Etepetete-Sorgen
Will man Kindern eine „erstklassige Erziehung“, samt angeblich dazugehöriger „sittlicher Ausdrucksweise“, angedeihen lassen, hat man es heute schwer, falls man mit ihnen nicht auf eine unbewohnte Insel ohne Radio und Fernsehen emigriert. Doch Anna, meine liebe Freundin, wollte das bis vor Kurzem absolut nicht einsehen.
„Nein“, sagte sie jedes Mal, wenn ich Obiges behauptete, „man muss Kindern nur mit gutem Beispiel vorangehen, daran orientieren sie sich mehr als an allen schlechten Einflüssen, die von außen an sie herangetragen werden. In einer Familie, wo die Eltern nie ordinäre Wörter benutzen, lehnen auch die Kinder die Gossensprache ab!“
Soweit ich es – bei Anna zu Besuch – kontrollieren konnte, stimmte das. Nicht einmal, als sich der Sohn mit dem Hammer auf den Daumen schlug, entfuhr ihm das gängige Sch… Bloß „Aua!“ rief er.
Und einmal, als der Tochter zum Fluchen zumute war, rief sie „Himmel und Zwirn!“; wobei ich nicht sagen kann, ob ihr das wesentliche Mittelstück des Fluches unbekannt war oder ob sie es aus Sittlichkeit verschluckte. Und als die Tochter hinfiel, informierte mich der Sohn: „Sie ist auf ihr Gesäß geplumpst!“
Doch nun ist urplötzlich und wie aus heiterem Himmel bezüglich Gossensprache ein riesiges Problem für Anna aufgetaucht. Von „außen“ natürlich, in diesem Fall von gegenüber. Anna wohnt nämlich einem Kino gegenüber. Und in diesem Kino spielt man seit drei Tagen den Film „Das kleine Arschloch“. Und nun stehen Sohn und Tochter immer am Fenster und starren zum Kino hinüber, über dessen Eingang in großen roten Buchstaben der Filmtitel prunkt. Und sie starren besonders kulleräugig, wenn scharenweise Menschen ins Kino drängeln.
Anna versucht zwar, Sohn und Tochter vom Fenster wegzukriegen, aber Sohn wie Tochter zieht es immer wieder dorthin, als wären sie Eisenfeilspäne, denen gar nichts anderes übrig bleibt, als zum Magneten zu wandern.
„Das gehört verboten“, sagte Anna heute zu mir, als ich bei ihr war. „Die Kinder sind total geschockt, weil da öffentlich steht, was man nicht sagen darf!“
Na, geschockt kamen sie mir eigentlich nicht vor, sahen eher aus, als ob sie den Eingang zum Paradies anstarrten. Als Anna zwecks Kaffeezubereitung in der Küche war, deutete der Sohn zum Fenster hinaus und sagte zu mir: „In drei Jahren darf ich auch.“ Dann deutete er auf seine Schwester. „Aber sie darf erst in fünf!“
„Was denn?“, fragte ich. „Es sagen!“, antwortete der Sohn. Zuerst verstand ich nicht, aber dann sah ich die rote Buchstabenzeile unter dem Filmtitel: „Erlaubt ab 14 Jahren.“