Dreizehn
Zunächst hoffte Paul, dass das Hämmern von alleine aufhörte, wenn er sich einfach nicht bewegte und still in seinem Bett liegen blieb.
Seine Theorie schlug fehl.
Das anfängliche leichte, rhythmische Klopfen an der Türe entwickelte sich zu einem genervten Trommelwirbel mit beiden Händen. Sogar Fußtritte mischten sich darunter, welche die Türangeln einer aussagekräftigen Qualitätsproberobe unterzogen.
Es war kurz nach sieben Uhr abends. Draußen ging bereits die Sonne unter und tauchte die Stadt in ihr Dämmerlicht.
Gähnend rieb Paul sich den Schlaf aus den Augen. Daraufhin schlurfte er gemächlichen Schrittes in Richtung des Krawallursprunges, der ihn so unsanft geweckt hatte.
»Paul ich schwöre es dir, wenn du nicht gleich die scheiß Tür aufmachst und hier rauskommst, dann lass ich Bobby irgendwas zusammenmischen, dass diese Tür für immer und ewig aus der Weltgeschichte ätzt!«
Es war unschwer zu überhören, dass Prince vor der Tür lauerte. Ebenso war es offensichtlich, dass er unmittelbar davor stand zu explodieren.
»Verdammt!« zischte Paul. Der Ausruf galt dabei mehr ihm selbst. Prince Stimme rief ihm ins Gedächtnis, dass sie zu dem Footballspiel gehen wollten. Doch auch sein Freund im Hausflur hatte ihn gehört.
»Ich habe dich gehört du Ratte! Mach endlich deine Tür auf, oder ich werde Dinge mit dir tun, die ich dir ohne ärztlichen Beistand nicht einmal androhen darf!«
Zögerlich zog Paul die Absperrkette aus ihrer Halterung und öffnete die Tür einen Spalt breit. Sofort schob Prince seinen Schuh zwischen Tür und Rahmen. Mit der Schulter rammte er Paul die Tür ins Gesicht und erstürmte die Wohnung forschen Schrittes. Ein Sondereinsatzkommando hätte die Räumlichkeiten bei einer Razzia nicht effektiver sichern können.
Es folgten einige hässlichen Beschimpfungen zu denen Paul seine Kleidung zusammensuchte, sich hastig anzog und in einer Tour entschuldigte.
»Dir ist klar, dass das Spiel um halb neun anfängt und wir mindestens eine Stunde dorthin brauchen?«
»Es tut mir Leid Prince, ich habe es einfach verschlafen.« versuchte sich Paul verzweifelt aus der Schussbahn zu lenken. Allerdings wusste er, dass Prince sich abreagieren musste, wenn ihn etwas in Rage versetzt hatte. Tat er das nicht, wurde er zu einer tickenden Zeitbombe und der nächste, der ihn nach der Uhrzeit fragte, könnte zu einem Pflegefall im Krankenhaus mutieren.
So saß Paul es aus, gestand auf dem Fußweg zur U-Bahn immer wieder seine Schuld ein und bemängelte seine eigene Dummheit.
Es überraschte Paul wie viele Leute auf der Straße anzutreffen waren, obwohl sich das Wetter von angenehmem mittäglichem Sonnenschein zu rauem, eisigem Wind gewandelt hatte. Der Kleidungsstil seines Freundes hatte den Wetterumschwung nicht mitbekommen. Er trug noch immer seine Jeans mit einem Basketballtrikot.
Immer wieder kamen sie an ganzen Rudeln von zwielichtig aussehenden Gestalten vorbei, die Prince alles Mögliche zuriefen. Man schlug sich in einer kompliziert anmutenden Abfolge von Bewegungen gegenseitig in die Hände ein und tauschte die neuesten Nachrichten aus.
Paul stand bei diesen Unterhaltungen schweigend neben Prince. Sein Blick hing dabei an den ausgespuckten Kaugummis und achtlos weggeworfenen Zigarettenstummeln auf der Straße fest. Weit und breit war er das einzige weiße Gesicht. Er konnte beinahe fühlen, wie sich die Blicke der anderen auf seiner Haut einbrannten, während Prince sich mit ihnen unterhielt.
Obwohl er inzwischen länger in dem Viertel wohnte, konnte Paul nachts immer noch nicht entspannt die Straße entlanggehen. Stets warf er einen paranoiden Blick über seine Schulter oder vermutete hinter der nächsten Ecke einen Überfall.
Jeder, der ihm entgegenlief, verwandelte sich in seiner Vorstellung zu einem potentiellen Dieb, der ihn für den jämmerlichen Inhalt seiner Brieftasche vom Bauchnabel bis zum nördlichsten Punkt seines Körpers aufschlitzen würde.
Der einzige Grund, warum ihm bisher noch kein Haar gekrümmt wurde, war, dass er ganz offiziell ein Vertrauter von Prince F. Craigin war. Das ließ seine Hautfarbe in den Augen der Leute dieses Viertels keinesfalls auf magische Weise dunkler werden, aber zumindest brachte bisher keiner den Mut auf, sich Paul vorzuknöpfen. Denn das würde einer Respektlosigkeit Prince gegenüber gleichkommen. Und jeder hier im Umkreis von fünf Blocks wusste, dass man den Unmut dieses Mannes besser nicht auf sich zog.
Prince war in den Augen dieser Leute der Mann, der die Ordnung in diesem Viertel aufrechterhielt. Hatte man Probleme, so ging man zu ihm. Nicht zu den Cops. Fühlte sich jemand belästigt, so kümmerte sich Prince um den Ursprung dieses Empfindens.
Kam einer der Jungs ums Leben, egal ob Prince ihn gut oder flüchtig kannte, so kümmerte er sich um die Menschen, die diese Toten zurückließen. Er war der Dreh- und Angelpunkt der Straßen im Umkreis von drei Meilen geworden.
Niemand unterlag der Illusion, dass dies der Beweis von Prince Verweichlichung war. Auch Paul musste nicht sehr weit zurückdenken, um sich die andere Seite von Prince ins Gedächtnis zu rufen.
Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfahren ob die Suche nach den drei Männern, die Gerhard am späten Nachmittag zusammengeschlagen hatten, erfolgreich verlaufen war. Genaugenommen wollte er es gar nicht wissen. Denn damit würde die Frage über den Verbleib und des gesundheitlichen Zustandes dieser Leute zur Sprache kommen. Mehr Tote als Paul bei der Arbeit zu sehen bekam, musste er nicht kennen.
Die fast greifbare Spannung in der Luft und die übertriebene Ehrfurcht in den Augen der anderen Leute auf der Straße, wenn Prince einen weiteren Bekannten begrüßte, teilte Paul nonverbal mit, was er sich ohnehin schon ausgemalt hatte. Die drei würden niemanden mehr bestehlen.
Er nahm sich vor, Prince nicht danach zu fragen. So sehr es ihn interessierte. Dasselbe schienen sich sämtliche Leute zu denken, denen die beiden begegneten. Auf den Straßen hatte die Geschichte längst ihre Runde gemacht.
Unmittelbar vor der Metro-Station siegte bei einem gedrungenen Typen mit Halbglatze dann die Neugierde. Sein Gesicht erinnerte Paul an das einer Ratte. Der Geruch verstärkte den Eindruck.
»Jo Poison. Ich habe gehört einer deiner Jungs wurde vorhin zusammengeschlagen. Sag Bescheid wenn man dir dabei irgendwie helfen kann.«
»Das Problem hat sich von selbst erledigt.« entgegnete Prince seinem Gegenüber kalt. Seine Augen steuerten die restliche Antwort schweigend bei. Sprich dieses Thema nochmals an und ich reiße dir die Zunge heraus.
»Oh. Alles klar. Ich wollte nur höflich sein, man. Weißt ja, wenn einer damit durchkommt stehen morgen die nächsten zwei da. Weißt ja wie das ist. Aber hey, du hast dich drum gekümmert. Also ist die Sache erledigt Poison. Du bist der Mann.« beeilte sich die Ratte zu sagen. Seine Stimme wurde immer schneller. Es war deutlich, dass Prince irrer Blick ihn nervös machte.
Der beließ es jedoch dabei. Sie verabschiedeten sich, versprachen sich allerdings noch in der nächsten Woche pokern zu gehen.
Paul wollte daraufhin gerade die Stufen zur U-Bahn hinabgehen, als Prince ein Haus neben der Treppe betrat und Paul bedeutete ihm zu folgen.
Das Gebäude wirkte trostlos. Es gab Löcher in den Wänden und zersplitterte Fenster, die provisorisch mit Holz verbarrikadiert worden waren. Alles in allem das perfekte Setting für einen Horrorfilm.
Gemächlich stiegen sie die Treppe bis in den fünften Stock hinauf. Dort klopfte Prince an eine Tür, deren schwarze Farbe bereits abblätterte und ihm an den Knöcheln kleben blieb.
Nach wenigen Augenblicken erkundigte sich eine Dame in zaghaftem Tonfall, wer sich vor ihre Türe verirrt hatte. Sie erkannte die Stimme von Prince, zog sie die Kette aus der Halterung an der Innenseite der Türe und gab den Weg in ihre Wohnung frei.
»Prince!« strahlte die junge Frau über das ganze Gesicht. Sie errötete und versuchte es zu verschleiern, indem sie ihren Blick zu Boden senkte.
»Hallo Selma.«
Die beiden umarmten sich wie alte Freunde und tauschten ein paar Höflichkeitsfloskeln aus. Nachdem jeder der beiden versichert hatte, wie gut es ihm ginge, zog Prince einen Umschlag aus seiner Jacke hervor. Bei dessen Anblick kullerten Selma einzelne Tränen über die Wange.
»Falls du mehr brauchst, weißt du wo du mich findest.«
Er küsste sie auf die Stirn und schlang die Arme erneut um sie. Diesmal zum Abschied.
Paul umarmte die Frau ebenfalls. Einfach, weil der Anblick einer weinenden Dame dieses Bedürfnis in ihm aufkommen ließ. Sie erwiderte die Geste und bedankte sich überschwänglich bei Prince. Der winkte ab.
»Willst du mir erzählen, was hier gerade passiert ist?« wollte Paul mit fragendem Gesicht von seinem Freund wissen, während sie die Treppe wieder in Richtung Straße hinabstiegen.
»Das war Selma Whitner. Ich kümmere mich um sie, seit Ray vor einem halben Jahr erschossen wurde.« antwortete Prince in nüchternem Tonfall. Er hielt inne, um anhand von Pauls Reaktion erkennen zu können, ob ihm der Name bekannt vorkam. Da dies nicht der Fall zu sein schien, fuhr Prince fort. »Er hat öfter kleine Jobs für mich erledigt. War ein guter Kerl, hatte was im Kopf. Irgendwann wurden die beiden dann nachlässig. Das Resultat waren die beiden Zwillinge, die sie vor drei Jahren bekommen hatte. Wunderbare Kinder. Jedenfalls wollte Ray für sie anständig werden, was ich vollauf verstanden und respektiert habe.«
Prince verstummte und schluckte schwer. Widerwillig brachte er die nächsten Worte über seine Lippen.
»Einen letzten Job noch Ray. Zum Abschluss. Das waren meine Worte. Stundenlang habe ich auf ihn eingeredet, bis er endlich zugesagt hat. Am Abend wurde er überfallen und von sieben Kugeln durchlöchert. Er hätte es schaffen können. Niemand half ihm, niemand rief einen Krankenwagen. Eine halbe Stunde lag er sterbend neben der Straße und keiner machte einen Finger krumm. Dabei hätte ein simpler Anruf sein Leben gerettet. Ich würde gerne jedem die Augen ausstechen, der an diesem Tag einfach weitergelaufen ist. Schweißwelt. Und seitdem bekommt Selma von mir alles, was sie braucht. Ich versuche mich dadurch reinzuwaschen, doch das Blut klebt an meinen Händen. Verstehst du was ich meine? Sie hat mir verziehen. Ich werde das nie können. Und das Schlimme ist, dass ich keine Chance habe diesen Bastard für seine Tat leiden zu lassen.«
»Tut mir leid das zu hören.« gab Paul zurück, bemüht die richtigen Worte zu finden. Existierten die im Fall einer solchen Geschichte überhaupt?
»Ja man. Eigentlich sollte mich so etwas nicht berühren. Schließlich tötet mein Produkt die Abnehmer tagtäglich. Oder zerstört zumindest ihr bisheriges Leben. Aber ab und an kommt der letzten Funkte Menschlichkeit in mir zum Vorschein.« Prince versuchte dabei zu lächeln. Es wirkte zu erzwungen, als dass es Paul von seiner Echtheit überzeugen konnte.
»Prince. Es ist nicht deine Schuld, dass er dort erschossen wurde. Du hast den Abzug nicht gezogen.«
»Ich habe ihn vor den Lauf gestellt. Ich habe ihn überredet.«
»Wäre er nicht dort gewesen, wäre es jemand anderes gewesen. Wäre dir das lieber?«
Keine Antwort.
Schweigend traten sie auf die Straße hinaus.