Neun
Die beiden Latinos fielen bereits über ihr Frühstück her, als Paul seine Wohnung gegen halb elf verließ und zu ihnen hinüberstapfte. Bobby musste ihnen eine ganze Wagenladung Tortillas mitgebracht haben, die die beiden offensichtlich in Rekordzeit hinunterzuschlingen gedachten.
»Poison wartet drinnen auf dich. Schwing deinen weißen Arsch rein.« rief einer der beiden Paul mit vollgestopftem Mund entgegen. Mit einer Hand deutete er auf die Tür neben sich. Er unternahm erst gar keinen Versuch seine Essensreste beim Sprechen im Mund zu halten und so flogen Paul mehrere Bestandteile der Tortillas wie Artilleriegeschosse entgegen.
»Ist Bobby schon lange da?« erkundigte Paul sich flüchtig. Er war nicht auf eine Antwort erpicht, sondern wollte einfach nicht schweigend an den zwei Hünen vorbeistolzieren. Am Ende könnten sie es noch als Verletzung ihres Ehrgefühls verstehen. Was wiederum zu einer Kurzschlussreaktion von verheerendem physischem Ausmaß für Paul enden könnte. Er hatte Dokumentationen über die Drogenkriege in Mexiko gesehen. Dort wurden Leute gefoltert und anschließend an Brücken aufgeknüpft. Alleine deshalb riet ihm sein Verstand zur Vorsicht im Umgang mit den beiden Wachhunden. In diesem Moment galt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit allerdings ihrem Essen.
Schließlich hob einer seine linke Hand in die Luft und spreizte vier Finger ab. Das war wohl alles, das man als Antwort erwarten konnte, dachte sich Paul. Die andere Hand des Mannes schob unaufhörlich weiter Essen in dessen Futterschleuse nach. Ohne dass sie etwas davon mitbekamen, nickte Paul den beiden zu und öffnete die angelehnte Tür zu Prince Wohnung.
Seit dem letztem Mal, dass er in ihr gestanden hatte, waren ungefähr vier Tage vergangen. Der Aufbau hatte sich in der Zwischenzeit radikal geändert. Ein milchiger, leicht durchsichtiger Plastikvorhang grenzte etwa ein Viertel des Wohnraumes ein. Darin befand sich das Labor, in dem Prince sein Meth synthetisierte. Die Fläche dieses Labors war mindestens auf die doppelte Größe angewachsen. Um diese Expansion zu ermöglichen, hatte Prince die Wand eingerissen, die das Schlafzimmer von Svenja und Natascha von seiner Wohnung getrennt hatte. Das ehemalige Schlafzimmer der Frauen diente Prince als zusätzliche Arbeitsfläche.
Ein Mann mit weißem Kittel, Haarnetz und Atemschutzmaske trat Paul entgegen.
Im Vorbeilaufen erhielt Paul von ihm eine Einweg-Atemschutzmaske, sowie ein paar Sätze, die der Mann unverständlich in den riesigen Filter seiner Maske nuschelte.
Auf Pauls verwirrten Gesichtsausdruck hin, deutete der Mann auf die Schiebetür zum Balkon und führte mit seiner Hand imaginäres Essen Teller zu seinem Mund.
Paul nickte verstehend und begab sich auf den Balkon. Der Mann schüttelte den Kopf, zog sich Plastikhandschuhe über die Hände und trat durch den Vorhang hindurch an einen großen, blubbernden Holzbottich.
Prince hatte es sich auf extravaganten Gartenmöbeln bequem gemacht. Sie wollten ganz und gar nicht zum restlichen trostlosen Aussehen des Balkons passen. Er war gerade in ein Gespräch an seinem Handy vertieft, während er sich eine dicke Zigarre genehmigte. Die Geschäfte schienen zu florieren.
Sobald er Paul bemerkte, nickte er ihm knapp zu. Mit der freien Hand deutete Prince auf eine zwanzig Doughnuts zählende Schachtel, die in der Mitte eines aufwendig verzierten Edelmetalltisches stand. Paul bedankte sich mit einer unverbindlichen Geste und nahm seinem Freund gegenüber Platz.
Prince steigerte sich in das Gespräch hinein. Paul bemerkte indessen, wie hungrig er eigentlich war. Sein Magen grummelte wie ein hungriger Bär. Bis das Telefonat zehn Minuten später seitens Prince für beendet erklärt wurde, hatte der Doughnut-Bestand der Schachtel einen Verlust von sieben Teigwaren zu vermelden.
Ein erstes Sättigungsgefühl setzte bei Paul ein. Er lehnte sich zurück und genoss die Wärme der inzwischen wohltuend scheinenden Herbstsonne auf seinem Gesicht.
»Ist genug da, um deine Gier zu sättigen? Oder schmecken sie dir nicht? Immerhin hast du nicht einmal die Hälfte vernichtet?« grinste Prince sein Gegenüber schelmisch an.
Paul erwachte daraufhin aus seiner sonnenanbetenden Starre und blinzelte Prince dämlich entgegen.
»Doughnuts schmecken immer. Daran kann man schwerlich etwas falsch machen Prince. Von dem her bin ich gerade vollauf zufrieden.«
Prince nahm eine Kaffeekanne und goss zwei Tassen mit dem Logo der Chicago Bulls voll. Neben dem Geschäft waren die Bulls das beliebteste Gesprächsthema der beiden. Wie verlaufen die Playoffs? Wer wird die Mannschaft wechseln? Wird Derrick Rose wieder fit werden? Das waren die häufigsten Fragen, die inzwischen jede Menge Antworten kannten.
Es war klar ersichtlich, dass Prince etwas Anderes loswerden wollte, anstatt sich mit Paul über Sport zu unterhalten. Für gewöhnlich war er ruhig und gelassen. Heute vielmehr aufgedreht und hibbelig, wie ein kleines Kind vor der weihnachtlichen Bescherung.
Paul beobachtete ihn genau über den Rand seiner Tasse hinweg. Er nahm einen großen Schluck und dann platzte die Bombe.
»Ich brauche mehr Zeug von dir Paul.«
Paul prustete den Inhalt seines Mundes quer über den Balkon. Er verschluckte sich hörbar und musste die Tasse abstellen. Mit der Faust klopfte er sich mehrfach gegen die Brust.
»Wofür brauchst du mehr?« brachte er krächzend hervor. »Deine Wohnung ist zu einem Labor mutiert. Sogar Teile deiner Nachbarn hast du inzwischen in Beschlag genommen. Was ich dir die Woche über abzweige, sollte dich locker über die Runden bringen.«
Paul hatte einen hochroten Kopf von seinem Hustanfall. Er versuchte eine ernste Miene aufzusetzen, was ihm nicht im Ansatz gelang. Auch er hatte öfters mit dem Gedanken gespielt mehr mitzunehmen, hatte Prince den Vorschlag aber nicht unterbreiten wollen. Am Ende dachte er noch das Reagenz sei viel zu leicht zu bekommen.
»Man muss jetzt in größeren Dimensionen denken. Ich will nicht mehr der kleine Gangster sein, der die paar Blocks hier versorgt. Ich will expandieren. Ein zweites Labor, direkt im Herzen von Chicago. Ich habe im Loop eine passende Unterbringung gefunden.«
Der zweite Schock.
Mit Loop meinte Prince den Downtown-Bezirk Chicagos, bei dem es sich nach Manhatten um den zweitgrößten Geschäftsbezirk in den Vereinigten Staaten handelte. Dort standen Wolkenkratzer an Wolkenkratzer, die von den wichtigsten Firmen der Welt besetzt wurden.
»Du willst das Zeug im Loop herstellen? Bist du verrückt?« brachte Paul aufgebracht hervor. Hier als kleiner Gangster mit seinen beiden geschmierten Cops würde Prince von niemandem etwas zu befürchten haben. Der Loop hingegen war Wahnsinn.
»Genau das ist mein Plan. Ich kann den Stoff dort praktisch direkt aus dem Fenster in die Menschenmassen regnen lassen, um sie zu meinen sabbernden Marionetten zu machen.«
Ein zweites Labor.
Im Loop.
Es war passiert. Prince war größenwahnsinnig geworden. Die größte Schwäche des Menschen hatte letztlich von ihm Besitz ergriffen und würde ihn unweigerlich in den Abgrund ziehen.
Die Gier.
Paul wollte lachen, damit er irgendeine Reaktion zeigte, doch er war zu geschockt von dem soeben Gehörten. Fassungslos sah er Prince an. Der starrte unbeholfen zurück. Es war unübersehbar, dass er mit einer komplett anderen Reaktion gerechnet hatte. Beide kämpften mit der aufkommenden Stille, bis Prince einfach nicht mehr stillschweigen konnte und weitererzählte.
»Du weißt, dass ich kein Idiot bin Paul.«
Paul schnaufte, verurteilte ihn in Gedanken als ebensolchen. Prince war der Einzige auf dem Balkon, der seiner Aussage Glauben schenkte.
»Ich allein würde das nie tun. Ich habe einen neuen Partner, der sich damit auskennt. Er hatte früher ein Labor in dieser Region der Stadt. Nach drei Jahren wurde es zwar von der Polizei auseinandergenommen, aber bei ihrer Ankunft konnten sie zu ihrer Enttäuschung niemanden verhaften. Es befand sich nämlich keine Menschenseele mehr dort. Dazu besitzt mein Partner zu viele Kontakte, die ihm etwas durchsickern lassen.«
»Wer sagt, dass der nächste Polizeibesuch genauso verlaufen wird? Der scheiß Loop verdammt! Unter dir Anwälte, über dir reiche Geschäftsleute und ihr hantiert mit explosiven Gemischen zwischen ihnen. Hat dein neuer, toller Partner dir in dein Hirn geschissen?«
Paul war nicht mehr zu halten. In gewissem Maße fühlte er sich verantwortlich für Prince. Etwa wie ein großer Bruder für seinen kleinen. Wie leichtfertig und gerne dieser anscheinend wieder ins Gefängnis wollte, ließ bei Paul jede Sicherung durchbrennen.
Prince öffnete den Mund, schloss ihn dann allerdings wieder ohne etwas zu sagen. Er wollte Pauls Stimmung nicht unsinnigerweise weiter hochschaukeln. Stattdessen nahm er Pauls Meinung mit einem stummen Nicken hin.
Ein weiterer Moment der Stille trat ein, bevor Prince ruhig weitersprach. Seine Stimme klang wie die eines schuldbewussten Kindes.
»Die Sache läuft bereits. Mein Partner hat sich um entsprechende Leute sowie Räumlichkeiten gekümmert. Jedoch ist das volle Potential des Labors noch nicht ausschöpfbar. Dazu fehlen uns momentan fünfhundert Milliliter deines Wundermittels. Vierhundert bekommen wir auf anderen Wegen. Alles was von dir benötigt wird sind läppische einhundert weitere Milliliter.«
Vor lauter Wut über die Dummheit von Prince hatte Paul vergessen um was es eigentlich ging.
Prince wollte mehr Phenylaceton.
Mehr für ihn hieß gleichzeitig mehr für Paul.
Doch das bedeutete im Umkehrschluss ebenfalls, dass er das neue Projekt unterstützen würde.
»Volldepp.« zischte Paul durch geschlossene Zähne.
»Heißt das, dass du dabei bist?«
Prince Augenbrauen zuckten drei Mal schnell in die Höhe. Er begann über das ganze Gesicht zu stahlen, denn er wusste, dass Paul in diesem Moment an Bord sprang. Auch wenn dieser es sich noch nicht eingestand.
»Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen, oder? Und zwanzig Milliliter mehr am Tag kann man verkraften. Außerdem wissen wir beide, dass erst das Phenylaceton dein Crystal von dem der anderen abhebt.«
Plötzlich begann Prince zu kichern. Paul versuchte sich zu erklären, was an seinem letzten Satz so komisch gewesen sein sollte, kam allerdings nicht dahinter. So blieb ihm nichts Anderes übrig als schmollend und mit ernster Miene darauf zu warten, dass sein Gegenüber wieder zu Atem kam.
»Spaßvogel.« kicherte Prince vor sich hin und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich rede von einhundert Milliliter extra pro Tag, mein korpulentes Schmalzlöcklein.«
Er nahm sich den letzten Doughnut mit Schokoglasur, was Paul unterbewusst verärgert zur Kenntnis nahm. Grinsend setzte Prince hinzu: »Das mit dem Zeug stimmt. Ich will nicht wissen wie viele Kunden weniger bei mir anklopfen, wenn wir denen den Scheiß ohne dein Zeug andrehen würden.«
Paul sah zwar, wie sich der Mund von Prince bewegte, doch er vernahm die Worte nicht mehr. Einhundert mehr pro Tag. Einen halben Liter mehr jede Woche.
Allerdings stellte das auch siebenhundertfünfzig Dollar an zusätzlichen Einnahmen dar.
Paul wog in Gedanken ab, ob dieser Gewinnzuwachs das erhöhte Risiko übertrumpfte.
»Das kann ich nicht tun Prince. So leid es mir tut, da verlangst du zu viel von mir.« stammelte Paul fast flüsternd. Prince war immer noch von Pauls Blauäugigkeit amüsiert. Sachlich fuhr er fort. Der gehobene Wortschatz wurde zu Tage gefördert. Es war nicht länger Prince der Giftmischer, dem Paul zuhörte, sondern Prince F. Craigin, der seriöse und routinierte Geschäftsmann.
»Paul, Paul, Paul. Ich weiß, dass diese Erhöhung der Liefermenge einen immensen Anstieg deines Risikos birgt. Daher bleibt mir gar nichts anderes übrig, als es entsprechend zu honorieren. Zusätzlich zu deinen fünfundsiebzig Dollar pro fünfzig Millilitern biete ich dir fünf Prozent meiner Einnahmen an. Und das weil du das einzige Weißbrot auf der Welt bist, dem ich vertraue.«
Paul vernahm die Worte, konnte sie jedoch nicht verarbeiten. Es ging alles zu schnell.
Hunger.
Er brauchte einen Doughnut.
Seine Hand schoss nach vorne. In Windeseile schlang er drei weitere Exemplare nahezu gleichzeitig in sich hinein. Unbeirrt sprach Prince weiter, obwohl er von den unmenschlichen Fressgewohnheiten seines Freundes nicht gerade angetan war.
»Sieh her. Allein diesen Monat habe ich knapp fünfundsechzigtausend Dollar gemacht. Bar und steuerfrei. Ich denke du kannst selbst deinen Anteil ausrechnen. Denk daran, dass er steigen würde, wenn die Ware aus dem neuen Labor ihren Abnehmer findet. Wir stellen dort fast doppelt so viel her wie ich es hier zurzeit kann und teilen vierzig zu sechzig mit meinem Partner. Weil er sich dort um das meiste kümmert. Die Cops schmiert und den ganzen Kram.«
Prince lehnte sich zurück, klatschte zufrieden in die Hände und machte eine auffordernde Geste gegenüber Paul sich zu dem Vorschlag zu äußern. »Was denkst du Paul? Bist du dabei?«
Der hockte da und blickte abwechselnd von Prince zu dem weißen Vorhang vor dem Labor, den er aus dem Augenwinkel sehen konnte. Dann bewegte sich sein Kopf unsicher hoch und runter. Im nächsten Moment wanderte er von rechts nach links. Es fühlte sich für ihn an, als hätte er seine Zunge verschluckt, weshalb er sich regelrecht abmühen musste, um die nächsten Sätze über seine Lippen zu bekommen.
»Ich kann dir nichts versprechen Prince. Vielleicht werde ich es morgen versuchen, vielleicht nicht. Vielleicht bin ich am Freitag im Gefängnis, vielleicht sage ich dir zu. Mehr Sorgen mache ich mir eigentlich um dich. Denn bevor die Polizei mich in einen Betonbunker verfrachtet ist dein Arsch dran.«
Prince winkte mit einer Hand ab. Unterdessen beförderte die andere eine bisher für Paul unsichtbare Flasche Rum auf den Tisch.
»Wir treffen uns nachher mit einem Handlanger meines Partners. Dort erhalte ich die letzten Anweisungen. Komm einfach mit und hör dir an, was er zu sagen hat.« schlug Prince vor und nahm die Kaffeetassen. Mit einer schnellen Handbewegung schüttete er die darin befindlichen Reste über den Balkon auf die Straße. Beide Tassen wurden anschließend mit dem klaren Rum aus der Flasche befüllt.
»Auf den bevorstehenden Wohlstand.« prostete Prince Paul zu.
»Noch bin ich nicht sicher dabei. Wer ist überhaupt dein Partner?«
Sie stießen an und beide leerten die Tassen ohne mit der Wimper zu zucken. Auch wenn es innerlich beide danach verlangte, dass sie sich schüttelten.
»Das siehst du dann heute Abend. Wir treffen ihn bei einem Benefizspiel. Die Bears spielen gegen die Colts.«
Beide Tassen wurden von Prince erneut aufgefüllt.
Paul nickte. Geistesabwesend schweifte sein Blick über das Viertel unter ihnen. Von oben lächelte die Sonne auf die beiden Freunde herab. Das Thema war abgehakt. Paul so gut wie an Bord. Es war knapp elf Uhr an einem Mittwochmorgen, an dem der heißte Planet angenehm auf Chicago herabschien.
Zwei Freunde, deren beider Vergangenheit nicht unterschiedlicher sein könnte, saßen auf dem Balkon mit Blick auf die Skyline von Chicagos Loop und betranken sich mit Rum aus Kaffeetassen.
Go Bulls.