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NACH IHRER kurzen Begegnung mit Katharina kehrt sie zum Gartenhaus zurück. Sie hat ihr Glück nicht für sich behalten können, sie musste Katharina unbedingt davon erzählen. Davor hat sie einige Fotos von den Szenen des frühen Morgens gemacht, sie hat den Frühstückstisch in all seiner Unordnung nach dem Verzehr des Frühstücks fotografiert, und sie hat Aufnahmen von ihrem Schreibtisch gemacht, auf dem verstreut die vielen Briefbögen liegen, die sie nach dem Frühstück wie im Rausch beschrieben hat.
Jetzt, nach ihrer Rückkehr, räumt sie das Zimmer auf. Sie öffnet mehrere Fenster und lässt den Dunst des frühen Morgens hinausziehen. Dann stellt sie das Geschirr und was von den Speisen übrig geblieben ist, in einen großen Korb, den sie sich in der Hotelküche besorgt hat.
Sie denkt darüber nach, dass sie ein Frühstück von der Art serviert hat, wie es auch Georg gemocht hätte. Immer wenn sie mit ihm gefrühstückt hat, musste es ein opulentes Frühstück geben. Georg verabscheute Brötchen jeder Art, auch Croissants mochte er nicht. Stellte man ihm ein Frühstücksei hin, lachte er nur und sorgte dafür, dass es sofort wieder verschwand. Brötchen, Croissants und Frühstückseier nannte er »Spielzeug« und empfand ihren Verzehr als »degeneriert«.
Sie lacht kurz auf, als sie sich daran erinnert, wie er in Hotels manchmal den Frühstückstisch abräumte. Das Frühstück war für ihn eine kräftige Mahlzeit, nach der Zeitungen gelesen und oft noch einige Gläser Sekt getrunken wurden. Von ihm hat sie die Eigenheit übernommen, in der Früh Sekt zu trinken. An die Opulenz des Frühstücks allerdings hat sie sich nicht gewöhnen können. Ihr fehlte einfach das Gegenüber, ja, das war es, ihr fehlte jemand, dessen Genießen der deftigen Speisen so ansteckend wirkte, dass man sich auch selbst davon mitreißen ließ.
Einige Zeit hatte sie Georg in Verdacht, dass er darauf wartete, dass sie ein solches Gegenüber fände. Wenn sie einen Freund hatte, so lud er ihn oft mit zu gemeinsamen Mahlzeiten ein, schon kurze Zeit später aber ging er meist auf Abstand zu diesem Dritten in ihrer Runde. Er kommentierte ihre Beziehung im Einzelnen nicht, aber er schien doch zu wissen, dass unter all diesen Künstlern, Kuratoren oder Museumsleuten nicht derjenige war, mit dem sie dauerhaft zusammenleben könnte. Wirklich zusammengelebt hatte sie mit all ihren Bekanntschaften denn auch nie, nein, sie hatte immer darauf bestanden, in zwei verschiedenen Wohnungen zu leben. Meist befanden sich diese Wohnungen dann auch noch an weit voneinander entfernten Orten, so dass es durchaus vorkommen konnte, dass eine gerade eingegangene Freundschaft allein wegen der Entfernung immer mehr in den Hintergrund geriet und dann schließlich vollends verblasste.
Georg beobachtete das alles amüsiert, er behauptete, sie sei die typische »schöne Freundin« und damit eine junge Frau, mit der man sich gerade auf dem eitlen Kunstmarkt gerne zeige. Im Grunde aber sei sie viel mehr, nämlich seine »schöne und gehorsame Tochter«, die mit ihm länger und besser zusammenarbeite und sich mit ihm besser verstehe als mit jeder ihrer Freundschafts-Installationen. »Die Jungs verstehen Dich nicht«, hatte er oft etwas resigniert gesagt, und sie hatte gespürt, dass er sich am liebsten selbst auf die Suche nach einem Menschen gemacht hätte, in den sie sich wirklich hätte verlieben können.
Wenn sie jetzt darüber nachdenkt, so bemerkt sie im Nachhinein, dass seine vorsichtigen Anspielungen auf dieses Thema immer häufiger geworden waren. Unvergesslich ist ihr vor allem Georgs mehrmalige, seltsame Bemerkung, dass er ihr »noch einmal vormachen werde«, wie man den richtigen Menschen im Leben finde. Sie hatte diese Bemerkung als einen Witz verstanden, schließlich war Georg seit langer Zeit mit Henrike verheiratet, hatte mit ihr viele Kinder und machte überhaupt nicht den Eindruck eines der Ehe überdrüssigen Ehepartners.
Und doch … Von heute aus betrachtet, befiel sie manchmal der Verdacht, die Vernachlässigung ihrer Suche nach dem »richtigen Menschen im Leben« habe schließlich dazu geführt, dass auch Georg empfänglich für eine solche Suche geworden sei. Außer der kurzen Bemerkung, dass er ihr »noch einmal vormachen werde«, wie man so etwas anpackte, war nichts weiter geschehen. Dann aber war es eben doch – urplötzlich, völlig unerwartet und mit ganzer Gewalt – zu einer solchen Aktion gekommen. Georg hatte sich von Henrike und schließlich auch von seiner Familie getrennt, nur sie, Jule, war an seiner Seite geblieben und hatte aus der Nähe mitverfolgt, wie er ein neues Leben zusammen mit einer anderen Frau eingegangen war. Irgendetwas Entscheidendes musste ihm also wohl doch in den Ehejahren mit Henrike und im Kreis seiner Familie gefehlt haben, irgendetwas Fundamentales musste es gewesen sein, über das er nie die kleinste Bemerkung gemacht hatte.
Schade, dass sie das Paar Katharina-Georg niemals direkt erlebt hatte. Georg hatte ihr zwar von vielen gemeinsamen Reisen mit seiner neuen Partnerin erzählt, und nach seinem Tod hatte auch Katharina dieses gemeinsame Reiseleben oft erwähnt und kleine Details geschildert. Sie hätte sich aber gerne auch einmal einen persönlichen Eindruck von diesem Zusammenleben verschafft: wie ihr Vater, der bald sechzig werden würde, in enger Umarmung mit einer nicht wesentlich jüngeren Frau die Kunststädte Europas durchstreifte und sich von dieser Frau an allen möglichen Orten aus Unmengen von Büchern vorlesen ließ.
Das »Vorlesen«, ja, das hatte er immer wieder erwähnt, und auch Katharina hatte davon später, nach seinem Tod, manchmal gesprochen. Statt »wir haben uns in Paris die Seurat-Ausstellung angeschaut« hatte Georg viel eher »wir haben in Paris »Die Kartause von Parma« gelesen« gesagt, denn die meisten Reise-Orte hatten sich in seiner Vorstellung und Erinnerung anscheinend mit Lektüren verbunden. In diesen Lektüren vermutete sie denn auch das eigentliche Geheimnis der Verbindung zwischen Georg und Katharina, ja, durch diese gemeinsamen Lektüren musste etwas in Georg freigesetzt worden sein, das zuvor nur dunkel in ihm geschlummert hatte. Was aber war das?
Sie will jetzt nicht weiter darüber nachdenken, sondern sich ablenken, deshalb summt sie vor sich hin, sie hat das Gartenhaus verlassen und schaut jetzt von draußen hinein, sie macht noch einige Aufnahmen, und sie überlegt, ob sie auch die Videokamera einsetzen und diese Sonnenszenen filmen sollte.
Mittags hat Georg nicht mehr so viel essen mögen wie in der Früh, und auch da hatte er seine festen Rituale. Er mochte nämlich weder Suppen noch Nachspeisen, und es war ihm am liebsten, wenn es nur eine minimale Kombination weniger einfacher Speisen auf einem Teller gab. Er nannte solche Mittagessen »Tellergerichte«, und er verstand darunter etwas Fleisch oder Fisch mit Gemüse. Mittags trank er dann Bier, und er war, sie erinnert sich gut, wahrhaftig ein leidenschaftlicher Biertrinker.
Wie oft hatte sie mit ihm einige Stunden in einem Biergarten verbracht und schließlich nur noch zuschauen können, wenn er ein Glas nach dem andern geleert hatte, ohne jedoch betrunken zu wirken. Das ruhige, gleichmäßige Biertrinken hielt ihn, wie er oft gesagt hatte, »einfach bei Laune«, und genauso war es dann auch gewesen, seine gute Laune hatte sich stundenlang gehalten, und er hatte immer neue Ideen produziert, in Windeseile und mit einer Lust an neuen Projekten, dass sich jeder Zuhörer mitgerissen fühlte.
Und abends? Abends hatte er meist kaum noch etwas gegessen, höchstens Obst, davon hatte er sich reichlich genommen, dazu hatte er Wein getrunken. Obst, Wein und vielleicht noch etwas Käse waren die Trias der Abendessen gewesen, Brot dagegen hatte er abends nicht mehr gegessen.
Wie es ihm wohl hier gefallen würde? In den großen Restaurants würde er sich nicht wohlfühlen, nein, eher würde er den kleinen Landgasthof in der Nähe aufsuchen. Noch eher zu vermuten wäre aber, dass er sich die Mahlzeiten aufs Zimmer bringen lassen würde, und möglich wäre schließlich auch, dass er sich ein kleines Picknick zusammenstellen lassen und dann den ganzen Tag in den Bergwäldern verbringen würde.
Sie entschließt sich, doch noch einige Sequenzen mit der Videokamera zu filmen, sie geht wieder ins Gartenhaus und holt das Stativ und baut es dann außerhalb des Hauses vor einem Fenster auf. Das Sonnenlicht fällt jetzt schräg und scharf ein, wie auf einem Rembrandt-Bild, in dem leuchtenden Strahl drehen sich einige Mücken oder Insekten, als wären die kleinen Tiere den Insektenzeichnungen entsprungen, die sie an der Vorderfront des Schrankes befestigt hat. »Im Garten ein Summen« – wo hat sie das neulich gelesen?
Sie holt die Kamera und montiert sie auf dem Stativ, sie schaltet das Gerät aber noch nicht ein, sondern geht ein drittes Mal in das Zimmer. Sie öffnet den Schrank und rückt einen CD-Player, den sie sich am vorigen Abend eigens besorgt hat, dicht an den offenen Spalt. Dann drückt sie eine Taste und geht wieder geschwind nach draußen, um die Kamera einzuschalten.
Sie lässt die Kamera laufen, sie filmt jetzt das Schwirren des Sonnenlichts und den mit diesem Licht gesättigten Raum, der voller japanischer Zeichen ist. Im Hintergrund aber ist jetzt auch eine Stimme zu hören, es ist ihre eigene Stimme, die in großer Ruhe Ausschnitte aus dem Buch des japanischen Wander-Dichters liest.
Gestern Abend hat sie diese Passagen in ihrem Hotelzimmer aufgenommen, und jetzt hört und sieht sie, wie sich der Kreis schließt: Dieser Raum erscheint wie eine Station auf der Reise des Dichters, und die kleinen Gedichte, die er seinen Tagebuch-Aufzeichnungen einfügt, wirken wie Gedichte auf genau diese Umgebung.
Sie steht eine Weile mit leicht geöffnetem Mund da und verfolgt die Licht-Veränderungen der Szene im Display der Kamera. Sie staunt etwas, ja, sie hatte nicht erwartet, ein so dichtes und atmosphärisch aufgeladenes Bild hinzubekommen. Der gelesene Text passt gut zu dieser Stille, eigentlich fehlt nur, dass sich der gefilmte Raum langsam zu drehen und abzuheben beginnt.
Sie lacht, sie ist mit ihrer Projektarbeit sehr zufrieden. Das alles hätte sie niemals geschafft, wenn sie nicht Johannes kennengelernt hätte. Er ist das Zentrum all dieser Aktionen, denn er hat sie, ohne es vielleicht zu ahnen, in Bewegung gehalten und immer weiter vorangetrieben.
Nach einer Weile schaltet sie die Kamera aus, lässt sie aber draußen am Fenster stehen. Sie betritt wieder den Raum und schaltet auch den CD-Player aus.
Dann geht sie an den Schreibtisch und holt die Briefbögen, die sie am Morgen beschrieben hat, noch einmal hervor. Seit sie vor kaum einer Stunde mit Katharina zusammen war, weiß sie, welche Adresse Johannes in München hat. Sie denkt daran, ihm einige ihrer Aufzeichnungen zu schicken. Und so setzt sie sich noch einmal an den Schreibtisch und schreibt seine Adresse auf mehrere Briefumschläge.
Sie ist jetzt sehr ruhig, sie spürt eine nicht enden wollende Freude.
Warum ich Dir gerne schreibe
Weil Du mein
aufmerksamer Geliebter bist
Weil Du meine Zeilen um eigene Zeilen
ergänzt
Weil Du wie ich Japanisch verstehst
Weil Du meine Zeilen sammelst und auswendig
lernst
Weil Du einige von ihnen immer mit Dir
herumträgst