Liebe macht blind – manche bleiben es
Die meisten Frauen sind zum Zeitpunkt ihrer Heirat der naiven Ansicht, den Menschen, dem sie gerade ihr sogenanntes Ja-Wort geben, sehr gut – wenn nicht gar: durch und durch – zu kennen. Und falls sie sich noch weitere und intimere Einblicke in seine Psyche erwarten, sind sie auf lauter Positives und Erfreuliches gefasst.
Dass diese Erwartungshaltung eine irrige war, erleben die meisten Ehefrauen ja schon in den ersten Ehejahren. (Den Ehemännern wird es nicht viel anders ergehen.) Erst beim intensiven, tagtäglichen Zusammenleben stellt sich eben heraus, wer der Mensch, den man liebt, eigentlich ist. Und das wirft dann manchmal sogar die Frage auf, ob man diesen Menschen, so wie er ist, auch noch lieben kann.
Geheiratet hat man – zum Beispiel – einen armen, verkannten Menschen, den Mutter, Vater, Schwester, Chef und Freunde nicht genug liebhatten. Verheiratet ist man aber mit einem Mann, den man, seit man Mutter, Vater, Schwester, Chef und Freunde kennt, schlicht als „vor Selbstmitleid triefend“ bezeichnen könnte.
Genauso leicht könnte es sein, dass man in Vorehezeiten für kluge Sparsamkeit gehalten hat, was sich im Laufe der Ehe als knickeriger Geiz entpuppt.
Und die Vorstellungen darüber, welch netten, gütigen, verständnisvollen Papa der geliebte Mann einmal abgeben werde, entsprechen auch nicht immer den Tatsachen, wenn die ersehnten Kinderchen erst einmal da sind.
Mit der Enttäuschung darüber kann man auf zweierlei Art fertigwerden. Entweder man trennt sich von der Person, die nicht halten will, was sie versprochen hat, oder man legt sich eine andere Einstellung zur „Liebe“ zu und verzichtet auf den kindlichen Drang, nur zu lieben, was man richtig bewundern kann: In Ratgebern zur glücklichen Eheführung wird das dann als „die reife Liebe“ ausgegeben.
Eine dritte Möglichkeit freilich ist die, dass man seine Irrtümer bezüglich des Charakters des Ehepartners gar nicht wirklich zur Kenntnis nimmt und bei seinem vorehelichen Partnerbild bleibt.
Ehefrauen, die sich zu dieser Partnersicht entschlossen haben, erkennt man daran, dass sie etwaige Klagen über den Ehemann immer mit dem Satz beginnen: „Mein Mann ist der beste Mensch der Welt, aber …“