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IM BAD ihres Hotelzimmers öffnet sie ihre Sporttasche und greift nach den nassen Handtüchern. Sie breitet sie über dem Rand der Badewanne aus, entledigt sich ihres Bademantels und streift dann ihren Badeanzug ab, den sie neben die Handtücher legt. Einen langen Moment schaut sie in den großen Spiegel, sie steht jetzt nackt da, eine schlanke, durchtrainierte Frau, müde und etwas kraftlos geworden vom schnellen Schwimmen. Sie tritt näher an den Spiegel heran und streicht sich mit zwei Fingern über die dunklen Ringe unter den Augen, dann holt sie eine Hautcreme hervor und maskiert das Gesicht mit einem dünnen weißen Film, der schon kurz nach dem Auftragen seinen Glanz verliert und matter wird.

Sie geht hinüber in den Wohnbereich und drückt kurz auf die Wiedergabe-Taste ihres Aufnahmegeräts, dann legt sie sich mit dem Rücken auf das breite Bett. Sie schließt die Augen und hört nun plötzlich die Naturmusik ihrer Ankunft vor kaum zwei Stunden, sie hört das Knistern und Flirren des Lichts, als wären die Sonnenstrahlen Musik geworden, und sie hört das regelmäßige Atmen eines sehr schwachen Windes wie ein kindliches, feines Pusten.


Wer ist diese Schwimmerin? – die seltsame Frage geht ihr nicht aus dem Kopf. Seit sie den kleinen weißen Zettel, der wie eine winzige Flagge aus dem Spalt einer Holzbank direkt auf ihrem Weg herausragte, gefunden hat, denkt sie ununterbrochen über diese Zeile nach. Stammt er von einem Voyeur, der sie beobachtet und jeden ihrer Schritte verfolgt? Oder steckt etwas Harmloseres dahinter? Jedenfalls glaubt sie sicher zu wissen, dass ein Mann diese Frage notiert hat, sie hat die bestimmte, ruhige und graphisch sehr ausdrucksstarke Handschrift dauernd vor Augen und bringt sie mit einem Mann in Verbindung, mit einem Mann, der allein ist …, mit einem Mann, der sich die Zeit genommen hat, sie aufmerksam und in aller Ruhe beim Schwimmen zu beobachten … – so treiben ihre Gedanken und bekommen nichts Konkretes zu fassen.


Sie kann von ihnen aber nicht loslassen, denn diese ersten Bilder eines noch fernen Fremden wecken eine gewisse Sehnsucht in ihr, sie spürt diese Sehnsucht genau, es ist die Sehnsucht nach einer starken, wohltuenden, fast brüderlichen Nähe, die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem zusammen man auf diesem Bett liegen könnte, ohne in irgendwelche Problemdebatten verwickelt zu sein. Diese Gedanken und Bilder beherrschen sie so stark, dass sie ihre stärker werdende Müdigkeit überlagern. Normalerweise wäre sie jetzt vielleicht für einige Minuten eingeschlafen und hätte sich so von ihrem anstrengenden Schwimmen erholt, nun aber wird sie von Minute zu Minute wacher, die Wachheit kriecht unter dem Müdigkeitsmantel ihres Körpers hervor und macht sie etwas unruhig.


Als die Naturmusik beendet und in ein monotones, stumpfes Rauschen übergegangen ist, steht sie auf und schaltet das Aufnahmegerät aus. Sie schaut nach, ob in der im Kleiderschrank versteckten Minibar eine kleine Flasche Sekt für sie bereitsteht, und als sie eine dunkelgrüne, gut gekühlte Flasche findet, öffnet sie rasch den Verschluss und gießt den gesamten Inhalt in das große Wasserglas auf ihrem Schreibtisch.

Sie mag kleine, schmale Sektgläser nicht, sie mag höchstens Sektkelche, häufig trinkt sie den Sekt aber auch aus großen Gläsern, so wie jetzt, als wäre Sekt gar nichts Besonderes, sondern ein ganz normales Getränk, das sie jetzt einfach braucht, um den Durst etwas zu stillen. Überhaupt kann sie mit all der Feierlichkeit, die das Trinken von Champagner, Sekt oder Wein begleitet, nichts anfangen, sie hasst all dieses Getue, das Anheben eines Glases, das Zuprosten, das Zurschaustellen des Genusses.

Ein Genuss, den man zur Schau stellt, verliert doch sofort an Wirkung, Genuss stellt man niemals zur Schau, der reichste Genuss ist der vollkommen stille Genuss, still und selbstverständlich und zu einem gehörig wie eine bestimmte Musik – das alles geht ihr jetzt durch den Kopf, und sie erwischt sich dabei, dass sie wieder an den fernen Fremden denkt, dem sie gerne erzählen würde, was ihr gerade durch den Kopf geht. Warum aber denkt sie immer wieder an ihn? Was lässt sie eine solch starke Nähe zu einem Unbekannten empfinden, angesichts einiger weniger, flüchtig auf ein Notizblatt gekritzelter Worte?


Sie geht wieder ins Bad und zieht den Bademantel über, dann setzt sie sich an den Schreibtisch und trinkt das Glas Sekt gleich zur Hälfte leer. Sie glaubt zu spüren, wie der kräftige Schluck durch den ganzen Körper rauscht, so hellwach macht er sie. Sie greift nach der hoteleigenen Schreibmappe, öffnet sie und lächelt ein wenig, als sie die vielen Bögen Briefpapier, die Briefumschläge und den Block mit den Notizzetteln erkennt, alle in einem matten Hellgrau mit dem Namen des Hotels versehen.

In Hotels regen diese Papiermengen sie immer an, etwas zu notieren, ja sie ist geradezu versessen darauf, diese schönen Bögen vollzuschreiben. Eigens dafür hat sie immer mehrere Stifte mit sehr feinen Minen in den verschiedensten Farben dabei. An jedem Tag ihres Aufenthalts lässt sie sich neue Lagen Briefpapier aufs Zimmer bringen, und häufig schickt sie ihre Hotel-Aufzeichnungen dann an ihre eigene Adresse, nach München. Sie besitzt eine große Sammlung solcher Aufzeichnungen aus den verschiedensten Ländern der Erde, hellgrüne, dünne Briefumschläge aus London, ockergelbe, dick gefütterte aus Indien, gelbweiße mit dem päpstlichen Wappen aus Rom, im oberen rechten Eck leuchten die kleinen Briefmarkengemälde, und ihre Schrift gefällt ihr, wie sie da ihren eigenen Namen und ihre Münchener Adresse fixiert hat.


Sie nimmt einen Fineliner aus ihrer Tasche, legt eine Seite des Briefpapiers vor sich hin und notiert jeweils auf Mitte:

Wann und warum ich gern Sekt trinke


Ich trinke Sekt gern zur Begrüßung – um einen Ort zu
begrüßen oder um mich selbst an diesem Ort zu begrüßen.
Ich trinke Sekt gern allein, in kleinen Mengen.
Ich trinke Sekt gern am späten Vormittag oder am frühen
Abend, kurz vor einer größeren Mahlzeit.
Ich trinke Sekt fast niemals zu Haus, sondern meist nur
»auswärts«, wenn ich irgendwo »ankommen« möchte.

Während ihres letzten Aufenthaltes in diesem Hotel hat Katharina, die Buchhändlerin, ihr ein kleines Buch mit einem alten japanischen Text aus dem elften Jahrhundert geschenkt. Es war das Tagebuch einer Hofdame, die am japanischen Kaiserhof lebte und alle paar Tage ihre Vorlieben und Abneigungen notierte. Jede Notiz hatte ein Thema und unter dem Thema waren dann ein paar lose, noch ungeordnete Gedanken aufgeschrieben.

Das kleine Tagebuch hieß »Kopfkissenbuch« – dieser Titel hatte ihr sehr gefallen, wie sie auch die kurzen, nie allzu nachdenklichen, sondern eher wie spontan dahingesagten Aufzeichnungen beeindruckt hatten. Sie hatte begonnen, selbst Aufzeichnungen in dieser Art zu verfassen, und sie hatte einige dieser Aufzeichnungen Katharina geschenkt, darunter auch diese, an die sie sich noch genau erinnert:

Warum ich Katharinas Hotelbuchhandlung mag


Weil es in dieser Buchhandlung nur Bücher gibt,
die Katharina ausgewählt hat
Weil es in ihr nach Tee, Gewürzen und Wein duftet
Weil die Bücher nicht alphabetisch geordnet sind,
sondern nach Themen
Weil die Themen nicht die üblichen Themen sind, sondern
poetische, von Katharina erfunden und entworfen
Weil diese Buchhandlung Katharinas große,
intime Welterzählung ist
Weil man in dieser Buchhandlung auch Musik hören kann
Weil ich in dieser Buchhandlung ein gut Stück zu Hause bin

Die Erinnerung an diesen Text stimmt sie froh, deshalb legt sie die gerade mit den Sekt-Notaten beschriebene Seite Briefpapier mit einem gewissen Schwung in die Schreibmappe und klappt sie zu, sie leert das Glas bis auf den Grund und wartet noch eine Weile, bis sie den Geschmack ganz ausgekostet hat. Dann steht sie auf, legt den Bademantel ab und zieht sich ein langes, schwarzes Kleid über.

Im Bad bürstet sie sich kurz durchs Haar, zieht mit einem Lippenstift die Schwingung ihrer Lippen nach und verlässt dann ihr Zimmer, um sich auf den Weg zur Buchhandlung zu machen. Als sie die Tür ihres Zimmers schließen will, geht sie noch einmal an den Schreibtisch zurück. Sie greift nach dem Notizzettel, den sie dort abgelegt hat, und sie überfliegt erneut die fremde Schrift: Wer ist diese Schwimmerin? Dann steckt sie den Zettel in eine Tasche ihres Kleides und verlässt nun endgültig ihr Zimmer.