Prolog
Er stand ganz alleine dort. Wäre Sommer gewesen, hätte die riesige Eiche neben ihm wohltuenden Schatten gespendet. Heute stand keine Sonne am Himmel, vor der man sich verstecken musste. Der Horizont war in ein finsteres Grau gefärbt. Das dichte Blätterwerk des Baumes raschelte unter dem kühlen Wind. Der Mann schlug den Kragen seines Mantels nach oben. Er stand vor einem Grabstein, dessen Inschrift er vor sich hinmurmelte.
Eine Träne verließ seine Augen und kullerte einsam die Wange hinunter. Ohne zu blinzeln verweilte er dort, ohne ein Gefühl für die verstreichende Zeit. Sie bedeutete nichts mehr, besaß keinen Wert. Durch die Tränen wirkten seine Augen gläsern. Glas, das in diesem Moment klirrend in winzige Splitter zersprang.
Der Mann brach sowohl äußerlich, als auch innerlich in sich zusammen. Seine Knie schlugen auf dem mit Gras bewachsenen Boden auf und beendeten die Talfahrt seines Körpers abrupt. Das Kinn ruhte kraftlos auf der Brust, die Augen waren krampfhaft zusammengekniffen. Mit allerletzter Kraft platzierte er bedächtig einen Blumenstrauß vor dem Stein.
Die Szene wurde untermalt von schnell aufziehenden Gewitterwolken, deren Vorbote ein gerade einsetzender Nieselregen war. Er spürte ihn nicht.
Still begann er zu beten. Dabei wiegte er seinen Körper vor und zurück. Es war nicht so, dass ihm diese Bewegung bewusst gewesen wäre. Sie passierte einfach.
Am Ende siegte die Schwerkraft und er gab sich ihr erschöpft hin. Sein massiger Oberkörper fiel nach vorne. Kurz bevor er auf dem inzwischen durchnässten Boden aufschlug, fingen seine Hände den Sturz ab. Er strich mit ihnen über das Gras, hielt die Augen geschlossen und rief sich Erinnerungen ins Gedächtnis. Sie hielten ihn am Leben, gaben ihm Kraft. Er war gefangen in einem Dasein, das er so nie führen wollte. Aufgeben stellte dennoch keine Option dar.
Der Regen wurde stärker, was ihn nicht dazu brachte aufzustehen. Die Welt könnte untergehen. Er würde dort verharren und es stillschweigend hinnehmen, in gewissem Maße sogar begrüßen.
Etwa zwanzig Meter hinter ihm schlängelte sich ein breiter Kiesweg durch den Friedhof. Eine schwarze Bentley Limousine parkte mit laufendem Motor quer auf dem Weg.
Ihre Hupe ertönte. Blitze erhellten den inzwischen rabenschwarzen Himmel zeitweise. Tiefes Donnergrollen folgte Sekunden darauf, das wie eine Welle über den Friedhof hereinbrach.
Die getönte Scheibe des Fahrerfensters fuhr herunter und eine Frau schrie etwas, das der Mann wegen des stürmischen Windes nicht hörte - oder einfach nicht hören wollte.
Er verharrte noch geraume Zeit in seiner Pose vor dem Stein, während die Frauenstimme sich allmählich heiser schrie. Letztendlich nahm er seine ganze Kraft zusammen, murmelte das Versprechen wiederzukehren, stemmte sich schwerfällig auf die Beine und schlurfte mit hängendem Kopf in Richtung Wagen. Er warf einen letzten sehnsüchtigen Blick über die Schulter, bevor er die Beifahrertür hinter sich schloss.
Sofort jaulte der Motor auf. Das Auto pflügte mit durchdrehenden Reifen den gepflegten Weg und jagte der erleuchteten Silhouette von Chicago entgegen.
Seit diesem Moment waren viele Jahre.
Viel zu viele.