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DIE BRIEFE in der rechten, den gefüllten Korb in der linken Hand geht sie zurück zum Hotel. Sie betritt die Hotelküche und spricht kurz mit den Angestellten, später wird sie das gespülte Geschirr und Besteck wieder zurück in das Gartenhaus bringen.
Dann geht sie noch ins Foyer und unterhält sich mit den Mädchen an der Rezeption, die Briefe, die sie geschrieben hat, sollen möglichst rasch verschickt werden.
Bald ist Mittag, und um 13 Uhr sind sie zum Essen im Gartenhaus verabredet. Die Zeit bis dahin will sie noch zu einem kleinen Spaziergang nutzen. Sie nimmt den üblichen Spazierweg, der vor dem Hoteleingang hinauf in die Höhe abbiegt, sie fühlt sich entspannt und seltsam zufrieden, das starke Glücksgefühl lässt nicht nach, nein, im Gegenteil, es ist sehr lebendig und wird durch viele Erinnerungen an Bilder und Szenen der letzten Jahre noch verstärkt.
Sie denkt darüber nach, warum Georg sich ausgerechnet mit ihr so viel beschäftigte, mehr als mit allen anderen Geschwistern und auch mehr als mit seiner eigenen Frau. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass er älter geworden war und nicht mehr ein so betriebsames, geselliges Leben wie in seinen ersten Lebensjahrzehnten führen wollte. Insgeheim sehnte er sich wohl nach mehr Beständigkeit, Ruhe und auch nach einem eher privaten Leben. Schon als sie ein Kind war, genoss er es richtiggehend, mit ihr allein und zu diesen Zeiten von anderen Terminen befreit zu sein, jede mit ihr gemeinsam verbrachte Stunde empfand er als wertvoll.
Die Jahrzehnte zuvor hatte er dagegen noch ganz anders verbracht. Er baute die Galerie auf, er heiratete, und er bekam mit Henrike in rascher Folge mehrere Kinder. Vor allem war er aber viel unterwegs, er besuchte seine Künstler und andere Galerien, er kuratierte Ausstellungen und organisierte Kunstmessen. Mahlzeiten zu zweit oder dritt kamen in seinem Leben nur selten vor, und erst recht hätte er niemals die Zeit gefunden, sich auf den Fußboden einer Galerie zu setzen und mit einem Kleinkind zu spielen.
Mit ihr hatte er das aber getan, ja, sie hatten sich beide eine intime Zone der gegenseitigen Vertrautheit geschaffen, und mit der Zeit erhielt dieser intime Raum für Georg eine so große Bedeutung, dass er auf keinen Gegenstand, der in ihm eine noch so kleine Rolle spielte, verzichten wollte. Aus diesem Impuls heraus entstand dann seine Sammlung, die sich später zu dem ausweitete, was er »Jules Archiv« nannte. Auf den ersten Blick war es eine Sammlung der Gegenstände und scheinbar toten Dinge, auf den zweiten aber eine Sammlung von Erinnerungen an das mit seiner jüngsten Tochter geteilte, gemeinsam verbrachte Leben.
Wie aber war er genau auf die Sache mit dem Archiv gekommen? Hatte er sich das selbst ausgedacht? Und hatte er einfach von heute auf morgen damit begonnen, die Gegenstände ihrer Kinderwelt aufzuheben? Sie erinnert sich, dass noch etwas anderes zu seiner plötzlichen Sammelleidenschaft beigetragen hatte, ja, in genau diesen Jahren lernte Georg nämlich einen französischen Künstler kennen, der in seinen Ausstellungen ausschließlich Objekte der Erinnerung präsentierte. Mit Gegenständen aus seiner Kinderzeit, die er in kleinen, flachen Glasvitrinen ausstellte, fing alles an. Die Vitrinen wurden an die Wand gehängt und atmosphärisch beleuchtet, sie kann sich noch gut daran erinnern, dass sie solche Vitrinen als Kind gesehen hat und dass ihr diese Vitrinen damals Angst machten. Verstärkt wurde ihre Angst aber noch durch die Musik, die der Künstler während der gesamten Dauer der Ausstellung laufen ließ, sie weiß nicht mehr, welche Musik genau es eigentlich war, aber sie hat diese Klänge noch immer im Ohr. »Weltraummusik« nannte Georg sie, und er wollte damit wohl sagen, dass die Musik sphärischen Klängen ähnelte und einen vermuten ließ, sie werde nicht von Instrumenten, sondern vom Klang ferner Himmelskörper hervorgebracht. In späteren Jahren hatte sie einmal von den Planeten erzeugte Klänge gehört, damit hatte die »Weltraummusik« eine gewisse Ähnlichkeit, sie ähnelte aber auch Herzschlägen und hörte sich dann so an, als kämen diese schweren Herzschläge aus einer großen Tiefe.
Georg schaute sich diese Objekte immer wieder an, und er war wie elektrisiert. »Etwas Ähnliches machen wir auch«, sagte er, und dann kümmerte er sich um die Ausstellungen des französischen Künstlers, der nach Objekten aus seinem eigenen Leben auch Objekte aus dem Leben anderer Menschen auszustellen begann. Um solche Objekte zu finden, ging er auf Flohmärkte, sammelte Kleidungsstücke fremder Personen und brachte sie in großen Mengen an den Decken der Ausstellungsräume an, so dass sie diese Decken in bunten, eng zusammengedrängten Reihen wie schwebende Engel bevölkerten. Auch alte Schwarz-Weiß-Fotografien erwarb er in großen Mengen und dekorierte ganze Räume so mit diesen Aufnahmen, dass sie zu einer einzigen, rätselhaften Fotoerzählung fremden Lebens wurden.
In seinen Arbeiten kurz vor Georgs Tod beschäftigte der Künstler sich dann mit Aufnahmen von Tönen des menschlichen Herzens. Er nahm zuerst seine eigenen Herztöne auf, später aber auch die anderer Menschen, ja, er hatte schließlich sogar ein Projekt entworfen, das er »Archiv des Herzens« nannte und das Tausende von Herztönen sammelte, die dann auf einer abgelegenen Insel im fernen Japan zu hören sein sollten.
Schon seit einiger Zeit wollte sie zu dieser Insel fahren. Es ist nicht leicht, dorthin zu gelangen, nein, eine solche Reise soll auch nicht leicht oder bequem sein. Wenn man aber auf dieser einsam gelegenen Insel ankommt, wird man einen großen, stillen Raum betreten, in dem man die Stimme des Künstlers hört. Sie begrüßt den Besucher, und sie fragt ihn: »Wer sind Sie?« oder »Wer bist Du?« Mit dieser Frage im Ohr betritt der Besucher das Archiv der Herzen, um sich auf die Suche nach den Tönen des eigenen Herzens zu machen. Natürlich wird er sie unter den Tausenden von fremden Herztönen kaum entdecken, so dass er sich zunächst fragen wird, wer sich wohl hinter diesen fremden Klängen verbirgt: »Wer ist er?« oder »Wer ist sie?« Vollkommen sicher ist sie aber, dass sie Georgs Herztöne nach einer Weile erkennen wird, Georgs Herztöne wohlgemerkt, nicht die eigenen, denn Georgs Herztöne, die er kurz vor seinem Tod von dem französischen Künstler hat aufzeichnen lassen, klingen arhythmisch und so einzigartig, dass sie diese Töne jederzeit unter Tausenden erkennen könnte.
Seltsam … – die erste Nachricht, die Johannes ihr geschickt hat, bestand in der eigenartigen Frage »Wer ist diese Schwimmerin?«, die ihr seither nicht mehr aus dem Kopf geht. Immer wieder hat sie darüber nachgedacht, an was sie diese Frage erinnert, jetzt aber, genau in diesem Moment ihrer Überlegungen, weiß sie es endlich. Sie erinnert, ja, wahrhaftig, sie erinnert an die Frage des französischen Künstlers, die er den Besuchern des Archivs der Herzen stellt, und sie erinnert noch viel mehr an die Fragen, die sich die Besucher des Archivs der Herzen beim Anhören fremder Herztöne stellen. Soll das etwa heißen, dass auch Johannes die Arbeiten dieses Künstlers kennt?
Sie bleibt stehen, sie hat keine Lust, weit zu gehen, sie möchte sich nur etwas vom Hotel entfernen, um freier nachdenken zu können. Als sie sich auf der Höhe einer kleinen Kuppe umdreht, schaut sie auf das Hotelgelände herab, sie setzt sich ins Gras und beobachtet, was dort unten geschieht.
Dann holt sie ihr Handy hervor und orientiert sich auf dem Display. Sie findet schließlich, was sie sucht, und legt sich nun mit dem Rücken ins Gras. Sie stellt den Klang des Handys lauter, und nach einem Knopfdruck hört sie das Herz ihres Vaters schlagen. Sie schließt die Augen und hört zu, unzählbare Male hat sie diese Töne bereits gehört, doch jedes Mal geht ihr diese Musik so nahe, dass sie oft noch nachts davon träumt. Sie ist allein im Weltraum, und Vaters Herztöne senden eine Botschaft an ferne Planeten. Sie schwebt in einer Sonde durchs All, und Vaters Herztöne kommen aus dem Rauschen der fernen Ozeane. Sie sitzt in einem Gefängnis unter der Erde, und Vaters Herztöne dringen in dieses Gefängnis ein wie Meißelhiebe, die in die schweren Wände das befreiende Loch schlagen.
Manchmal machen diese Töne sie glauben, Vater lebe noch. Besonders wenn sie müde oder erschöpft ist, wehrt sie sich nur schwach gegen diese Illusion. Sie schließt die Augen und träumt von dem Leben, das sie mit ihm geführt hat. Oft hat sie ihm lange Passagen aus Theaterstücken, Romanen oder Gedichten vorgelesen, dann hat er sich – so wie sie gerade jetzt – irgendwohin auf die Erde gelegt und zugehört. »Hat Henrike Dir früher, als ihr noch ein Liebespaar wart, auch etwas vorgelesen?« hat sie ihn einmal gefragt, aber er hat nur den Kopf geschüttelt und geantwortet: »Kein Mensch hat mir jemals etwas vorgelesen.« Das hörte sich bitter und enttäuscht an, auch ihm selbst muss das so vorgekommen sein, denn er versuchte sofort, diesen Eindruck vergessen zu machen, indem er lachend sagte: »Neinnein, mir hat niemand etwas vorgelesen, stattdessen habe ich meinen Künstlern oft die Leviten gelesen … – Du weißt, was ich meine.«
Ab und zu fingen sie auch an, über die vorgelesenen Texte zu sprechen, sie bemerkte dabei aber oft, dass ihm diese Gespräche nicht sehr behagten. Sie erklärt es sich jetzt damit, dass sie für solche Gespräche vielleicht noch zu jung war, denn vieles, was sie sagte, war für ihn wohl vorhersehbar, oder es ging zu wenig auf das ein, was ihn gerade beschäftigte. Jedenfalls waren solche Gespräche nach kurzem Anlauf zum Erliegen gekommen, und er erkundigte sich dann stattdessen nach ihren Arbeiten: »Erzähl mir davon, was Du vorhast, los, erzähl mir davon, das möchte ich hören!« Und in der Tat – wenn sie von ihren Ausstellungen und Projekten sprach, war sein Interesse viel reger, alle Details wollte er wissen, und meist hatte er gute Ideen, wie bestimmte technische Probleme zu lösen waren. »Du hast die Ideen, und ich bin der Handwerker, der weiß, wie man sie ausführt«, sagte er dann und entwarf Skizzen, wie man ihre Objekte in Ausstellungsräumen wirkungsvoll präsentieren konnte.
Etwa sechs Minuten lang ist der Herzschlag ihres Vaters zu hören. Kann man an diesem Herzschlag erkennen, dass der Mensch, der ihn hat, bald sterben wird? Bisher hat sie diese Frage noch keinem Arzt gestellt, sie traut sich einfach nicht. Sollte nämlich ein Arzt bestätigen, dass es der Herzschlag eines Schwerkranken ist, so würde sie sich vorwerfen, nicht rechtzeitig gehandelt und ihren Vater nicht zum Arzt geschickt zu haben. Der französische Künstler jedenfalls behauptete nach dem Hören dieses arhythmischen Schlagens nur, dass die Herzen aller Menschen auf jeweils einzigartige Weise schlügen und dass der Herzschlag seines Freundes Georg keineswegs ungesund, sondern vielmehr »poetisch« klinge. »Poetisch wie das Singen von Walen oder Delfinen«, sagte er, und natürlich empfand Georg das als schmeichelhaft und dachte nun erst recht nicht daran, sich untersuchen zu lassen.
Sie öffnet die Augen wieder und schaut in den Himmel. Vor vielen Jahren war dieser französische Künstler noch vollkommen unbekannt und konnte nicht einmal den Aufbau seiner Ausstellungen bezahlen. Er drehte kleine Filme von seinen Erinnerungsprojekten und ließ sie in winzigen Pariser Kinos laufen. In eines dieser Kinos war Georg durch einen Zufall geraten, und genau dort sprach er den Künstler nach einer Aufführung seines Films an. Die beiden gingen später zusammen spazieren, Georg lud den Künstler zum Essen ein, und von diesem Tag an waren die beiden gute Freunde.
Merkwürdig, sie hat noch nie länger darüber nachgedacht, wie wichtig dieser Tag wohl für Georgs weiteres Leben gewesen sein muss. Ein Archiv von Kinderobjekten sehen – das entf lammte ihn damals so, dass er selbst begann, kleine Archive anzulegen. Diese Archive aber bezogen sich auf jene Erinnerungen, die er als beständig und bleibend empfand, und sie bezogen sich damit vor allem auf jene Stunden und Tage, die er gemeinsam mit seiner jüngsten Tochter verbrachte. »An das Leben davor erinnere ich mich kaum noch«, sagte er später einmal, »ich weiß nicht einmal mehr, an welchen Orten ich mit genau welchen Menschen zusammen war.«
Ein einziger Nachmittag in Paris war also vielleicht die Geburtsstunde seiner großen, späten Lebenssehnsucht, und diese Sehnsucht führte schließlich nach vielen Jahren dazu, dass er sich von seiner Familie trennte und ein neues Leben begann.
Ihr erscheint das plötzlich sehr klar, sie versteht seine Geschichte jetzt viel genauer. Sie liegt noch immer im Gras und starrt in den Himmel, und sie denkt darüber nach, wie stark auch sie selbst von diesen frühen Geschichten beeinflusst wurde. All ihre künstlerischen Arbeiten haben mit Erinnerungen zu tun, mit »Jules Archiv« hat es begonnen, später hat sie dann auch Archive fremder Personen angelegt, und heute entwirft sie künstliche Archive, die sie wie eine Regisseurin inszeniert und wie eine Schauspielerin präsentiert.
Im Grunde ist sie auf geradezu ideale Weise darauf vorbereitet, auch Johannes beim Aufbau eines Archivs zu helfen. Wenn sie ihn näher kennenlernt, wird sie mehr vom Leben und Sterben seiner Mutter erfahren, und sie wird versuchen, diese Erzählungen mit ihm zusammen in »Archivarbeit« zu verwandeln.
Als ihr dieser Gedanke kommt, richtet sie sich auf. Dass sie beide sich so schnell aufeinander zu bewegten – hat das am Ende mit ihrem gemeinsamen Schicksal zu tun? Er hat die Mutter verloren, sie den Vater, und beide Ereignisse haben sich in der Folge mit Georgs und Katharinas Lebensgeschichten verbunden. Was aber hat das zu bedeuten?
Sie denkt noch eine Weile nach und nimmt sich vor, mit Katharina darüber am Nachmittag zu sprechen. Dann erkennt sie, dass sich eine Gruppe von drei Menschen auf das Gartenhaus zubewegt. Sie erkennt Johannes, der vorausgeht, zwei Küchenhilfen gehen hinter ihm her. Es sieht beinahe aus wie ein kleiner Entenmarsch, ja, es hat etwas Komisches. Sie muss grinsen, als sie sieht, wie stolz und etwas steif Johannes geht, und wie die Küchenhilfen sich bemühen, das Mittagessen zusammen mit Geschirr und Besteck ohne einen Ausrutscher ins Gartenhaus zu bringen. Sie erkennt ihren Korb, in dem sich anscheinend ihr japanisches Geschirr befindet, und sie erkennt, dass Johannes in jeder Hand eine Flasche Wein hält, auf deren Etiketten er auf seinem Weg dann und wann schaut, als wären ihm diese Weine fremd und als müsste er sich mit ihnen erst anfreunden.
Sie bleibt noch etwas sitzen, sie wartet, bis die beiden Küchenhilfen das Gartenhaus wieder verlassen. Auf dem Rückweg zum Hotel blicken sie sich zweimal um und betrachten das Haus, anscheinend sind sie von dem, was sie gesehen haben, stark beeindruckt. Nach einer Weile öffnet Johannes einige Fenster des Hauses, dann tritt er vor die Tür, als wartete er nun ungeduldig auf ihr Erscheinen.
Sie steht auf und will losgehen, als sie sieht, dass er wieder nach drinnen geht und kurz darauf mit einer Klarinette erscheint. Er steht nun in der Tür und scheint etwas zu spielen, sie kann aber wegen der großen Entfernung nicht hören, was es ist. Das Bild des fernen Musikanten überrascht sie, und es wirkt derart anziehend, dass sie sich plötzlich sehr beeilt, den Weg zum Hotel zurückzulegen. Dort angekommen, sucht sie rasch eine Toilette auf und wäscht sich mit kaltem Wasser das leicht erhitzte Gesicht.
Dann durchquert sie das Hotel und macht sich auf den Weg zum gemeinsamen Mittagessen. Als sie in die Nähe des Gartenhauses gerät, ist Johannes nicht mehr zu sehen. Die Fenster des kleinen Hauses aber stehen noch immer offen, und von drinnen hört man Musik. Es ist eine verführerische, ruhig singende Musik, ja, sie kennt diese Musik, aber welche ist es genau?
Sie bleibt einen Moment stehen und summt mit, dann weiß sie Bescheid. Johannes sitzt drinnen, im Innern ihres gemeinsamen Hauses, und er hört den zweiten Satz von Mozarts Klarinettenkonzert.