sondern erst einen kleinen, sehr raschen Gang machen wird: durch das Restaurant, an dem am Abend ein Büffett für die Hotelgäste aufgebaut wird, durch den Tearoom und die große Bar mit dem schwarzen Flügel, nach draußen, wo jetzt an der Front eines Hotelflügels entlang einige Liegen postiert sind.

Sie beachtet das aber kaum, sie geht weiter, einen kleinen Pfad quer über eine Wiese, bis sie an ihrem Rand endlich zum Stehen kommt und hinab in die Schlucht blickt, wo das Sonnenlicht auf dem hellblauen Wasser eines leeren Pools tanzt. Genau diesen Pool wollte sie jetzt als Erstes sehen, genau diesen Lichttanz und all diese Helligkeit, sie verengt die Augen und blickt jetzt auf dieses Detail: ein blaues Rechteck mit einigen gleißenden, sprunghaft umherzuckenden Linien. Am liebsten würde sie sofort hinunterlaufen und ein Bad nehmen, sie versucht stattdessen aber, sich zu beruhigen: Alles stimmt, alles ist so, wie sie es bereits seit Tagen vor Augen hatte.


Sie wendet sich von der Schlucht ab und geht jetzt bewusst langsamer und schlendernd zurück ins Hotel, einige Frauen vom Service haben von ihrer Ankunft erfahren und wollen sie begrüßen, sie gibt ihnen allen die Hand und spricht kurz mit jeder, das Wetter, hört sie immer wieder, wird in den nächsten Tagen sehr gut, das Wetter könnte nicht besser sein.


Sie geht durch das Restaurant zur Rezeption, die jungen Frauen haben das Anmeldeformular schon ausgefüllt, und sie unterschreibt mit ihrem Namen, während in der Zeile darüber bereits ihre Münchener Adresse eingetragen ist.

Sie spricht mit den jungen Frauen über ihre Zugfahrt von München hierher und darüber, was ihr alles aufgefallen ist und was sie beobachtet hat, der Zugführer hat die Durchsagen diesmal nicht nur auf Deutsch und Englisch, sondern auch noch auf Französisch und Italienisch vorgetragen, die halbe Fahrt verging mit all diesen in der entlegenen Landschaft kurios klingenden Details, so dass einige Fahrgäste in einem Anfall von Komik in anderen Sprachen weitergemacht haben: in Spanisch und Portugiesisch, schließlich sei ein mitfahrender Japaner sogar noch gebeten worden, eine Durchsage auf Japanisch beizusteuern.

Ein ganzer Zug als Sprachenkonzert, das hat ihr gefallen, und sie will noch weitere Details schildern, bricht ihre Erzählung dann aber doch ab, indem sie sich nach ihrer Zimmernummer erkundigt und schließlich den Aufzug hinauf in den zweiten Stock nimmt. Ihre Zimmertür ist verschlossen, und sie muss ein Plastikkärtchen vor ein kleines, rot aufglimmendes Licht halten, bis direkt hinter dem Licht ein leicht schnurrendes Geräusch zu hören ist und das Rot danach sofort auf Grün springt.


Sie betritt das große Zimmer und sieht gleich, dass der Fahrer ihr Gepäck bereits im Raum verteilt hat. Die große Reisetasche steht neben dem niedrigen Tisch, einer der Koffer ruht schwer auf einer hölzernen Ablage, während der andere vor einem der Schränke kauert. Sie zieht ihre helle Jacke aus und geht kurz ins Bad, sie schaut in den Spiegel und kippt dann das Fenster, sie wäscht sich die Hände, geht zurück in den Schlafraum, sucht in ihrer Tasche nach einer Bürste und fährt sich damit mehrmals durchs Haar.

Dann nimmt sie einen Schluck aus der bereitstehenden Wasserflasche und setzt sich an den Schreibtisch. Sie räumt alles, was an Prospekten darauf herumliegt, in ein Fach und holt das Aufnahmegerät aus ihrer Aktentasche. Sie postiert es vor sich, lässt es laufen und beginnt, einen Pfirsich in mundgerechte Stücke zu schneiden. Sie schneidet die Stücke zurecht und isst sie dann langsam auf, während sie hinaus auf die mächtigen grauen Rücken der nahen Berge schaut.


Sie ist etwa eine halbe Stunde in ihrem Zimmer, dann wählt sie die Nummer der hoteleigenen Buchhandlung. Als sie die Stimme einer älteren Frau hört, sagt sie:

– Guten Morgen … – ja, ich bin’s, Jule, ich bin gerade angekommen. Ich packe meine Sachen aus, nehme ein Bad und komme dann bei Dir vorbei. Ich freue mich.