Vierzig

Das Navigationsgerät führte ihn hinaus aus der Stadt. Sobald Paul bemerkte, dass er es unmöglich in der angegebenen Frist schaffen konnte, überkam ihn eine Welle der Panik. Sie intensivierte sich, als der Kidnapper von Prince ihn nach Verstreichen der Zeit anrief.

Entgegen der Erwartung von Paul ließ er sich viel zu einfach mit der Aussage beschwichtigen, dass er mit dem Verkehr zu kämpfen hatte und bald ankommen würde. Bereits vor einer Viertelstunde hatte er die Stadt hinter sich gelassen und würde in knapp zehn Minuten am Zielort eintreffen.

Thompson hatte zunächst geflucht und damit gedroht Prince in fünf Minuten in ein Biotop für Maden und andere Insekten umzufunktionieren. Letztendlich beruhigte er sich. Er wusste genau, dass er ohne seine Geisel niemals an das Geld gelangen würde. So blieb es bei leeren Drohungen und einem noch weitaus beunruhigterem Paul, sofern das überhaupt möglich war.

Die ganze Fahrt über hatte Paul sich Gedanken darüber gemacht, wie er Prince befreien konnte. Was war ihrer beiden Leben noch wert, wenn die Entführer das Geld hatten? Wieso sollten sie Prince und ihn nicht auf der Stelle erschießen? Bis Alessios Leute eintreffen würden, hätten sie längst das Zeitliche gesegnet.

Paul schüttelte sich.

Jetzt war nicht die Zeit für Zweifel. Das versuchte er sich zumindest einzureden.

Er beschäftigte sich den Rest des Weges lieber mit der Frage, wer am Ende vor ihm stehen könnte. Zu viele Leute hatten ein mehr oder weniger berechtigtes Interesse an dem Geld, wenn er Giovanni Glauben schenken wollte. Und um ehrlich zu sein, fand er keinen Grund das nicht zu tun.

Mit immer noch flauem Gefühl im Magen zwang Paul sich ein Lächeln auf die Lippen. Er drehte das Radio gerade rechtzeitig zu einem seiner Lieblingslieder auf.

„Only God can judge me.” philosophierte Tupac in der Hook des Songs.

Na wenigstens noch etwas anständige Musik bevor ich vielleicht gleich vor meinen Schöpfer trete.

Mit einem Mal schweiften seine Gedanken weiter. Hatte er gesündigt? Natürlich. Wer konnte von sich das Gegenteil behaupten? Hatte er es bereut? Nicht wirklich – zumindest nicht bis zu diesem Augenblick, in dem er den Tod unaufhaltsam näher rücken sah.

Es blieb ihm jedoch keine Zeit mehr, um sich weiter in seinen Gedanken zu verlieren. Eine angenehme Frauenstimme teilte ihm mit, dass er seinen Bestimmungsort erreicht habe.

Paul brachte das Fahrzeug zum Stehen.

Von der Landstraße, auf der er an sein Ziel gelangt war, bog ein augenscheinlich kaum befahrener Kiesweg scheinbar ins Nirgendwo ab. Ein marodes Schild wies ebendiesen als Auffahrt zum Fabrikgelände der ICAA Ltd. aus.

Paul atmete tief durch und warf einen wachsamen Blick nach allen Seiten. Nachdem er sich sicher war, dass ihn keine Menschenseele beobachtete, brachte er das Auto wieder in Bewegung. Die Kiesoberfläche der provisorischen Straße knirschte beim Anfahren unter den Reifen.

Hoffentlich wussten Alessio und seine Männer, was sie taten.

 

***

 

»Ein Wagen hat an der Einfahrt gehalten. Alle Scheiben getönt. Ich kann nicht erkennen wie viele Insassen es sind. Wartet, jetzt bewegt es sich wieder. Das Fahrzeug ist in die Einfahrt eingebogen. Der Typ fährt langsamer als meine Oma. Und die kullert im Rollstuhl über unseren blauen Planeten.« kamen knackend die Statusmeldungen von Todd über das Funkgerät herein.

Er befand sich mit seinem Scharfschützengewehr auf einer erhöhten Position und hatte somit den perfekten Überblick über das gesamte Terrain.

Coleman hatte bereits bemerkt, dass Todd sich nicht mehr auf dem Dach befand, von dem er ihn zuvor vertrieben hatte. Er hatte seinen Posten auf einem bewachsenen Hügel knapp fünfhundert Meter hinter dem Gelände der ICAA Ltd. bezogen.

Die Kehle des Detectives war staubtrocken. Normalerweise hatte er um diese Zeit schon den einen oder anderen Drink zu sich genommen. Sogar seine Hände zitterten leicht. Er konnte einzig darauf hoffen, dass dieser Albtraum bald ein Ende fand. Ein Ende, das hoffentlich nicht den Auftakt zu einem neuen Albtraum bilden würde.

Dann erkannte auch er den Wagen deutlich. Er passierte gerade die Einfahrt des Fabrikgeländes. Der Weg würde ihn direkt vor ein großes Tor führen, das früher den Eingang für überdimensionale Lastkraftwagen dargestellt hatte. Zu den Zeiten, in denen das Logistikunternehmen noch solvent war.

Jetzt würde es dazu dienen Pauls Wagen in die Halle zu schaffen, in deren ersten Stock Prince und Captain Thompson auf ihn warteten.

»Der Wagen passiert jetzt die Einfahrt zum Gelände.« teilte Coleman den anderen knapp mit.

Wenige Meter bevor das Fahrzeug am Tor halten musste, begann es sich klappernd und quietschend nach oben zu bewegen und gab den Weg in die Halle frei. Kaum war das Fahrzeug im Inneren verschwunden, schloss sich das Tor wieder mit einem dumpfen Knall.

Coleman atmete tief durch. Angespannt blickte er auf seine Armbanduhr. Noch lief alles nach Plan.

 

***

 

»Kannst du irgendjemanden erkennen?«

»Nein. Bisher habe ich niemanden gesehen. Ich bin jetzt gerade am Tor des Unternehmens vorbei und befinde mich in der ehemaligen Einfahrt.«

Alessio hatte sich einen Wimpernschlag nachdem Paul auf den Kiesweg aufgefahren war, über das Autotelefon bei ihm gemeldet. Jetzt drang seine Stimme über die Freisprechanlage des Wagens an Pauls Ohr. In all der Aufregung hatte er es nicht geschafft das Navi auszuschalten. Immer und immer wieder wies ihn die Frau penetrant darauf hin, dass er sein Ziel bereits erreicht habe.

»Okay. Fahr weiter und beschreibe mir alles, was du sehen kannst.« forderte Alessio ihn auf.

Den hatte es ein wenig beunruhigt zu wissen, dass er und seine Leute erst zehn Minuten nach Paul ankommen würden. Unterdessen sollte Paul ihnen schildern, was er auf dem Weg zu seinem endgültigen Ziel erkennen konnte. Das Gelände war Alessio und seinen Männern bereits bekannt. Paul hatte nicht gewagt zu fragen woher. Interessant für sie war lediglich die Anzahl der Männer, die es später zu eliminieren galt.

Darüber hinaus unterrichtete Alessio ihn darüber, dass Paul einen Pager, der im Handschuhfach lag, mitnehmen solle. Sollte etwas bei der Übergabe nicht wie geplant ablaufen, würde er den Pager betätigen. Das Gerät war auf eine Nummer programmiert worden. Die von Alessio. Sobald der Pager ihn benachrichtigte, rückten sie ein. So zumindest versprach er es Paul.

»Das Gelände sieht heruntergekommen und verlassen aus. Ich will gar nicht wissen wie viele Leichen hier begraben liegen. Die Wege sind alle frei, ich sehe keine Autos. Der Kiesweg führt mich gerade direkt auf das Gebäude zu, in dem mich die Kidnapper treffen wollten. Es ist zumindest die einzige blaue Halle, die ich sehen kann. Auf dem Dach des ersten Gebäudes rechts des Weges scheint eine Person postiert zu sein. Vielleicht sind es zwei, das kann ich nicht genau erkennen. Eine weitere steht auf dem Dach des Zielgebäudes.« berichtete Paul pflichtbewusst und versuchte seine Nervosität mit einer lauten Aussprache zu überspielen.

Seine Hände zitterten, als wäre sein Körper an eine Starkstromleitung angeschlossen. Der Patient von Dr. Bibber wäre unter seiner Aufsicht jämmerlich verendet. Die Gedanken an das Spiel aus seinen Kindheitstagen brachten ihn zum Schmunzeln. Wie hieß es so schön? Wenn etwas zu Ende geht, denkt man immer an den Anfang.

»Gleich stehe ich vor dem großen Tor des Gebäudes.« hielt er Alessio auf dem Laufenden.

Paul zog sein Handy aus der Tasche und blickte gespannt darauf. Bisher hatte er ausschließlich darüber mit den Kidnappern kommuniziert und er hatte eigentlich damit gerechnet, dass an dieser Stelle weitere Instruktionen erfolgten.

Sollte er aussteigen?

Würde er von jemandem abgeholt werden?

Die Fragen erübrigten sich im nächsten Moment von selbst.

Passend zu dem herabgefallenen Gebäude, setzte sich das verrostete Tor wie von Geisterhand in Bewegung und kroch im Schneckentempo empor, gab den Weg für Paul in die Fabrikhalle frei.

Er verstand die Einladung.

»Das Tor wurde geöffnet. Ich fahre jetzt hinein.«

»Alles klar. Und médico, vergiss den Pager nicht.« mahnte Alessio ihn. Paul tätschelte daraufhin die rechte Seitentasche seiner Jacke, in der er seine Lebensversicherung verstaut hatte. So fühlte sich der Pager zumindest für ihn an.

»Wie könnte ich.« flüsterte er und drückte die Aus-Taste, um das Gespräch mit Alessio zu beenden.

Das Tor schob sich indessen hinter ihm wieder nach unten und schloss sich mit einem dumpfen Knall.

Das Konto
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html