Hab’ ich euch schon erzählt …?

Jeder hat im Schatzkästlein seiner Erinnerungen Erlebnisse, die er für erzählenswert hält, und sucht „Kundschaft“ dafür. Da aber vieler Leute Erzähllust größer als ihr Bekanntenkreis ist, passiert es, dass man einem Erzähl-Lüstling gegenübersitzt, der kriegt plötzlich, angeregt vom Wort „Kellertür“, gieriges Glitzern ins Auge und fragt: „Hab’ ich eigentlich schon erzählt, wie mich die Berger damals im Keller eingesperrt hat?“

Natürlich hat er, nicht nur einmal, zehnmal! Jeder kennt die Keller-Story auswendig, weiß, wie Alois auf der Treppe saß, an die Tür pochte, sich heiser schrie, ohne dass Hilfe nahte. Jeder kennt sogar etliche Fassungen der Story. Die mit der Maus, die Männchen machte, die mit der Ratte, die böse pfiff, die, in der Befreiung um Mitternacht erfolgte, und die, in der er bis zum Morgen im Keller verblieb. Am besten kennt Aloisens Frau die Story in allen Varianten, die sitzt ja immer neben ihm, wenn er vorträgt. Und so zischelt sie: „Klar hast du das!“ Aber für Alois gilt, wenn’s ans Erzählen geht, seiner Frau Wort nie. Forschend blickt er in die Runde, zweifelnd fragt er: „Hab’ ich echt?“

Da muss man ein sehr hartherziger Mensch sein, um kaltlächelnd „Ja“ zu sagen, und Alois weiß, dass Berta kein solcher ist. So fixiert er sie, legt Flehen in die Stimme, fragt: „Dir auch?“

Da zögert Berta nur kurz, dann sagt sie: „Erinnern kann ich mich eigentlich nicht.“ Und bevor ein anderer Veto einlegen kann, legt Alois los, und während er beglückt schildert, kriegt Berta von ihrem Hugo unterm Tisch Tritte gegen das Schienbein, zur Strafe für die der ganzen Runde angetane Tortur.

Aber tags darauf, in anderer Runde, bekommt Hugo plötzlich, angeregt von der Nennung des Namens „Alois“, gieriges Glitzern in die Augen und fragt: „Hab’ ich euch eigentlich schon erzählt, wie hilflos die Berta immer ist, wenn der Alois seine uralten Geschichten erzählen will?“

„Hast schon zehnmal!“ zischelt Berta, und Hugo fixiert Maria, die gute Haut, und fragt mit flehentlicher Stimme: „Dir auch?“

Worauf Maria nur kurz zögert und sagt: „Erinnern kann ich mich eigentlich nicht.“ Dann legt Hugo los, bevor ein anderer Veto einlegen kann, und diesmal bekommt Maria Tritte ab.

Wahre Güte muss eben immer leiden und lohnt auch nicht, denn wenn es Berta oder Maria einmal passiert, dass sie aus dem Schatzkästlein ihrer Erinnerungen eine Geschichte zum zweiten Mal holen, sind Hugo und Alois die ersten, die lauthals protestieren.

Liebe macht blind - manche bleiben es
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