Sechsunddreißig
Sie hielten im sechsten Stock. Dort verließ eine ältere Dame den Aufzug, die neben Prince und Paul die einzige andere Person in ebendiesem war. Sie hinterließ eine Duftwolke ihres eigentümlichen Parfüms, das Paul an den Geruch von Mottenkugeln erinnerte.
Er hatte Prince so vieles zu berichten. In dem anfänglich vollgestopften Fahrstuhl wagte Paul allerdings kein Wort von seinem neu erlangten Wissen preiszugeben. Gemächlich schleppte sich der Aufzug weiter nach oben, ohne, dass jemand hinzustieg.
»Weißt du wo sie mich hingebracht haben, Prince?« flüsterte Paul aufgeregt.
»Verdammt nein. Niemand wollte mir etwas sagen! In dem Moment, in dem ich dich in einem Stück aus dem Auto habe steigen sehen, ist mir ein riesiger Stein vom Herz gefallen! Zwischenzeitlich hatte ich Szenen aus „Sieben“ vor Augen und dachte, Alessio steigt aus und übergibt mir eine Schachtel mit deinem scheiß Kopf.«
Dass Paul noch vor nicht allzu langer Zeit ein ähnliches Ende für sich vorhergesehen hatte, behielt er an dieser Stelle für sich.
»Ganz so schlimm war es dann auch wieder nicht. Und Giovanni Estraga entpuppte sich als ganz netter Zeitgenosse. Danke für die Warnung übrigens.«
Prince hielt sich gespielt unschuldig eine Hand vor den Mund. Paul schenkte ihm ein schwaches Grinsen und nickte in Richtung des siebenundzwanzigsten Etagenknopfes neben der Türe. Der gab mit einem leichten, blau pulsierenden Licht das Ziel der Reise preis.
»Was erwartet mich dort oben?«
»Das siehst du dann. Erzähle mir lieber wo sie dich vorhin hingebracht haben.« forderte Prince seinen Freund mit weit aufgerissenen Augen auf. Er konnte es nicht fassen, dass Paul so lange benötigte um mit der Sprache herauszurücken.
»Er hat mich zum Palast von Giovanni gebracht.« teilte Paul ihm gelangweilt mit, als handle es sich dabei um die normalste Sache der Welt.
»Was? Warum das?« wollte Prince stirnrunzelnd wissen.
Gerade wollte Paul zu einer Antwort ansetzten, da stoppte ihr Aufstieg unvermittelt im neunzehnten Stock und zwei Anwälte in ihren teuren Maßanzügen betraten den Fahrstuhl. Nachdem klar wurde, dass die beiden mit sich selbst und den Unterlagen, die sie in den Händen mit sich führten, vollauf beschäftigt waren, fuhr Paul mit gedämpfter Stimme fort.
»Er hat mich zum Spaghettiessen eingeladen.«
»Halt deinen Mund. Wenn du mir nichts erzählen möchtest, dann sag es einfach.«
»Ehrlich!« prustete Paul, was ihm missbilligende Blicke der beiden Anwälte einbrachte, die sich in ihrer Arbeit gestört fühlten. Ein ungleiches Blickduell mit Prince brachte sie sogleich wieder dazu ihre Köpfe zusammenzustecken und weiter in gedämpftem Tonfall über ihre Arbeitsunterlagen zu diskutieren.
»Was wollte er?«
»Er wusste alles.« zischte Paul durch zusammengekniffene Zähne.
»Hat er dich nach dem Geld gefragt?« platze es laut aus Prince heraus, woraufhin einer der Anwälte genervt Luft durch die Nase ausstieß und auf den Knopf des dreiundzwanzigsten Stockwerkes drückte.
»Ich hatte mal einen Anwalt, der ähnlich schnaufte. Das war immer dann der Fall, wenn ich ihm versicherte, dass ich unschuldig sei. Seitdem sind seine Gesichtszüge für immer auf dem Metalltisch des Besprechungsraumes verewigt. Das Ganze erinnert ein wenig an eine Reliefkarte des Mariannengrabens.« ließ Prince die beiden Anwälte wissen, die bei der plötzlichen lauten Stimme erschrocken zusammenzuckten und sich instinktiv nach einem Schutz bietenden Unterschlupf umsahen.
»Sein Anwalt hatte eine extrem große Nase.« erklärte Paul den beiden entsetzt dreinblickenden Männern. Prince verzog derweil keine Miene. Mit funkelnden Augen starrte er die beiden in Grund und Boden.
Wie zu Salzsäulen erstarrt standen die Anwälte Prince gegenüber. Die Hand eines Mannes glitt in Zeitlupe zu dem rettenden Knopf mit der Nummer Dreiundzwanzig. Der Finger hämmerte in dem Verlangen auf ihn ein, dass es die Fahrt des Aufzuges beschleunigte. Es war unübersehbar, dass er sich keine Sekunde länger als nötig in einem Raum mit Prince befinden wollte.
Kaum ertönte der leise Gong, der die Ankunft in ihrem Stockwerk verkündete, hechteten sie aus dem Aufzug hinaus. Das Gelächter von Paul und Prince begleitete sie auf ihrer Flucht.
»Hat er dich nach dem Geld gefragt?« versuchte Prince es mit Tränen in den Augen erneut, nachdem die Tür des Aufzugs sich wieder geschlossen hatte.
»Die Vermutung liegt nahe. Schließlich hat Alessio uns von der Bank abgeholt, oder?«
Der Aufzug stockte abermals. Dieses Mal allerdings an ihrem Zielort, im siebenundzwanzigsten Stock. Die Türen glitten auseinander und gaben den Blick auf eine luxuriös gestaltete Eingangshalle frei. Der gesamte Boden des Zimmers war mit purpurrotem Teppich ausgelegt. Die Wände waren in schlichtem Weiß mit goldenen Verzierungen gehalten. Für Wartende befanden sich dort drei einladende Stühle mit bequem anmutenden Sitzpolstern.
Hinter einer riesigen Rezeption aus edlem Holz blickte eine dekorative Empfangsdame von ihren Unterlagen auf und schleuderte ihnen ihr weißes Lächeln entgegen. Bevor Paul die Chance bekam es zu erwidern, schob sich der massive Körper von Prince in sein Sichtfeld und verdeckte Paul den freien Blick auf die junge Dame.
»Gut oder schlecht?« verlangte er mit leiser Stimme und ernstem Blick zu wissen.
»Von beidem ein bisschen, schätze ich.« versuchte Paul ihn zufrieden zu stellen und an ihm vorbei zu schielen. Er musste sichergehen, dass er diese Frau dort gerade tatsächlich an der Rezeption gesehen hatte.
»Geht das ein bisschen genauer?«
»Wer ist das?«
»Hey!« zischte Prince und gab Paul, der ganz offensichtlich nur noch physisch anwesend war, eine Ohrfeige die ihn zurück in die Realität beförderte.
»Was soll das?« stieß Paul ungläubig hervor. Angesichts des brennenden Schmerzes auf seiner Wange schüttelte er vollkommen verwirrt den Kopf.
»Konzentriere dich und weine nicht wegen dem kleinen Klaps. Was genau hat Giovanni dir gesagt?«
»Ein kleiner Klaps? In meinem Kopf hallt das Echo noch immer wieder, wie deine Handfläche meine Wange kurzzeitig deformiert.«
»Ja, ein kleiner ...« weiter kam Prince nicht, weil die Hand von Paul gegen die rechte Wange seines Freundes klatschte.
»Mach nicht so. Das war doch nur ein kleiner Klaps.« ahmte Paul die Stimme seines Freundes nach, der ihn zunächst fassungslos ansah. Dann prustete er los.
»Na komm schon, Paul. Klär mich auf.« forderte Prince seinen Freund auf, der einen letzten sehnsüchtigen Blick in Richtung der Rezeptionistin warf.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie sich vollauf mit einem Telefonat beschäftigte, fasste Paul die Fahrt mit Alessio und seinen anschließenden Besuch bei Giovanni leise für Prince zusammen. Paul endete mit der Warnung von Giovanni, dass womöglich ein ganzer Haufen Leute genau in diesem Moment hinter ihm her waren. Prince atmete laut hörbar und lange aus.
»Uff. Das hat er mit diesen Worten gesagt?« wollte er wissen, sich mit der Hand nachdenklich über den Kopf fahrend. Prince hatten offenkundig genau dieselben Probleme, damit diese Nachricht zu verdauen, wie Paul sie vor kurzem hatte.
»Sinngemäß, ja.«
»Alles klar. Hier ist der Plan: Ich zeige dir jetzt, warum ich dich hier hochgebracht habe und danach kümmern wir uns um dein Problem, einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Dann komm mal mit du kleine Schwabbelbacke.«
Paul verdrehte die Augen und folgte Prince, der auf eine schwere Holztür neben der Rezeption zusteuerte. Die Rezeptionistin warf ihnen im Vorbeigehen wieder dieses Lächeln zu, das Paul mehrere Tage nicht schlafen lassen würde. Dann stieß Prince die Tür zur Hölle auf, die von diesem zierlichen Engel bewacht wurde.
***
»Sind sie noch da drin?«
Der Zeigefinger des Captains deutete in Richtung des Gebäudes, in dem Prince und Paul vor einer knappen Viertelstunde verschwanden.
»Sie sind zumindest nicht mehr durch die Vordertür hinausspaziert.« teilte Todd ihm mit einem Achselzucken seine Beobachtung mit. Thompson wirbelte auf dem Absatz um die eigene Achse und war seinem Untergebenen einen Blick zu, den man sonst von einem tollwütigen Pitbull erwarten würde.
»Hat jemand eine Ahnung, was die beiden da drinnen verloren haben?« fragte ein Weiterer der korrupten Bande, der gerade eingetroffen war.
»Nein. Angeblich hat der Giftpanscher da drinnen etwas am Laufen. Genaueres konnten wir nicht in Erfahrung bringen.« antwortete der Captain und fuhr sich in Gedanken versunken über die Bartstoppeln. Die Angst, das Geld für immer zu verlieren, raubte ihm offenbar neben dem Schlaf auch die Zeit für die ansonsten penible Morgenrasur. Er sah sich um und vergewisserte sich, dass alle anwesend waren. Alle bis auf Coleman. Thompson wollte Todd deshalb gerade an die Kehle springen, da stieß Steve zu der Gruppe hinzu.
»Sie sind entweder im neunzehnten, dreiundzwanzigsten oder siebenundzwanzigsten Stock.« teilte Coleman seinen Kollegen mit. Der wahnsinnige Blick des Captains begegnete ihm. Einen qualvollen Augenblick traute sich keiner der Anwesenden etwas zu sagen.
»Entferne dich noch ein Mal weiter als fünf Meter von Todd und ich weide dich auf offener Straße aus.« warnte der Captain ihn und spuckte auf den Boden. Es gab keinen Zweifel daran, dass er es genauso meinte, wie er es gesagt hatte. »Wir gehen folgendermaßen vor: Clive findet heraus, ob es einen Hinterausgang gibt. Falls ja, bewacht er ihn. Gib uns Bescheid.« Clive, ein kleiner drahtiger Kerl, nickte und trabte in Richtung des Gebäudes davon. »Der Rest wartet hier in den Wagen und behält den Haupteingang im Auge. Ich gehe rein und sehe mir die Stockwerke an.«
***
Nach dem prunkvollen Eingangsbereich hätte Paul niemals erahnen können, was ihn in den anderen Räumlichkeiten erwarte. Und genau in dieser Verschleierungsfunktion bestand der angedachte Zweck.
Die schwere Türe hatte den Weg in einen großen Raum freigegeben, der provisorisch in einzelne Abteile untergliedert war. Es gab Bereiche, in denen Leute an übergroßen Kochtöpfen standen. Andere lungerten an langen Tischen herum und befüllten kleine, durchsichtige Plastiktütchen.
Allesamt hatten sie Plastikkittel über ihre normale Kleidung gestreift, trugen Einweghandschuhe an ihren Händen und hatten Atemschutzmasken vor ihren Mund gespannt. Von denen zog Prince sich gerade eine über und forderte Paul mit einem Fingerzeig auf einen Stapel Masken dazu auf es ihm gleich zu tun.
Das Labor im Loop war Realität geworden. Stolz führte Prince seinen Freund durch sein neues Reich, wobei schnell klar wurde, dass er hier weit über das eigentliche Ziel hinausgeschossen war. Der anfängliche Gedanke, mehr Meth zu produzieren, hatte sich erweitert auf das Strecken von Heroin, Koks, Crack und kleinen Tütchen mit chinesischen Schriftzeichen, von denen Paul nicht wissen wollte, was sie beinhalteten.
»Was denkst du?« fragte Prince begeistert.
»Ich halte es immer noch für eine schlechte Idee, Prince.«
»Warum denn? Was genau soll schief gehen mit Giovanni, der meinen Rücken deckt?«
»Weißt du das so genau?«
»Ich werde es dir beweisen. Diese Leute, die hinter dir her sind. Ich regle das mit ihm.« verkündete Prince und hatte sein Handy zur Hand. Paul versuchte noch ihn zum Auflegen zu bringen, doch Prince wehrte ihn mit einer Hand ab.
Sie traten gerade wieder hinaus aus dem zum Labor umfunktionierten Büro, als eine hitzige Diskussion zwischen Prince und Giovanni entbrannte. Allem Anschein nach war der nicht wirklich von Prince Forderung angetan, dass er sich den Verfolgern von Paul annehmen sollte. Nachdem es knapp fünf Minuten hin und her ging, erstach Prince das Display seines Handys und beendete das Telefonat.
»Siehst du? Wie ich gesagt habe. Kein Problem. Er kümmert sich darum.«
Pauls rechte Augenbraue wanderte zweifelnd in die Höhe. Seine Gedanken behielt er für sich. Der Blick, den die junge Dame an der Rezeption aufsetzte, ließ erkennen, dass sie ebenfalls nicht allzu überzeugt war. Hinzu kam die allzu frische Erinnerung an das Gespräch mit Giovanni, welche Paul in seinem Glauben bekräftigte, dass nichts passieren würde. Dazu hatte Giovanni ihm seine Situation deutlich vor Augen geführt.
»Pass auf Paul, ich muss mich hier noch um ein paar Dinge kümmern. Wie wäre es heute Abend mit dem Spiel? Die Bulls spielen gegen Miami und ich könnte jemanden ein paar Karten auftreiben lassen.«
»Wann ist das Spiel?«
»Um Acht ist Tip-Off.«
»Um sieben am Stadion?«
»Um sieben am Stadion.«
Sie verabschiedeten sich mit ihrem mittlerweile rituellen Handschlag. Dann war Prince wieder im Labor verschwunden.
Paul betätigte den Knopf, mit dem er den Fahrstuhl in sein Stockwerk rufen konnte. Auf der digitalen Anzeige über der Aluminiumtüre beobachtete er, wie er sich in seine Richtung empor schob.
Kurz bevor er angekommen war, drehte sich Paul nochmals zur Rezeptionistin um, um sich höflich von ihr zu verabschieden. Sie war mittlerweile allerdings in ein Telefongespräch verwickelt und schenkte Paul keine Beachtung mehr.
Der Gong ertönte, als der Aufzug das Stockwerk erreichte. Den Blick nach hinten gewandt, stieg Paul in den Fahrstuhl ein und prallte in einen heraussteigenden Gast.
»Obacht médico.« wurde Paul von Alessio gewarnt und kraftvoll nach hinten gestoßen. »Giovanni meinte ich soll heute Mittag auf dich aufpassen, bis dieser Gangster sich deiner wieder annehmen kann.«
Siehe da, so kann man sich irren.
»Da fühle ich mich gleich sicherer.« brachte Paul mit Not heraus. Alessios Hand hatte ihn perfekt auf den Solarplexus getroffen. Auf seinen Knien aufgestützt, rang Paul nach Luft. »Was genau hast du denn geplant?«
»Bin ich dein scheiß Reiseleiter? Soll ich dir den Navy Pier zeigen? Ich mag dich médico. Aber pass auf, wie du mit mir sprichst. Mir reicht, dass ich den Babysitter spielen muss.« brach der Zorn mit einem Mal aus Alessio heraus. Paul traf diese Stimmungsschwankung vollkommen unvorbereitet. Er hatte seine Frage eigentlich eher scherzhaft gestellt.
Noch bevor er eine Entschuldigung stammeln konnte, war Alessios Aufmerksamkeit allerdings auf die Besetzung der Rezeption gefallen. In dem Moment, in dem der Mafioso zu ihr hinüberflanierte und sie mit Komplimenten überhäufte, wurde das Telefongesprch der Dame zur Nebensache degradiert.
Paul lehnte gegen die Wand und wartete bis seine Lunge wieder ihre volle Funktionsfähigkeit wiedererlangt hatte. Der Mafioso stützte sich derweil lässig auf die Rezeption auf und unterhielt sich mit der Empfangsdame.
»Wir hatten vorhin kein Dessert nach den Spaghetti. Wie wäre es mit einem Eis?« brachte Paul schließlich hustend über seine Lippen.
»Ganz ehrlich, du hast vorhin gefressen für fünf. Denkst du, dass es ratsam wäre jetzt noch Süßigkeiten in dich hineinzustopfen? Ich will nicht, dass du mir während meiner Wache an einem Infarkt verendest.«
Anstelle einer Antwort erhielt Alessio ein Schulterzucken, was ihn ungläubig die Augen rollen und den Kopf schütteln ließ.
»Ganz in der Nähe hat ein Freund eine kleine gelateria. Das ist wenigstens mit frischen Früchten hergestellt und keine Chemiepampe.« an die Rezeptionistin gewandt sprach er weiter, »Wir beide sollten eines schönen Tages einen kleinen Abstecher dorthin unternehmen.« was sie erröten und schüchtern kichern ließ.
Wenn sie wüsste.