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ER WILL seine Lektüre in Katharinas Archiv gerade beenden, als er auf eine Passage stößt, die er auf den ersten Blick nicht versteht. Er liest sie mehrmals langsam, er ist irritiert, und so beginnt er, das für ihn nur schwer durchschaubare Geflecht Schritt für Schritt zu entwirren.
Während eines Aufenthaltes in Regensburg notiert Katharina nämlich beiläufig, dass sie Georg aus einem Theaterstück vorgelesen habe. Sie erwähnt den Titel nicht, es scheint in diesem Stück aber vor allem um die Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter gegangen zu sein. An diese eher beiläufige Notiz schließt sich die Bemerkung an, dass Georg besonders impulsiv von seiner »einzigen, schönen Tochter« gesprochen und sich schließlich – beinahe etwas sehnsüchtig – gefragt habe, wo sie sich wohl gerade aufhalte. Weiter ist daraufhin notiert, dass er das Gespräch unterbrochen, Jule angerufen und dabei erfahren habe, dass sie in Hamburg sei und dort eine Galerie besuche, die ihre Arbeiten im nächsten Jahr vielleicht präsentieren werde.
Er sitzt still und atmet tief durch. Wie ist das alles bloß zu verstehen? An dieser Stelle ist doch wohl von Jule die Rede, und zwar so, als sei Jule Georgs »schöne Tochter«. Wieso aber dann »die einzige«? Hatte ihm Katharina nicht erzählt, dass er zusammen mit seiner ersten Frau sechs Kinder gehabt habe? Und hatte er das nicht so verstanden, dass es unter diesen sechs Kindern wohl mehr als nur eine Tochter gab?
Wie auch immer – zunächst beschäftigt ihn vor allem die überraschende Entdeckung, dass Jule anscheinend Georgs Tochter ist. Wenn das stimmt, ist Katharina ihre Stiefmutter und keineswegs nur eine gute Freundin. Und wenn das stimmt, haben beide, Jule und Katharina, in Georg den vielleicht wichtigsten Mann in ihrem Leben verloren, und das vor nicht einmal allzu langer Zeit.
Georgs Verlust, denkt er weiter, wird die beiden eng miteinander verbunden haben, wahrscheinlich sind sie vor allem durch diesen dann gemeinsam oder auch ähnlich erlebten Verlust ein Paar von sehr guten Freundinnen geworden, deren Beziehung aber auf viel tieferen Fundamenten ruhte als auf einer bloßen Freundschaft. Die beiden haben nämlich, wenn alles so stimmt, wie er es sich jetzt vorstellt, eine gemeinsame Geschichte, ja im Grunde bilden sie den Zweig einer Familie und schreiben deshalb, indem sie sich sehen, miteinander telefonieren oder sich Mitteilungen senden, ihre »Familiengeschichte« weiter.
Er legt die Karten beiseite und greift nach dem kleinen, roten Gummi, das er über den von ihm bereits gelesenen Stapel stülpt. Er legt ihn auf ein Regal und steht auf. Er ist jetzt sehr unruhig, mit einer solchen Entdeckung hatte er nicht gerechnet, im Augenblick weiß er nicht, was sie bedeutet.
Er verlässt das kleine Kabinett und trifft in der Buchhandlung auf Katharina, die hinter der Theke hervorkommt und ihn anschaut.
– Na? sagt sie, war es sehr schlimm?
Er schüttelt den Kopf und muss plötzlich lächeln.
– Hör auf damit, antwortet er, Du weißt selbst, dass es ganz wunderbare Texte sind. Ja, es sind wunderbare, einzigartige, druckreife Texte. Aber es sind ganz andere Texte, als ich mir vorgestellt hatte.
– Inwiefern? fragt sie.
– Es sind nicht nur Texte über Lektüren, sondern es sind Texte einer großen, berührenden, bis ins Mark gehenden Liebesgeschichte. Du hast hier begonnen, diese Geschichte in vielen kleinen Erzählungen aufzuschreiben. All diese Erzählungen handeln von Georg und Dir, von Eurem Zusammensein, Euren Reisen und Euren gemeinsamen Lektüren, die anscheinend das Fundament Eurer Liebe waren.
Sie schaut ihn an und schweigt. Er will weiter- und weitersprechen, da bemerkt er, dass sie zu Boden blickt. Er hört auf zu sprechen, er erkennt, wie erschüttert sie ist. Er geht auf sie zu und umarmt sie, und als sie in enger Umarmung zusammenstehen, spürt er, dass ihr die Tränen gekommen sind.
Er sagt eine Weile nichts, all das, wovon er eben gelesen hat, ist nun mit großer Macht da, er glaubt eine Straßenszene in der französischen Provence zu sehen und einen verregneten Nachmittag in einem Hotelzimmer in Regensburg, all die Atmosphären dieser Szenen sind nun auch Teil seines Lebens.
– Du hast ihn nicht vergessen können, sagt er, Du hast die ganze Zeit hier auf dieser Insel mit Deinen Erinnerungen an Georg verbracht. Sie sind wohl stärker und stärker geworden, und schließlich drängten sie sich so sehr auf, dass Du damit begonnen hast, sie aufzuschreiben.
Sie löst sich langsam von ihm und holt ein kleines Paket Taschentücher aus einem Schubfach unterhalb der Theke. Sie schnäuzt sich mehrmals, dann lächelt sie wieder.
– Entschuldige, sagt sie, aber was Du sagst, überrollt mich gerade ein wenig. Gleich wird es schon wieder gehen, ja, gleich wird es mir wieder besser gehen. Du erinnerst mich an etwas sehr Trauriges, aber natürlich freue ich mich auch über das, was Du jetzt sagst. Ich hatte ja selbst die ganze Zeit das Gefühl, dass ich eigentlich Bruchstücke einer Liebesgeschichte aufschreibe, obwohl es auf den ersten Blick um ganz konkrete Lektüren ging.
– Das Schreiben über Eure Lektüren hat Dir anscheinend geholfen, von Deiner großen Liebe zu erzählen, antwortet er. Auf direktem Weg hättest Du so etwas nicht gekonnt.
– Ja, sagt sie, das ist ganz richtig. Ich habe mich nicht getraut, von unserem gemeinsamen Leben zu erzählen. Vielleicht war ich zu schamhaft, zu scheu oder zu vorsichtig, und außerdem hatte ich kein richtiges Thema, denn ich brauchte ein Thema, um nicht einfach über dies und das zu schreiben. Und außerdem fürchtete ich mich, lauter banales Zeug zu notieren. Die Lektüren aber waren kein banales Zeug, sondern ein Zeichen unserer Zusammengehörigkeit, ja, sie begründeten eine Art, wie soll ich es sagen, eine Art fortlaufenden Liebesstrom.
Er denkt kurz über ihre Wendung vom »Liebesstrom« nach, weiß aber nicht genau, wie er sie verstehen soll. Er schweigt und überlegt, vielleicht hat sie Georg mithilfe der vielen Lektüren dazu gebracht, von seinen Empfindungen und Gefühlen zu erzählen. Sie ist eine kluge, zurückhaltende , aber bestimmte Frau, die auf Menschen, die ihr nahekommen, sehr intensiv wirkt. Man ist gern mit ihr zusammen, man unterhält sich vorzüglich mit ihr, man hat das Gefühl, dass sie einen dazu verführt, etwas von sich preiszugeben. Ja, genau so scheint es zu sein, er selbst könnte ja auch von ihrer Kunst der Verführung erzählen. Oft genug hat er sich in den letzten Jahren mit ihr getroffen und scheinbar mit ihr nur über Bücher geredet. Und doch – das Private schwang immer mit, wahrscheinlich hat sie noch aus seinen abseitigsten Bemerkungen zu diesem oder jenem Buch etwas Besonderes herausgelesen, das etwas über ihn verriet.
Er möchte etwas zu alldem sagen, etwas Summarisches, Treffendes, aber er ist noch nicht so weit, deshalb setzt er einfach noch einmal von vorne an.
– Diese Texte sind eine einzige Trauer- und Erinnerungsarbeit, sagt er, das Schöne und Wunderbare an ihnen aber ist, dass sie den Leser weder traurig noch in irgendeiner Form depressiv stimmen. Ganz im Gegenteil: Sie leuchten, sie erzählen von einer großen Liebe als einem sehr intensiv und bewusst gestalteten Leben. Als ich sie gelesen habe, wurde ich mit zunehmender Lektüre immer heiterer. Man möchte sich sofort verlieben, auf der Stelle, man möchte mit einem geliebten Menschen sofort auf und davon ziehen, bei Sonne, bei Regen, egal, man möchte mit ihm reisen und während der Reise irgendwo innehalten, um etwas zu lesen, das zu dem jeweiligen Ort, an dem man sich gerade befindet, passt.
– Zum jeweiligen Ort oder zu der jeweiligen Stimmung oder zu dem, was einen innerlich gerade beschäftigt, antwortet sie. Die Lektüre sollte einfach passen, das ist es. Nicht jede Lektüre passt, auch wenn das Buch, für sich genommen, noch so gut ist. Man braucht gar nicht einmal viel Zeit, um jeweils herauszufinden, was passt. Man beginnt einfach zu lesen, und schon nach kurzer Zeit zieht einen das Buch in sich hinein oder eben nicht. Und die Folgen dieses Kontakts bestehen dann darin, dass man von sich selbst zu sprechen beginnt und sich über dies und das klarer wird. Die Lektüre dringt in einen ein, sie verleiht einem Worte, ja, sie lässt einen über Sachen und Dinge sprechen, über die man sonst niemals gesprochen hätte. Das ist das ganze Geheimnis.
– Das ist das ganze Geheimnis, sagt er. Mich überraschte in Deinen Texten aber noch ein anderes, ganz konkretes Geheimnis.
– Ich verstehe Dich nicht, antwortet sie. Was meinst Du?
Er holt etwas Luft, er nimmt jetzt einen Anlauf, denn er muss jetzt damit herausrücken, sofort, ohne weitere Umschweife.
– Katharina, ich habe nicht gewusst, dass Jule Georgs Tochter ist. In einem Deiner Texte bin ich aber darauf gestoßen, dass er von ihr als seiner »einzigen, schönen Tochter« spricht. Stimmt das? Ist sie seine Tochter?
Sie schaut ihn an und fährt sich mit einem Taschentuch kurz über die Augen, dann antwortet sie:
– Ja, es stimmt, Jule ist seine Tochter.
– Und sie ist wirklich seine einzige Tochter? Hatte er nicht sechs Kinder? Und war unter diesen Kindern keine weitere Tochter?
– Doch, ja, natürlich. Er nannte Jule aber in den Jahren, in denen er von seiner früheren Familie getrennt lebte, immer nur seine »einzige Tochter«. Er wollte sagen, dass es die »einzige Tochter« war, die noch zu ihm hielt und ihm noch geblieben war. Außerdem war sie sein Lieblingskind, um keines seiner Kinder hat er sich so sehr gekümmert. Er war geradezu vernarrt in sie, und sie hat diese Zuneigung erwidert.
Wieder hat er das Gefühl, dass er zu langsam ist, um alles genau zu verstehen. Er muss diese Nachrichten erst in Ruhe durchdenken, sie fallen jetzt zu unerwartet über ihn her. Er atmet tief aus und stöhnt ein wenig auf.
– Warum hast Du mir nicht erzählt, dass Jule Georgs Tochter ist?
– Weil ich wusste, dass Du es zum richtigen Zeitpunkt von allein herausbekommen würdest.
– Seit wann genau kennst Du sie denn?
– Ich habe sie erst nach Georgs Tod kennengelernt, wir sind sehr gute Freundinnen geworden.
– Im Grunde bist Du ihre Stiefmutter.
– Ja, schon, aber das Wort ist zu hässlich. Unter einer Stiefmutter stellt man sich ja etwas geradezu Teuflisches vor. Unsere Beziehung ist aber eine ganz andere, es ist eine sehr gute Freundschaft.
– Als ich Euch in diesem Hotel zum ersten Mal zusammen gesehen habe, habe ich gedacht, ich sehe Mutter und Tochter.
– Ja, das trifft es schon eher, unsere Beziehung hat etwas von einer Mutter-Tochter-Beziehung.
– Ich vermute, dass eine solche Mutter-Tochter-Beziehung Georg gefallen hätte. Vielleicht konntest Du Jule den plötzlich fehlenden Vater ein wenig ersetzen.
– Ein wenig vielleicht, ja, aber auf keinen Fall ganz. Sie hat ihn sehr geliebt, und er wiederum hat sie sehr geliebt. Er hat sich immerzu Sorgen um sie gemacht.
– Sorgen? Welche Sorgen?
– Sorgen um ihre berufliche Laufbahn als Künstlerin, Sorgen aber auch darum, dass sie nicht den richtigen Mann finden wird. Ich meine einen Mann, den sie ganz und gar liebt, ich meine einen Mann, mit dem sie so glücklich wäre, wie wir beide, Georg und ich, glücklich waren.
– Hat er das gesagt?
– In letzter Zeit, kurz vor seinem plötzlichen Tod, hat er häufig davon gesprochen. Davor aber fast nie, nein, davor war von solchen Dingen nur sehr selten und dann auch nur in ironischem Tonfall die Rede. Ich weiß aber noch, dass er kaum eine Woche vor seinem Tod richtiggehend verzweifelt war. Damals hat er gesagt, es ist ganz ausgeschlossen, dass sie jemanden findet. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich auf die Suche nach dem richtigen Mann begeben.
– Hat Jule davon gewusst? Hat er mit ihr darüber gesprochen?
– Aber nein, niemals! Er hat seine Witze gemacht, aber er hat ihr nicht gezeigt, wie beunruhigt er war. Wenn sie sich nie richtig verliebt, ist alles umsonst, das hat er gesagt.
– Er hat aber niemanden gefunden, oder doch? Hat er an jemanden gedacht, den er für geeignet hielt?
– Nein, natürlich nicht. Er konnte das Problem nicht ernsthaft angehen, er war viel zu befangen. Er brauchte jemand anderen, der sich dieser Dinge annahm.
– Einen anderen? Aber wen?
– Mich. Ich habe mir meine Gedanken gemacht, und als ich Jule näher kennenlernte, machte ich mir noch mehr Gedanken.
– Und? Du hast Dich um einen Partner für sie gekümmert? Im Ernst?
– Im Ernst.
– Und Du verrätst mir, an wen Du dann gedacht hast?
– Ja, ich sage es Dir, aber Du weißt es doch längst. Du bist es, nur Du!
– Ich?!
– Ja, nur Du! Als wir uns eine Weile kannten, wusste ich, dass Du der Richtige sein würdest.
– Und weiter?
– Ich habe darauf gewartet, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde, Euch zusammenzuführen. Scheinbar absichtslos, ohne direkte Eingriffe, alles sollte wie von selbst entstehen.
– Und nun?
– Anscheinend ist alles wirklich von selbst entstanden. Ihr beide habt die Sache, ohne dass ihr von meinen Ideen wusstet, in die eigenen Hände genommen. Ich habe nicht mehr dazu getan, als Euch hierher einzuladen, und zwar so, dass ihr an demselben Tag hier eintreffen und an demselben wieder abfahren würdet. So hatte ich es geplant. Was aber im Einzelnen hier passieren würde, darum wollte ich mich nicht kümmern. Auf keinen Fall.
– Weiß Jule davon?
– Sie weiß natürlich, dass wir uns gut kennen. Mehr weiß sie nicht, und mehr braucht sie auch vielleicht vorerst nicht zu wissen.
Er ist von alldem so überrascht, dass er nur hilflos den Kopf schüttelt. Was soll er noch sagen? Er braucht jetzt endlich Zeit, sich seine eigenen Gedanken zu machen.
– Ich verschwinde jetzt vorerst einmal, sagt er. Das alles kommt für mich etwas plötzlich. Ich kapiere es noch gar nicht richtig.
– Was ist da schon zu kapieren? antwortet sie und lacht plötzlich wie erleichtert. Ich habe Georgs größten Traum zu erfüllen versucht, und ich glaube fast, es ist mir gelungen.
– Und Du warst Dir ganz sicher, dass wir uns so gut verstehen?
– Absolut, und ich erkläre Dir später auch einmal, warum. Aber es hätte natürlich auch etwas dazwischenkommen können. Ihr hättet aneinander vorbeilaufen können, Ihr hättet Euch verfehlen können. Aber das alles ist zum Glück nicht passiert.
– Ich verschwinde jetzt, Katharina.
– Du wolltest mir aber noch einige Ratschläge zu meinen Texten geben. Wir wollten darüber sprechen, wie ich sie verbessern oder bearbeiten kann.
– Das werden wir, bestimmt werden wir das. Ich habe mir dazu auch bereits etwas notiert. Aber nicht jetzt, bitte nicht jetzt. Ich muss jetzt erst einmal abtauchen. Gründlich. Und tief.
Er schafft es immerhin, wieder etwas zu lächeln, dann umarmt er sie noch einmal und gibt ihr einen Kuss. Er dreht sich um und verlässt die Buchhandlung. Draußen auf dem Flur bleibt er stehen, er weiß nicht, wohin er jetzt gehen soll. Erst nach einer Weile fällt es ihm wieder ein. Er schüttelt erneut den Kopf, dann fährt er mit einem Lift ins Tiefgeschoss. Angeblich befindet sich dort unten ein sehr guter Koch, und dieser Koch versteht etwas von Rehbraten und Rehrücken.