Fünfzehn
Steve Coleman kam an diesem Tag früher als gewöhnlich in die Bar geschlendert. Normalerweise stieß er die Tür zum Foq gegen Mitternacht auf. Heute war es erst halb sieben.
Das warf Scott Sorgenfalten auf die Stirn. Denn sollte der Detective vorhaben, in seinem üblichen Tempo die Drinks in sich hineinzukippen, würde sein Stammkunde den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr durch das verschmierte Fenster neben der Tür bewundern können.
Das Fog war für diese Uhrzeit am Dienstagabend recht gut besucht. Auf den zehn Hockern am Tresen saßen sieben Leute, drei davon als Fässer ohne Boden bekannt. Die fünf Sitzecken an der Wand gegenüber des Tresens waren alle besetzt. Manche waren sogar so mutig und hatten etwas zu Essen bestellt.
»Guten Abend Scott.«
»Abend Steve. Das Übliche zum warm werden?«
Sie schüttelten sich gegenseitig die Hände, wobei jeder versuchte den anderen in seiner Männlichkeit zu übertrumpfen und fester als sein Gegenüber zuzudrücken. Coleman ließ los, als die Knöchel seiner Hand laut und unangenehm knackten.
»Auf jeden Fall. Allerdings bekomme ich heute einen Dreifachen.« bestellte Coleman und hob dem Barmann dabei drei der schmerzenden Finger ins Gesicht.
»Gibt es etwa etwas zu feiern? Du hast nicht zufällig Geburtstag, oder?«
Scott grinste ihn an und schwang sich ein Geschirrhandtuch über die Schulter, mit dem er gerade Gläser abgetrocknet hatte. Eifrig machte er sich daran, Coleman einen dreifachen Gin Tonic zuzubereiten.
»Darf es noch etwas sein? Vielleicht einen Tee Queen Mum?« witzelte Scott und er setzte den Drink vor Steve auf einen Deckel. Besser gesagt den Deckel der gestrigen Nacht.
Coleman war des Witzes mittlerweile überdrüssig, doch er nahm ihn wie jedes Mal mit einem Lächeln hin. Gin Tonic war das Lieblingsgetränk der Queen Mum gewesen, weshalb Scott sich des Öfteren zu abfälligen Bemerkungen hinreißen ließ.
Coleman fiel in diesem Moment der Deckel ins Auge, auf dem sein Drink platziert worden war. Er war über und über mit Strichen und Zahlen bedeckt. Im unteren rechten Eck stand das immense Ergebnis einer Aufsummierung, das mehrfach unterstrichen worden war. Ein wenig erweckte es den Anschein eines abstrakten Kunstwerkes.
»Was zur Hölle ist das da?« wollte er wissen und zeigte dabei erheitert glucksend auf das Stück Pappe unter seinem Drink.
»Das ist die Liste aller Getränke, die du letzte Nacht in dich hineingeschüttet hast. Zuzüglich des Gin Tonic von gerade eben.«
Durch die lautstarke Belustigung Colemans hatte bis zur letzten Sitzecke jeder die Szene mitbekommen und so erntete ein verdutzt dreinschauender Coleman nun die Lacher der ganzen Kneipe.
Steve warf Scott einen entsetzen Blick zu, während die allgemeine Heiterkeit im Raum nicht abebben wollte.
»Das müssen an die siebzig Striche sein. Wie soll ein Mensch all das alleine in einer Nacht trinken?« fragte Coleman mit leicht gerötetem Kopf ungläubig.
»Gar nicht. Du hast Gott und die Welt auf einen Drink eingeladen. Was du vor dir siehst ist das Resultat.« prustete ihm Scott entgegen.
»Dreihundert scheiß siebenundsechzig Dollar Scott? Wie kannst du so etwas zulassen?«
»Immer langsam. Du warst gestern ganz und gar unsteuerbar. Selbst wenn hier Jimmy Savile hereinspaziert wäre, hättest du ihm einen ausgegeben und versucht ihn anzugraben.«
Scott hob nacheinander die Gläser der vor ihm sitzenden Kundschaft an, wischte den Tresen mit einem nassen Lappen ab und füllte die kleinen Schälchen mit Erdnüssen auf, bevor er schelmisch hinzufügte. »Und ich rede von der alten, verbrauchten Version.«
»Lass es gut sein Scott. Du bekommst dein Geld.« resignierte Steve und griff beherzt nach den Nüssen. »Ich werde heute Nacht einfach für dreihundert beschissene siebenundsechzig Dollar Erdnüsse in mich hineinstopfen.« bemerkte er mit drohendem Unterton, als die erste Hand voll Nüssen die Reise seine Kehle hinab antrat. Er sollte sein Ziel diese Nacht um dreihundertneunundfünfzig Dollar verfehlen.
Dafür allerdings den aktuellen Barrekord von sechs Schälchen Erdnüssen an einem Abend, um zwei erhöhen.
***
Gegen halb zwölf verließ Coleman den Tresen und begab sich auf den Heimweg. Ihm war hundeelend von der Menge Nüsse, die er in sich hineingestopft hatte. In seinem Magen hatten sie sich zu Steinen zusammengeformt, die unkontrolliert herumkullerten und ihm die schlimmsten Magenschmerzen seines Lebens bereiteten. So fühlte es sich zumindest für ihn an. Rollende Steine, die vom Seegang seiner Magensäure von einer Wand zur anderen getragen wurden und dort mit all ihrer Kraft gegen sie schmetterten.
Es war das erste Mal seit drei Monaten, dass Coleman seine Rechnung am selben Tag beglich, an dem sie entstand, und dazu vor Mitternacht der Bar den Rücken kehrte. Scott verabschiedete ihn spöttisch mit den Worten „bis gleich“, als Steve sich erhob.
Beim Verlassen der Bar stand auf der anderen Straßenseite ein schwarzer Ford mit getönten Scheiben. Steve nahm ihn nicht wahr, da in dem Wagen kein Licht brannte und er vollkommen unscheinbar aussah. Die beiden Insassen des Wagens zeigten hingegen großes Interesse an dem Mann, der gerade aus der Tür gekommen war. Unbeholfen versuchte Coleman seinen Mantel zu schließen, während er sich gleichzeitig seinen Bauch hielt. Wegen des Windes benötigte er dafür einige Anläufe.
Die Männer in dem Wagen fotografierten ihn einige Male, bis der Fotograf zufrieden mit den Ergebnissen war. Von Steve weiterhin unbemerkt, startete der Fahrer den Motor und der Wagen verschwand im Straßengewirr des Großstadtdschungels.
***
Obwohl die Bears den Colts im letzten Aufeinandertreffen kläglich unterlegen waren, schlugen sie sich an diesem Abend überraschend gut auf dem Rasen. Die Stimmung im ausverkauften Soldier Field war dementsprechend aufgeheizt.
Aktuell führten die Bears nach einem Touchdown und einem Field Goal mit zehn zu sieben. Die Colts würden das zweite Viertel allerdings an der eigenen vierzig Yard Linie beginnen, an der gerade Roy West, der Quarterback der Bears, im dritten Versuch eine Interception geworfen hatte.
Prince und Paul sahen sich auf ihren Sitzplätzen umringt von grölenden Fans, von denen einigen das Bier bereits zu Kopf gestiegen war.
Der Platz rechts neben Prince war noch immer unbesetzt. Sie hatten am Eingang drei Tickets erstanden und wie besprochen eines für ihren speziellen Freund am Schalter hinterlegt. Bisher hatte er den Weg zu ihnen noch nicht gefunden, was Prince mit abnehmender Restdauer des Spieles immer nervöser werden ließ.
Erst nach der Halbzeit nahm ein großer, gut gekleideter Mann wortlos neben Prince Platz. Er sah sich sorgsam um, bevor der sich seinem Sitznachbarn zuwendete.
»Buonasera signor Craigin.« grüßte er und zog dabei seine Lederhandschuhe aus, um Paul und Prince die Hand zu geben.
Er sah in Pauls Augen wie der typische Mafioso aus. Ein Gesicht mit harten, markanten Zügen, das von einem penibel gestutzten Bart umrandet wurde. Seine schwarzen Haare trug er kurz und modisch frisiert, was im Einklang mit seinem ganzen Erscheinungsbild stand. Er trug einen eleganten schwarzen Nadelstreifenanzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, darüber einen schlichten schwarzen Mantel, der ihm bis zur Mitte der Oberschenkel reichte.
Die Handschuhe erweckten einen gut gepolsterten Eindruck. Paul konnte sich denken, dass das eher an eingearbeitetem Quarz, als an irgendeinem wärmenden Futtermaterial lag.
Der Mann trug ein überheblich anmutendes Lächeln zur Schau. Es versprach seinem Gesprächspartner, dass er einem im einen Moment der beste Freund sein konnte und im anderen derjenige war, der dir das Messer bis zum Heft in den Rücken rammt.
»Guten Abend. Alessio richtig?« fragte Prince. Sie schüttelten sich die Hände.
»Corretto.« lautete die knappe Antwort des Mafioso, der dabei Paul die Hand gab und ihn verwundert beäugte. »Ist das dieser, come si dice, médico legale. Dieser Leichendoktor von dem du damals gesprochen hast?« erkundigte Alessio sich bei Prince, der daraufhin bejahend nickte und Paul vorstellte.
Zu jedem Wort, das der Mafioso sprach, bewegten sich seine Hände in fließenden Bewegungen und malten das Gesagte zusätzlich in die Luft. Paul fand ihn allein wegen seines exotischen Akzentes und der warmen Stimme sympathisch. Ungeachtet dessen, dass er wohl der gefährlichste Mann war, den er bisher in seinem Leben getroffen hatte.
»Gut. Ich bin hier, um zu hören, dass alles läuft wie geplant und dein Freund mit an Bord ist.«
Sein Blick ruhte dabei herausfordernd zu Paul, der ihm ein dämliches Lächeln schenkte. Sein Herz war ihm in die Hose gerutscht, als ihn diese kalten blauen Augen fixierten.
»Du willst gleich wieder gehen? Hast du annähernd eine Ahnung, was ich für die Karten bezahlt habe?« platze es in einer unglaublich hysterisch hohen Stimmlage aus Prince heraus, was einige Leute dazu brachte sich verwirrt nach ihm umzusehen.
»Calma e gesso, calma e gesso signor Craigin. Ich bin geschäftlich hier. Nicht um mir anzusehen wie sich zweiundzwanzig Männer die Köpfe für einen eiförmigen Ball einrennen. Das ist keineswegs böse gemeint. Die Wahrheit ist, dass mich dieser Sport zu Tode langweilt.« Er untermalte diese unverblümte Aussage mit einer beschwichtigenden Geste seiner Hände. Dabei sah er sich um, bis er sicher war, dass sich alle um sie herum wieder auf das Spiel konzentrierten. Seine Augen ruhten dann abermals, geduldig eine Antwort abwartend, auf Paul.
Die ersten Worte brachte Paul krächzend heraus und er musste schlucken, um seine normale Stimme wiedererlangen zu können.
»Ich bin an Bord Alessio. Ich habe mit Prince geredet und bin mir sicher, dass ich euch die benötigte Menge liefern kann.« versuchte Paul so selbstsicher wie möglich zu sagen.
»Dann ist meine Arbeit hier getan.« klatschte Alessio freudig in die Hände. »Der Boss wird sich noch mit dir in Verbindung setzen Craigin. Du wirst sicher mitbekommen haben, dass Federico Cuartado einen kleinen Unfall hatte und uns somit nicht die Hälfte, sondern alle Junkies der Stadt zu Füße liegen. Ach und dieser Wagen, den du unbedingt haben wolltest, wird morgen geliefert.« grinste Alessio.
Paul kam die Schlagzeile der heutigen Zeitung wieder in den Sinn: Mafiaboss stürzt von Hochhaus.
Damit wäre auch die Frage geklärt, ob es sich um einen Unfall oder Selbstmord gehandelt hatte.
Der Mafioso stand auf, streifte sich die Handschuhe wieder über und ballte die Hände zu einer Faust.
»Du bist in der neuen Obduktionshalle zu finden, oder Médico?« erkundigte er sich noch bevor er ging, ohne Paul dabei anzusehen.
»Ja.« erwiderte Paul. Hastig fügte er die Auskunft hinzu, dass er dort eher zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten anzutreffen war.
»Oh, das wissen wir. Keine Angst.« sagte der Mafioso mit einem Augenzwinkern, bei dem Paul nicht einordnen konnte, ob es belustigter oder böser Natur entsprang.
Alessio tippte sich zum Abschied mit Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe.
»Signor Craigin. Médico.«
Er stieg die Treppe zum Ausgang hinunter und war kurz darauf so plötzlich verschwunden, wie er zuvor aufgetaucht war.
»Krasser Typ.« flüsterte Paul seinem Freund ehrfürchtig zu. Beide starrten dem Mann mit großen Augen hinterher.
»Krasser Typ.« bestätigte Prince. »Wie kann man Football nicht mögen?« setzte er ungläubig den Kopf schüttelnd hinzu.
»Die Aussage beschäftigt dich von seinem Auftritt am meisten?« wollte Paul verdutzt wissen und zog dabei eine Braue hoch.
»Hast du oder ich den vollen Preis für sein scheiß Ticket zahlen müssen?«
»Was hat es mit dem Wagen auf sich?«
»Ach, das ist ein kleiner Bonus. Sozusagen um einen guten Start in die Partnerschaft zu haben.« zwinkerte Prince mit einem breiten Grinsen, das von einem zum anderen Ohr reichte.
»Und du beschwerst dich darüber, dass du seine Karte zahlen musstest?«
»Und du beschwerst dich darüber, dass du seine Karte zahlen musstest?« äffte Prince seinen Freund bewusst kindisch nach, was Paul dazu brachte seine Arme zu verschränken und sich schmollend in den, für ihn viel zu kleinen Sitzplatz zu drücken.
»Ich habe hier und jetzt den Shotgun-Call, damit das klar ist.« brummelte Paul vor sich hin. »Von jetzt bis ins Nirvana.«
»Klößchen, wenn du in meinem Auto einsteigst ist so oder so kein Platz mehr für irgendjemand anderen. Sei unbesorgt. Du wirst immer auf dem Beifahrersitz Platz nehmen dürfen.« klopfte Prince ihm lauthals lachend auf die Schulter.
»Bla, bla, bla.« zischte Paul ihn mit einem affig zusammengekniffenen Gesicht an.
Die Unterhaltung mit Alessio hatte keine zehn Minuten in Anspruch genommen und so kamen sie noch in den Genuss von zwei atemberaubenden Vierteln Football, in denen sich die beiden kontrahierenden Mannschaften nicht einen Zentimeter zu schenken gedachten.
Am Ende gewannen die Chicago Bears knapp mit siebenundzwanzig zu vierundzwanzig.