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ER BLEIBT noch eine Weile an dem weiß gedeckten Tisch unter den orangefarbenen Sonnenschirmen sitzen, es gefällt ihm hier, und es gefällt ihm noch mehr, als fast alle Mittagsgäste verschwunden sind. Er mag nicht gern allein unter vielen Menschen sitzen, er fühlt sich in solchen Fällen nicht wohl, außerdem möchte er nicht hören, was sie während ihrer Mahlzeiten reden, so etwas stört ihn und verdirbt ihm meist den konzentrierten Genuss.


Der Teller mit dem gegrillten Stockfisch und dem Gemüse steht noch vor ihm, er nimmt ihn sich noch einmal vor. Die Speisen sind zwar längst kalt geworden, aber das macht nichts, kalt schmecken sie sogar noch besser und intensiver als warm. Wer denkt über so etwas einmal genauer nach? Dass manche Speisen überhaupt nicht warm oder gar heiß gegessen werden sollten und dass sie, wenn man sie einen Tag irgendwo lagert, am zweiten Tag noch besser schmecken?


Er macht sich über solche Dinge oft Gedanken, schließlich gehören die Mahlzeiten doch zu den großen Freuden des Tages, über deren Gestaltung man wahrhaftig sehr genau nachdenken sollte. Die meisten Menschen, denen er begegnet ist, tun das aber zu seinem Erstaunen nicht, stattdessen unterhalten sie sich über Diäten oder Kalorien oder über die Erfolgsgeschichten bestimmter Köche. Solche Themen interessieren ihn nun aber wiederum überhaupt nicht, ihn interessiert einzig und allein die jeweilige Mahlzeit mit ihren Zutaten, frisch sollten sie sein, vom Markt sollten sie kommen, zur Jahreszeit sollten sie passen. Gut und schmackhaft zu kochen, ist dann gar nicht schwer, man muss nur etwas Grundwissen über die einfachsten Zubereitungsarten wie Kochen, Garen, Schmoren oder Backen besitzen.


Mit Katharina kann er über so etwas sprechen, ja, das bereitet ihnen beiden Vergnügen, sonst aber kennt er niemanden, der bei solchen Themen aufhorcht und genug exakte Phantasie hat, um über die Verbesserung bestimmter Speisen nachzudenken. Dem gegrillten Stockfisch und dem Gemüse hier fehlt es zum Beispiel an Chili, zwei kleine Schoten hätten aus diesem laschen, fast geschmacklosen Gericht noch etwas herausholen können. Jetzt aber ist es zu spät, er kann höchstens noch etwas nachpfeffern, und außerdem sollte er zu diesem Gericht noch ein kleines Glas Weißwein bestellen, ja, das ist er dem Fisch einfach schuldig.


Er isst langsam und schaut manchmal zu den nahen Bergspitzen, bis zu diesen Höhen wird er nicht hinaufwandern, nein, auf keinen Fall, er ist kein Bergsteiger und noch nicht einmal ein Bergwanderer, sondern eher ein Spaziergänger. Der Reiz seiner Spaziergänge besteht genau darin, sich allmählich von den Tälern zu entfernen und doch zu ihnen Kontakt zu behalten. Etwa in der Mitte zwischen Tälern und Gipfeln zu gehen, das mag er, ganz hinauf, bis zu den Spitzen, zieht ihn dagegen nichts. Mit solchen Besteigungen wären lauter starke sportliche Anstrengungen verbunden, die von der Wahrnehmung der Naturschönheiten nur ablenken, was, um Himmels willen, sollte ihn also dazu veranlassen, ächzend und schweißüberströmt steil bergauf über Pfade zwischen allerhand Felsgerümpel zu stolpern? Das Thema Bergsteigen ist mit dem Thema Kochen gut zu vergleichen, auch in diesem Fall geht es darum, den einfachen, natürlichen Genuss an den Dingen immer im Auge zu behalten.


Schließlich bestellt er sich noch einen starken Kaffee, er fühlt sich jetzt frisch und aufnahmefähig, ja, die Lust auf seinen Spaziergang wächst von Minute zu Minute. Er rückt seinen Stuhl etwas zurück und schaut kurz auf sein Handy, ah, es gibt eine Nachricht. »the artist is present«, liest er erstaunt und ungläubig, die Nachricht besteht nur aus diesen vier Worten, und sie wurde von einer Nummer verschickt, die er nicht kennt, aber sofort speichert.


Er hat jedoch einen Verdacht, ja, er vermutet sofort, dass Jule Danner ihm diese Nachricht geschickt hat. Er hat diesen Text auch schon einmal gelesen, ja, bestimmt, dieser Text ist wohl ein bekanntes Zitat, man könnte ihn allerdings auch auf die Absenderin selbst beziehen, dann würde das Ganze ihm signalisieren, dass Jule Danner einerseits von Beruf eine Künstlerin und andererseits nicht abgeneigt ist, das Spiel der kurzen Botschaften und Signale fortzusetzen. Vielleicht enthält diese Nachricht sogar noch einen eindeutigeren Hinweis oder eine Einladung, ja, das könnte auch sein, so etwas lässt sich aber erst klären, wenn er herausbekommen hat, in welchem Zusammenhang ihm diese vier Wörter schon einmal begegnet sind.


Nein, so kommt er nicht weiter, es freut ihn aber, von ihr eine Nachricht erhalten zu haben, die Sache entwickelt sich, denkt er, die Sache wächst und gedeiht. Indem er sich auf diese Weise gut zuredet, gerät er noch zusätzlich in Schwung, er steht sofort auf, steckt sein Notizbuch ein und geht dann durch das Foyer hinaus ins Freie. Ein Spaziergang, ja, das ist jetzt absolut das Richtige, er wird darüber nachdenken, was »the artist is present« noch alles bedeuten könnte.


In München, überlegt er, hätte sich ein solches Geflecht aus Signalen und Andeutungen nicht aufbauen können, nein, dort wären all diese Spuren wohl bald ins Leere gelaufen. Hier aber, auf dieser einsamen und vom sonstigen Leben abgeschotteten Insel, verdichten sie sich, und man denkt schon wegen der mangelnden Ablenkung laufend über sie nach. Seit er im Hotel angekommen ist, hat sich eine stetig wachsende Spannung aufgebaut, die noch dadurch gesteigert wird, dass man sich auf diesem beschränkten Raum immer wieder begegnet. Die Nähe des anderen ist so ohne Verzögerung oder Umwege spürbar, ja, er hat inzwischen sogar das Gefühl, dass er nicht mehr allein, sondern bereits zu zweit lebt. Was auch immer er tut, wird von Jule Danners Nähe bestimmt und geprägt, deshalb kann man sein Leben kein Alleinsein mehr nennen, sondern sollte eher von einem doppelten Dasein sprechen.


Und so etwas widerfährt ausgerechnet ihm, Johannes Kirchner, dem Meister des Alleinseins! In den letzten Jahren hat er aus diesem Alleinsein eine Art Kunst gemacht, er hat sich immer mehr auf sein Schreiben konzentriert und nur wenige Stunden der Woche in Gesellschaft verbracht. Schließlich wurde dieses Alleinsein sogar so extrem, dass er lieber allein essen ging als mit Freunden, ganz zu schweigen von seinen Kino-, Theater- oder Konzertbesuchen, bei denen er eine Begleitung fast überhaupt nicht mehr ertrug. Er mochte die Augenblicke beim Verlassen einer dieser Kulturstätten nicht, wenn das muntere Reden über das eben Gesehene begann und damit auch geradezu zwangsläufig das ewige Beurteilen und Verallgemeinern einsetzte, nein, gerade in solchen Momenten wollte er erst einmal seine Ruhe haben und die gesehenen Bilder oder Klänge nachwirken lassen.


Worauf anderes liefen denn all diese flotten Unterhaltungen letztlich hinaus als darauf, die gerade entstandenen Eindrücke rasch wieder abzutöten, einzuordnen und vergessen zu machen? Für ihn gab es nur einen Bereich, wo solche Gespräche notwendig und richtig waren, und dieser Bereich war der Sport. Sportereignisse schaute er sich gern mit Freunden an, und er hatte nicht das Geringste dagegen, wenn man Sportereignisse bereits während ihres Verlaufs und natürlich erst recht nach ihrem Ende kommentierte. Sportereignisse nämlich lebten ausschließlich vom Kommentar, ohne Kommentar gerieten sie sofort in Vergessenheit, denn Sportereignisse hatten ein so momentanes und auf den Sekundenkitzel hin angelegtes Leben, dass zum Beispiel einen Monat nach einem wichtigen Fußballspiel kaum noch ein Mensch wusste, wie das Resultat lautete und wer die Tore geschossen hatte.


Damit also das große Vergessen den Sport nicht auffraß und in rasender Geschwindigkeit Bild für Bild aus dem Gedächtnis löschte, musste man als Zuschauer während eines Sportereignisses ein guter Kommentator und am besten noch mit lauter anderen Kommentatoren zusammen sein. Monate später erinnerte man sich dann immerhin an die Kommentare und über diese Umwege wieder an das Ereignis.


Bei guten Filmen, Konzerten oder Theateraufführungen war das aber ganz anders, denn ihre Qualität bewies sich durch eine lange Nachwirkung. Je länger ein Film, ein Konzert oder eine Theateraufführung nachwirkten, umso besser waren sie, die Nachwirkung war geradezu ein Indiz dafür, dass sie sich dem Betrachter in immer neuen Facetten einprägten. Genau auf diese Facetten und damit auf die Nacherzählungen der Ereignisse kam es an, denn aus den Nacherzählungen wurden mit der Zeit private und persönliche Erzählungen, und diese persönlichen Erzählungen wurden schließlich zu einem wichtigen Teil der eigenen Biographie.


Das Kochen, das Spazierengehen, das Alleinsein – über all diese Themen hatte er in den letzten Jahren nachgedacht, und er hatte viel Zeit und Geduld auf dieses Nachdenken verwendet. Wenn er die Themen in Ruhe anging und durchdachte, befriedigte ihn das mehr, als rasch und vorschnell in den verschiedensten Freundeskreisen eine Meinung nach der andern abzuliefern. Deswegen aber hatte er sich mit der Zeit immer mehr von den anderen entfernt, ja, er hatte sich zurückgezogen, und diese Zurückgezogenheit hatte ihn nicht gestört, weil ihm das frühere, geselligere Leben nicht gefehlt hatte.


Was ihm aber umso mehr gefehlt hatte, war intensive Zuwendung, ja, er musste zugeben, dass er sich nach einer solchen Zuwendung immer mehr gesehnt hatte. Er ahnte, wodurch diese Sehnsucht sich in letzter Zeit noch zusätzlich verstärkt hatte, aber er wollte darüber jetzt, während seines Spaziergangs, nicht nachdenken. Eine Zuwendung von der Art, wie er sie sich vorstellte, erhielt man nur von einem einzigen Menschen, und sie gründete in einer schon immer vorhandenen Zusammengehörigkeit. Eine solche Zusammengehörigkeit war nicht künstlich herstellbar oder mutwillig zu erzeugen, sie war vielmehr einfach da, sie war vorhanden, und sie war so mächtig, dass keiner der beiden Beteiligten überhaupt auf den Gedanken kam, sie in Frage zu stellen.


Seltsam, aber man konnte ihm diesen Gedanken einfach nicht austreiben: dass es auf dieser Welt einen Menschen geben musste, der ganz und gar zu ihm gehörte. Im Grunde steckte hinter diesem Gedanken ein naiver Glaube, der zu den starken Hoffnungen gehörte, die ihn am Leben erhielten. Es gab mehrere solcher Glaubensinhalte, an denen sein Leben hing, sie bildeten den festen Untergrund seiner Existenz, ohne sie hätte sich sein Leben bis in die kleinsten Momente anders gestaltet. Dann und wann gerieten diese Glaubensinhalte in Vergessenheit, und er dachte nicht mehr an sie, sie lebten aber ununterbrochen in ihm weiter, das wusste er genau.


An diesem Vormittag war seine Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit zum Beispiel wieder erwacht. Er wusste noch nicht, wie es dazu gekommen war, denn das ergab sich nicht aus heiterem Himmel. Ein Sich-Verlieben mochte sich aus heiterem Himmel ergeben, das schon, ein Sich-Verlieben war aber auch etwas anderes als das Empfinden einer unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit. Er mochte die Formel »ich habe mich verliebt« deshalb nicht. Verlieben konnte man sich schließlich an jeder Ecke und in jedes hübsche Gesicht, sich verlieben war etwas wie Sport und daher eine kurzfristige Sache, die man höchstens mit vielen Kommentaren am Leben erhielt.


Wie sollte man es dann aber nennen? »Liebe«?! Reichte dieses Wort? »Ich liebe Dich« – das hätte er niemals gesagt, denn die Zusammengehörigkeit, an die er dachte, hatte solche Deklamationen doch gar nicht nötig. Das Wort »Liebe« klang in seinen Ohren auch zu sehr nach Seife und Anstand und Wohlerzogenheit, ja, »Liebe« hatte etwas Statuenhaftes, Erstarrtes und künstlich Triumphales, das man höchstens durch Überbietung aus der Welt schaffen konnte. »Die große Liebe« dagegen, ja, das war richtiger, er glaubte an »die große Liebe«, und die große Liebe war Fest, Tanz und Oper und eben keineswegs Film, Konzert und Theater. Film, Konzert und Theater waren die auf Anstand und Normen getrimmten Medien der »Liebe«, Fest, Tanz und Oper aber waren die verrückten Rituale »der großen Liebe«.


Er ist jetzt schon eine Zeit lang unterwegs, und er geht relativ schnell, dieses rasche Gehen passt zu seinem Nachdenken, das während solcher Spaziergänge oft gut in Fahrt kommt. Ja, auch jetzt spürt er, wie das Gehen seine Gedanken in Bewegung hält und wie die Gedanken sich beinahe spielerisch fortsetzen, er hat sogar bereits den Eindruck, als ginge er seinen davoneilenden Gedanken nur noch hinterher. Das alles macht starkes Vergnügen, ja, er empfindet dieses Vergnügen sehr deutlich, es ist wie ein anhaltendes Kribbeln, das ihn aber nicht nervös, sondern eher hellwach und gespannt macht.


Der Weg nähert sich jetzt den großen Gebirgsmassiven, kurz taucht er in ihren matten, schweren Schatten ein und gerät dann auf einen schmaleren Pfad, der direkt unterhalb der Felsen verläuft und sich dann – wie befreit – durch einige sonnige Wiesenpartien schlängelt. In der Ferne erkennt er einen Sitzplatz, wo anscheinend eine Person Platz genommen hat, er überlegt, ob er einen anderen Weg, quer durch die Wiesen, um den Sitzplatz herum, nehmen soll, entscheidet sich dann aber doch dafür, den Spaziergang auf dem einmal eingeschlagenen Pfad fortzusetzen. Er wird die fremde Person nicht beachten, er wird an ihr vorbeieilen.


Während er weitergeht, schaut er fest in die Ferne, er möchte weder jemanden grüßen noch von jemandem gegrüßt werden, das alles bringt ihn nur durcheinander, am Ende muss er sich noch mit einem fremden Menschen unterhalten, und das ganze, schöne Nachdenken, das so gut in Bewegung gekommen ist, wäre dahin. Je mehr er sich aber dem Sitzplatz nähert, umso unsicherer wird er. Mal blickt er starr auf den Boden, mal wieder zum Horizont, er verkrampft, ja, es ist lächerlich, aber er verkrampft wirklich angesichts eines allein dasitzenden Menschen. Er korrigiert sich, nun gut, er wird den Fremden rasch grüßen und die Sache hinter sich bringen. Als er nur noch wenige Meter entfernt ist, schaut er kurz auf.


Als er Jule Danner erkennt, bleibt er sofort stehen. Sie sitzt auf einem groben Holzstuhl, ihr gegenüber befindet sich ein weiterer Stuhl und dazwischen ein rechteckiger Tisch, es sieht beinahe so aus, als habe sie dieses Ensemble entworfen, um sich hier, in völliger Natureinsamkeit, genau mit ihm zu treffen.


Daneben erlebt er dieses Ensemble aber auch als ein Bild, ja, dieses Bild kennt er, und als er weiter dasteht und es länger betrachtet, fällt ihm die Ausstellung einer Performance-Künstlerin im New Yorker Museum of Modern Art ein, Fotos von dieser Performance waren in vielen Zeitungen, einige dieser Artikel hat er sogar ausgeschnitten und sie später Katharina gezeigt. Während eines Mittagessens, ja, er erinnert sich jetzt genau, während eines Mittagessens haben sie sich über diese Performance länger unterhalten. Die Künstlerin hatte oft bis zu neun Stunden ununterbrochen auf ihrem Sitzplatz verbracht, und ihr gegenüber hatte jeweils eine Fremde oder ein Fremder Platz genommen, um sie stumm zu betrachten und von ihr stumm betrachtet zu werden.


Das alles geht ihm nun durch den Kopf, während er weiter Jule Danner anstarrt. Sie hat ihn nun auch bemerkt, sie schaut von ihrer Lektüre auf. Sie bewegen sich beide nicht, und keiner von ihnen sagt ein einziges Wort. Kein Wort, keine Silbe! – solche kurzen Befehlsworte glaubt er zu hören, während er darüber nachdenkt, ob er einfach weitergehen oder Platz nehmen soll. Weitergehen?! Platz nehmen?! Nein, das ist doch keine wirkliche Alternative, natürlich wird er Platz nehmen, das hier ist anscheinend eine Performance, und diese Performance hat den Titel the artist is present, und die kurze Nachricht auf seinem Handy war offensichtlich eine Einladung zu genau dieser Performance.


Während er sehr langsam auf den leeren Stuhl zugeht, sieht er, dass Jule Danner ihr Buch beiseitelegt, sie legt es auf den Boden und setzt sich dann sehr gerade und aufrecht hin, dann legt sie beide Hände in geringem Abstand flach auf den Tisch, auch diese Gestik erinnert ihn stark an die New Yorker Performance.


Er stellt sich vor den freien Stuhl und nimmt Platz, er lässt sie nicht aus den Augen und legt nun ebenfalls beide Hände in geringem Abstand flach auf den Tisch. Sie schauen sich an, sie blicken einander fest in die Augen, und er spürt, wie sich seine Lippen vor lauter Anspannung einen kleinen Spalt öffnen. Auch ihre Lippen stehen einen kleinen Spalt offen, sie hat kräftige, weit ausschwingende Lippen, das Rot eines Lippenstiftes ist schwach zu erkennen. Ihre blonden Haare sind anscheinend während des Spaziergangs durcheinandergeraten, eine Frisur jedenfalls kann man das, was er jetzt wahrnimmt, nicht nennen, die Frisur hat sich vielmehr aufgelöst, und ihre Haare haben sich vollkommen befreit und bilden einen lebendigen, nicht durchschaubaren Wirrwarr, der zum Teil tief in die Stirn hängt. Ihre Haut mit den winzigen Sommersprossen unterhalb der Augen erscheint frisch, wie lackiert, dieser Glanz verleiht dem Gesicht etwas Festes, Porträtartiges, am stärksten aber wirken auf ihn jetzt ihre dichten, ins Rötliche gehenden Augenbrauen, zwei leichte, markante, halbrunde Linien, die ihre Augenhöhlen zurücktreten lassen.


Was für ein schöner, freier Kopf! Er spürt die Versuchung, zu lächeln, aber er kämpft gleich dagegen an, er möchte noch keine Reaktionen zeigen, und ein Lächeln würde vielleicht alles verderben und eine voreilige Gegenreaktion ähnlicher Art hervorrufen. Das aber möchte er unbedingt vermeiden, er möchte vielmehr, solange es irgend geht, regungslos bleiben und beobachten, was sich mit ihnen beiden tut.


Er schaut ruhig, und er spürt, dass sich die Umgebung jetzt weitet, ja, er hat allmählich den Eindruck, dass die nahen Wälder und die Gebirgsformationen zurücktreten. Gleichzeitig spürt er eine fließende Leichtigkeit und Wärme, sein Nachdenken ist jetzt zum Stillstand gekommen und einer puren Körperempfindung gewichen, sein Kopf kommt zur Ruhe, und seine Hände haben nicht mehr das Geringste zu tun.


Von Minute zu Minute wird die gegenseitige Anziehung stärker, das fühlt sich an wie ein innerer Austausch, als wanderte alles, was er zuvor nur für sich und bei sich gedacht und empfunden hatte, zu ihr hinüber und zeigte sich nun in aller Offenheit. Sie versteht mich, sie erkennt mich, denkt er plötzlich, ja, was sich hier gerade einstellt, ist ein großes Verständnis und mehr noch, es ist ein starkes Vertrauen, wir betrachten den anderen nicht mehr von außen, und wir beobachten ihn nicht mehr, das alles ist nicht mehr notwendig, denn Betrachtung und Beobachtung entfremden und entfernen uns nur voneinander. Das Vertrauen dagegen lässt uns zusammenkommen, er weiß, dass er jetzt ganz ähnlich wie sie empfindet und fühlt, das Abtasten, Suchen und Erproben ist anscheinend vorüber.


Und nun beginnt es, die Anspannung fällt von ihm ab, und er spürt die Erleichterung. Es gibt keine Hindernisse und Umwege mehr, sie haben die Körper und Gedanken gerade getauscht, und er fühlt, wie seine zuletzt monatelange Einsamkeit endlich ein Ende gefunden hat. Sein sturer Kopf! Seine verdammte Beharrlichkeit! Langsam verwandeln sich diese nicht abgelegten, kindlichen Züge in etwas Liebenswertes, Hilfloses, und all die ewigen Anstrengungen um den Erhalt der Vorstellungen, die er sich von seinem Leben gemacht hat, verlieren ihre Sonderbarkeit und Dramatik.


Dasitzen, still sitzen.


Ihm fällt ein, dass viele Teilnehmer an der Performance im New Yorker Museum während ihres stummen Sitzens in Tränen ausgebrochen sind, das kann er jetzt gut verstehen. Auch er ist jetzt den Tränen nahe, aber es sind keine Tränen der Trauer oder irgendeines anderen Schmerzes, es sind Tränen der Freude darüber, endlich erkannt und gesehen zu werden.


Sie erkennt mich! Sie sieht mich! Sie wendet den Blick nicht von mir ab!


Er spürt, wie sein Gesicht sich entspannt, er kann den Anflug eines Lächelns nun nicht mehr vermeiden. Auch in ihrem Gesicht nimmt er diese Gelöstheit wahr und dazu eine unglaubliche Freude. Auf welch schöne Weise sie zueinander gefunden haben! Und wie nah sie nun einander sind!


Sein Atem! Sein Herzklopfen! Er horcht in sich hinein, und plötzlich öffnet sich in ihm etwas, und in dem geöffneten, weiten Raum wird es heller, und die Töne einer Bambusflöte besetzen und lichten das Dunkel und erkunden es langsam.