Acht

In seiner Wohnung lehnte Paul sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Prüfend schweifte sein Blick durch den Raum.

Bisher hatte niemand gewagt bei ihm einzubrechen. Das käme mit Prince als Nachbarn einem Himmelfahrtskommando gleich. Dennoch überprüfte Paul seine spärlich ausgestattete Bleibe bei jedem Eintreten penibel auf das Fehlen irgendeines seiner Besitztümer.

Gegenüber der Eingangstür, in der hinteren linken Ecke, stand ein Herd mit einem Spülbecken links daneben. Schön zu sehen, dass sich auch das schmutzige Geschirr noch an seinem Platz befand. Direkt neben der Tür stand ein Regal, in dem Paul seine Schallplatten und CDs, sowie eine Stereoanlage aufgereiht hatte.

Zwischen Herd und Regal stand ein kleiner Esstisch aus Messing an der Wand. Die zwei Stühle aus Kirschholz davor hatten erst vor drei Monaten einen einsamen Plastikklappstuhl ersetzt. Prince stand mit den beiden Möbelstücken einfach vor Pauls Tür und fragte ihn, ob er sie haben wollte, da er keine Verwendung für sie hätte. Paul nahm sie an. Die Fragen zu ihrer Herkunft sparte er sich. Er revanchierte sich dafür die nächsten Tage mit zusätzlichen einhundert Millilitern. So recht wollten die hochwertigen Stühle allerdings nicht zu der restlichen Einrichtung passen.

Rechts neben der Tür stand ein großer Flachbildfernseher auf einem kleinen Schränkchen, das Paul im Sperrmüll gefunden hatte. Davor gab es eine braune, abgelegene Kunstledercouch, in deren mittlerem Sitzpolster sich eine deutliche Sitzkuhle abzeichnete.

Die Wände verzierte bereits seit Pauls Einzug eine Blümchen-Tapete, die er ganz und gar scheußlich fand. Doch allein bei dem Gedanken daran, die Tapete abreisen zu müssen, seine Möbel zu verschieben und danach alle Wände neu zu streichen, schwanden seine Kräfte dahin und mit ihnen jeglicher Tatendrang.

Im rechten, hinteren Eck, gegenüber der Eingangstür, konnte man durch eine Schiebetür auf den Balkon hinaustreten. Auf ihm stapelten sich leere Verpackungen von Pizzen und Chinarestaurants, die Paul dort deponierte. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Manchmal verbrannte er sie zusammen mit Prince in einer Nacht und Nebel Aktion auf dem Dach des Hauses. Alles war besser, als den Müll in die Tonne hinter dem Haus zu schleifen. Zumal Paul sich sicher war, dass er dort bei seinem letzten Besucht die stark verwesten Überreste eines Menschen angetroffen hatte.

Ein schmutziges Aquarium, in dem einmal Fische qualvoll an Missachtung verendet waren, rundete das Erscheinungsbild des Balkons ab. Regenwasser hatte sich darin angesammelt. Im Sommer stellte das kleine Becken eine Brutstätte für Moskitos dar. Das war für gewöhnlich der Moment, in dem Paul sich fragte, warum er es nicht entsorgte. Wahrscheinlich lag das daran, dass man es nicht verbrennen konnte.

Neben der Balkontür befanden sich ein überschaubares Schlafzimmer mit einem schlichten Bett. Ein winziges Bad grenzte daran an, das mit einer Toilette, einem winzigen Waschbecken und einer Dusche ausgestattet war. Alle drei Räume waren durch Wände und hölzerne Schiebetüren voneinander getrennt, die nicht immer funktionierten.

Pauls Blick fiel auf den Beistelltisch neben der Couch. Auf ihm standen für gewöhnlich zwei Bilderrahmen. Sie ummantelten die Porträts einer Blondine mit strahlend blauen Augen und einer Frau mit braunem, schulterlangem Haar, deren giftgrüne Augen düster in ihrer botox-glatten Stirn glommen. Kurz blieb er vor dem Tisch stehen, bevor er das Porträt der Blondine nahm und mit den Fingern über den eingravierten Namen auf dem Rahmen strich.

Scarlet stand dort in geschwungener, silberner Schrift.

Während er es wieder abstellte schweifte sein Blick zu dem anderen Bild. Wie in Trance wanderte seine Hand in Zeitlupe darauf zu und stieß es um, sodass es falsch herum auf dem Tisch lag. Der Blick der brünetten Frau brannte sich nicht weiter in seine Augen ein. Paul lächelte gequält.

Er wandte sich um und betrachtete ein Familienfoto, das über dem Esstisch platziert hing. Es zeigte ihn als siebenjährigen Jungen mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Mike, der mit achtzehn nach Europa verschwunden war und seither nichts mehr von sich hatte hören lassen.

Das Bild hielt die Familie im Garten ihres damaligen Hauses in Texas unter einem riesigen Pekannussbaum fest. Inzwischen waren seine Eltern über fünf Jahre tot. Er hatte es relativ gut verkraftet. Trotzdem trat ihm gelegentlich eine einsame Träne in die Augen. Dies war einer dieser gelegentlichen Momente.

Einen langen Augenblick stand Paul wie angewurzelt und starrte in die glücklichen Gesichter an seiner Wand. Er wischte sich die Träne aus dem Augenwinkel, zog seinen Mantel aus, hing ihn über die Couch. Ein flüchtiger Blick auf die Anzeige seines uralten Nokias zeigte zehn Minuten nach zehn Uhr an. Noch zwanzig Minuten bis sein Frühstück kommen würde.

Zufrieden damit, wie der Tag sich anscheinend zum Guten wendete, entledigte er sich seiner restlichen Kleidung, drehte die Musikanlage auf und stieg unter die Dusche.

Während das schleichend warm werdende Wasser aus dem verkalkten Duschkopf auf ihn niederprasselte, schepperte „Breakfast at Tiffany's“ von Deep Blue Something durch die Wohnung. Paul sang schräg mit. Es war nicht seine Musik. Dennoch wirkten die Zeilen beruhigend auf ihn. Erinnerten ihn an bessere Zeiten.

Es war damals ihr Lied gewesen.

Scarlets Lieblingslied.

And I said „What about Breakfast at Tiffany’s?“

She said, „I think I remember that film

and as I recall, I kinda liked it.”

And I said “Well, that’s one thing we’ve got.”

Das Konto
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