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ALS ER in sein Zimmer zurückkommt, bemerkt er als Erstes den Brief auf seinem Schreibtisch, er öffnet ihn aber nicht sofort, sondern lässt sich damit noch etwas Zeit. Er geht den Vormittag in Gedanken kurz durch, er möchte einen Gang durch die Hotelanlage machen, einen Kaffee trinken, vielleicht auch einige Zeit in der Bibliothek verbringen. Zu Mittag essen aber möchte er heute nicht im Hotel, am liebsten wäre es ihm, irgendwo außerhalb, in einem kleinen Gasthof, zu Mittag zu essen. Das wäre so in etwa seine Planung, er ahnt aber, dass es noch viele Änderungen geben wird. Auf jeden Fall sollte er Katharina anrufen, um sich mit ihr abzustimmen.


Er geht in das Bad, kämmt sich die Haare und reibt die trockene Gesichtshaut mit etwas Hautcreme ein. Was sie wohl gerade macht? Sie hat ihm anscheinend einen Brief geschrieben, und das heißt, dass sie inzwischen einige Zeit in ihrem Zimmer verbracht hat. Vielleicht hat auch sie gerade vor, mit Katharina zu telefonieren, er lächelt bei diesem Gedanken und geht rasch zurück in die Nähe der Fenster. Er zieht die Vorhänge etwas zur Seite und schaut hinaus, dann wählt er Katharinas Nummer:

– Guten Morgen, ich bin’s, Johannes. Ich frage mich gerade, was wir beide heute so vorhaben?

– Guten Morgen, mein Lieber. Am liebsten würde ich gleich mit Dir an die frische Luft gehen, aber ich muss hier noch etwas ausharren.

– Was hältst Du davon, wenn wir irgendwo in der Nähe in einem kleinen Gasthof zu Mittag essen?

– Ah, ich verstehe, Du sehnst Dich nach einem großen Hellen und einer bayrischen Brotzeit.

– Genau danach.

– Es gibt einen Gasthof mit Biergarten, den wir in einer halben Stunde zu Fuß erreichen.

– Ich bin dabei.

– Gut, dann hol mich doch gegen zwölf in der Buchhandlung ab.

– Einverstanden, das mache ich. Aber da ist noch etwas, wonach ich Dich fragen wollte. Hast Du zufällig das »Kopfkissenbuch« vorrätig? Weißt Du, was ich meine? Ich meine die Aufzeichnungen …

– Ich weiß, was Du meinst. Aber wie kommst Du darauf? Warum willst Du ausgerechnet das »Kopfkissenbuch« lesen?

– Ich erzähle es Dir später. Hast Du es vorrätig?

– Ja, natürlich, es ist eines meiner Lieblingsbücher.

– Wunderbar, dann leg es mir bis zum Mittag zurück. Bis später.

– Bis später, Johannes.


Er nimmt die leichte Nachdenklichkeit in ihrer Stimme genau wahr, Katharina bringt ihn jetzt mit Jule Danner in Verbindung, und sie beginnt jetzt darüber nachzudenken, worin diese Verbindung zwischen Jule Danner und ihm denn genau bestehen könnte. Er glaubt fest, dass sie es war, die Jule Danner das »Kopfkissenbuch« geschenkt hat, Katharina hat ein großes Faible für asiatische Bücher, und sie kennt sich vorzüglich in der altjapanischen und altchinesischen Literatur aus. Wenn er mehr über Jule Danner erfahren möchte, dann wird sie ihm dabei vielleicht helfen, er sollte aber sehr vorsichtig nachfragen, sie mag es überhaupt nicht, wenn man in solchen Dingen allzu direkt wird.


Das Mittagessen in einem Gasthof außerhalb …, genau, wie er es sich gewünscht hat. Und Katharina als Begleitung …, auch das hat er sich gewünscht. Dort draußen und außerhalb dieses Hotels wird er sich frei genug fühlen, ihr von seinem Projekt zu erzählen. Es ist höchste Zeit, dass er sich dazu entschließt, er kommt damit nicht richtig voran, in solchen Situationen war Katharina bisher immer eine große Hilfe. Sie hört zu, und sie kennt ihn gut, sie hatte schon früher oft die richtigen Ideen, die ihm einen Weg aus so manchem Engpass gezeigt haben.


Er setzt sich und öffnet den Brief. Er liest ihn langsam, legt ihn zur Seite und schaut aus dem Fenster. Sie schreibt klar und genau, diese Art zu schreiben gefällt ihm, und sie gefällt ihm umso mehr, als sie mit seinen Phantasien von Jule Danner übereinstimmt. Sie hat einen Blick für das Wesentliche und kann sich gut konzentrieren, außerdem besitzt sie aber auch ein spielerisches, neugieriges Temperament, das auf Überraschungen aus ist. Schließlich aber ist sie wohltuend zurückhaltend und in sich gekehrt, diesen Wesenszug spürt er besonders stark, weil er ihn als einen ihm selbst sehr verwandten empfindet.


In ihrem Brief hat sie zu beschreiben versucht, wie sie das »Kopfkissenbuch« gelesen hat. Vermutet sie etwa, dass er es nicht kennt? Nein, das ergibt sich nicht unbedingt aus ihrem Brief. Sie beschreibt ihre Leseeindrücke, und sie skizziert deren Hintergründe, es ist ein sehr vorsichtiger, ruhiger und poetischer Brief, ohne eine einzige verquaste Wendung. Die Hofdame und ihr Geliebter – das ist in ihren Augen der Kern der Geschichte, ja, das versteht er. Und er versteht auch, dass Jule Danner und er begonnen haben, in die Rollen dieser Figuren zu schlüpfen, um ein schönes, ungewöhnliches Spiel des gegenseitigen Kennenlernens zu inszenieren, das ohne Worte auskommt.


Er atmet tief durch und lässt den Brief auf dem Schreibtisch liegen. Er ist jetzt so unruhig, dass er es in seinem Zimmer nicht mehr aushält. Rasch zieht er sich an, streift sich eine Jacke über und geht hinaus. Auf dem Flur ist der Reinigungsdienst unterwegs.

– Sie brauchen mein Zimmer nicht aufzuräumen oder zu säubern, sagt er zu der jungen Frau.

– In Ordnung, antwortet sie. Fehlt etwas in der Minibar?

– Nein, sagt er, es fehlt nichts, und wenn später etwas fehlen sollte, werde ich den Zimmerservice rufen, Sie brauchen sich nicht zu bemühen.

– Dann einen schönen Tag!

– Ja, danke, Ihnen auch einen guten Tag!


Fast hätte er die junge Frau hier mitten auf dem Hotelflur umarmt, so glücklich und ausgelassen fühlt er sich. Diese verdammte Disziplin! Seit den Kindertagen hat er gelernt, seine Gefühle nicht allzu stark zu zeigen, in Andeutungen zu sprechen und die Distanz zu wahren. Fast alle, die ihn etwas besser kennenlernen, empfinden ihn als freundlich, höflich, ja sogar liebevoll. Und es stimmt ja, all diese Tugenden besitzt er wahrhaftig, andererseits führt all seine Freundlichkeit aber auch dazu, dass er viele Gefühle in extremem Maß für sich behält. So leicht nimmt er niemanden in den Arm, selbst Katharina nicht, und so leicht fragt er auch niemanden nach etwas Privatem, mag er ihn auch noch so lange kennen.


Manchmal empfindet er die Strenge seinen Gefühlen gegenüber sogar als so stark und beengend, dass er am liebsten aufschreien oder sich sonstwie heftig oder unkontrolliert gebärden würde. Raus mit den verqueren Ideen, weg mit der dummen Kontrolle! Es ist schon vorgekommen, dass er während der Rückfahrt von einer mehrstündigen Abendgesellschaft nur deshalb irgendwo angehalten hat, um sich einmal die Seele aus dem Leib brüllen zu können. Alles, was er hat sagen wollen, aber nicht sagen konnte, brüllte er aus sich heraus, seine ganze Einsamkeit, seine ganze Zurückhaltung. Niemand, da ist er sicher, würde ihm so etwas zutrauen, alle halten ihn für einen Menschen, der die Balance seiner Gefühle im Griff hat, aber da ist etwas Unkontrollierbares, er beherrscht seine Gefühle zu sehr, er erlaubt ihnen kein Abdriften.


Stimmt das? Und stimmt es auch jetzt, in diesen Stunden, seit er die Bekanntschaft von Jule Danner gemacht hat? Nein, es stimmt nicht. Vorsichtig, aber doch unübersehbar hat er sich etwas getraut, er verschickt Nachrichten, er verfolgt Spuren, er antwortet auf ein Werben, und er wirbt so offen wie noch nie um die Zuneigung einer Frau.


Schluss, aus, er will nicht länger über diese Veränderungen nachdenken, das führt jetzt nicht weiter. Stattdessen möchte er einen kleinen Gang durch die Hotelanlage machen, denn während seines letzten Besuchs hatte er nicht Zeit genug, um sich in Ruhe überall umzuschauen.


Er geht zum Lift und fährt ins Untergeschoss, hier sollen sich die großen Bäder und Saunen befinden, seltsam, dass es derart still ist und er keinem Menschen begegnet. Für den Bäder- und Saunenbereich benötigt er seine Zimmerkarte, die er zum Öffnen der Eingangstür einsetzen muss, sie lässt sich damit leicht öffnen und fällt hinter ihm rasch und schwer wieder ins Schloss. Er zieht seine Schuhe aus und geht barfuß weiter, es ist angenehm warm hier, er kommt an einer Reihe von Saunen vorbei und liest die neben den Türen angebrachten Texte, die erläutern, wie lange man sich in den großen, holzgetäfelten Kabinen aufhalten sollte und welche angeblich fantastischen Folgen solche Aufenthalte für das Wohlbefinden haben.


Auch diese Kabinen sind menschenleer, er öffnet eine von ihnen, und sofort schlägt ihm ein Schub warmer Luft entgegen, als böte die Wärme ihm einen Dampfmantel an, um ihn einzuhüllen. Er schließt die Tür rasch wieder, obwohl es ihm dort drinnen gefällt, der Raum wirkt mit all seinem hellen Holz schlicht und beinahe sakral, und es duftet dort stark nach einem Gewürz, das er kennt, dessen Name ihm aber nicht einfällt.


An die Saunen schließt sich ein Bad an, es ist viel größer als der übersichtliche Pool auf dem Dach, ja, dieses Bad ist etwas für richtige Schwimmer, die sich verausgaben wollen. Große, halbrunde Fenster geben den Blick auf die Landschaft frei, dort draußen hat sich das Sonnenlicht jetzt überall ausgebreitet, kein Wunder, dass es niemanden hierher, in das Untergeschoss, zieht. Er nimmt für ein paar Minuten Platz und genießt die Stille und die Schönheit der still vor ihm liegenden Wasserfläche, er kann sich kaum eine stärkere Magie vorstellen als die, die von still daliegendem Wasser ausgeht, er fühlt sich davon sofort angezogen, am liebsten würde er seine Kleider einfach auf den nächstbesten Stuhl werfen und hineinspringen.


Aber nein, er hat heute Morgen ja bereits ausgiebig geschwommen, das reicht vorerst. Er macht kehrt und biegt, nachdem er die Saunalandschaft wieder passiert hat, in einen Seitenflügel ab. Als er erneut einen geschlossenen Eingangsbereich hinter sich gelassen hat, erreicht er das türkische Bad. Langsam betritt er einen lang gestreckten Raum mit einer Heerschar dünner, eleganter Säulen und runden, geschwungenen Gewölbedecken.


Auch dieser Raum wirkt sakral, wie eine geheimnisvolle, entlegene Krypta, er hat sogar ein Mittelschiff und zwei kleinere Seitenschiffe, das Mittelschiff läuft auf einen leise plätschernden Marmorbrunnen zu, und in den Seitenschiffen befinden sich lauter bequeme Liegen und Sitze.


Der Brunnen zieht ihn an, er geht hin und trinkt aus der Hand einen Schluck des klaren, sehr kalten Wassers, daneben gibt es eine Ablage, auf der er kleine Tabletts mit türkischen Süßigkeiten entdeckt. Er probiert die frischen, längs aufgeschnittenen und mit Mandeln gefüllten Datteln, und er probiert den türkischen Honig mit seinen hellweißen Kokosmänteln. Es gibt auch starken, türkischen Tee, den mag er besonders, er trinkt eines der kleinen, geschwungenen Gläser leer, die in eine Hand passen und die man beim Trinken mit zwei Fingern am oberen Rand festhält.


Dieser gesamte Bezirk liegt anscheinend unter der Erde, jedenfalls ist er fensterlos. In all seiner Stille hat er etwas Verträumtes, Entrücktes, er hätte große Lust, hier unten etwas zu lesen und während der Lektüre nur das leise Sprudeln des Brunnens zu hören. Bloß keine Musik, bloß nichts, was auf all diese fremden Atmosphären noch eins draufsetzt! Er kauert sich in eine der dunkelblauen Nischen in der Nähe des Brunnens und lehnt sich mit dem Kopf gegen die Wand. Er schließt die Augen und lauscht.


Wo ist sie? Nachdem sie ihren Brief über das »Kopfkissenbuch« geschrieben hat, hat sie ihr Zimmer verlassen. Und weiter? Wohin ist sie gegangen? Sie ist in die Buchhandlung gegangen, sie hat sich mit Katharina getroffen. Die beiden sitzen jetzt einen oder zwei Stock über ihm und plaudern vielleicht gerade. Könnte das sein? Ja …, natürlich …, natürlich … – er ist sich absolut sicher, er hat nicht die geringsten Zweifel, es ist beinahe so, als stünde er mit Jule Danner nun in einem direkten Kontakt. Er ahnt bereits, was sie als Nächstes tut, und langsam gewinnt er auch einen Zugang zu ihren Gedanken. Und was denkt sie? Sie möchte ihn für weitere ihrer kleinen Inszenierungen gewinnen, sie entwirft Szenen und durchstöbert in Gedanken die gesamte Anlage dieses Hotels. Und er, was denkt er?


Er würde sich gerne in ihrem Zimmer aufhalten, nur kurz, nur für eine halbe Stunde. Er würde ihr ein kleines Tablett mit türkischen Süßigkeiten auf den Tisch stellen und dazu etwas türkischen Tee, und er würde auf einem Sofa Platz nehmen, als erwartete er sie. Er würde nichts anrühren in diesem Zimmer und keinen der Schränke öffnen, obwohl es ihn reizen würde, einmal nachzuschauen, ob diese Kleiderschränke mit lauter japanischen Kleidungsstücken und Utensilien gefüllt sind.


Interessieren würden ihn auch die Bücher auf ihrem Schreibtisch, vielleicht hätte sie außer dem »Kopfkissenbuch« noch weitere asiatische Titel dabei, er würde einen Blick auf diese Bücher werfen, aber er würde sie auf keinen Fall öffnen. Öffnen würde er jedoch ihren Laptop, ja, er würde ihn sogar einschalten, um die altjapanische Musik zum Klingen zu bringen, die sie in einem speziellen Ordner gespeichert haben wird. Eine Bambusflöte, Trommeln, diese stille, konzentrierte Musik zieht ihn an, sie passt genau zu all dem, was in diesem Hotel gerade mit ihm passiert.


Er hat München jetzt beinahe völlig vergessen, als habe er seit seiner Ankunft in dieser Einsamkeit alle Erinnerungen an seine Wohnung und sein dortiges Leben aus dem Gedächtnis gelöscht. Die jüngste Vergangenheit scheint es nicht mehr zu geben, dafür aber stößt er immer häufiger auf Bilder aus den letzten Jahren, die ihm keine Ruhe lassen und ihn manchmal sogar erschrecken.


Wenn er so dasitzt wie jetzt, in diesem Moment, fernab von anderen Menschen, in einer wie gemeißelt erscheinenden Stille, entstehen in ihm die Bilder seines Elternhauses, das weit von hier entfernt in einer ländlichen, menschenarmen Gegend liegt. Er sieht sein ehemaliges Kinderzimmer und sein kleines Studierzimmer unter dem Dach, er sieht das Wohnzimmer mit dem weiten Blick in die Landschaft, und schließlich sieht er das Schlafzimmer der Eltern, in dem zunächst sein Vater und fast ein Jahrzehnt später auch seine Mutter gestorben ist.


Immer wieder stößt er in letzter Zeit auf diese unheimlichen Tiefenschichten der Erinnerung, und da er zu schwach ist, sich ihnen zu entziehen, sitzt er oft nächtelang in der Stille seiner Münchner Wohnung, bewegungslos, sprachlos. Er hört das Ticken der Küchenuhr seines Elternhauses, und er stellt sich vor, dass er dort jetzt Musik hören würde, allein im Wohnzimmer sitzend, mit dem Blick in das Dunkel. Dieses ferne Haus lässt ihn nicht los, das weiß er, aber er versteht nicht, wodurch es eine derartige Macht über ihn gewinnen konnte. Er kann sich nicht dagegen wehren.


Ja, es zieht ihn zurück zu diesen Bildern, und schließlich ist es so weit, dass er nachgibt und noch in der Nacht einen Koffer packt, um sich auf den Weg nach Hause zu machen. Ja, sagt er dann manchmal laut zu sich selbst, es ist ja schon gut, ich komme, ich komme heim, und dann bleibt ihm nichts, als seinen Koffer zum Wagen zu schleppen und die Nacht hindurch zu seinem eigentlichen Zuhause zu fahren.


Schluss, aus, aufhören! Nun ist es wieder passiert, nun zieht es ihn in Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit! Dabei hatte er es seit seiner Ankunft doch so gut geschafft, an all diese Bilder nicht mehr zu denken!


Er steht auf, ihm schwindelt ein wenig, aber er achtet nicht weiter darauf, sondern geht hinüber, zu der Ablage neben dem Brunnen. Er greift nach einem kleinen Teller, er legt einige der türkischen Süßigkeiten in Kreisform darauf und stellt in die Mitte eines der kleinen türkischen Teegläser. Dann füllt er das Glas mit Tee, gibt ein wenig Zucker hinzu und macht sich auf den Weg zurück, hinauf in die oberen Stockwerke.