Sechs
Wenig später wühlten Pauls Finger auf der Suche nach dem Haustürschlüssel durch seine Manteltaschen. Das Türschloss war schon öfter Opfer von Gewalteinwirkung gewesen, weshalb es ein gewisses Maß an Fingerfertigkeit benötigte, um es zu öffnen. Ein paar missglückte Versuche und den ein oder anderen beherzten Tritt gegen die Türe später, gab sie den Weg knarrend frei und Paul betrat das dreistöckige Wohnhaus.
In jeder Etage gab es vier Wohnungen. Das Haus stand unerschütterlich seit den frühen Zwanzigern an einem Fleck. Es wusste viele Geschichten zu erzählen, hatte unzählige Gangster in Chicago kommen und gehen sehen. Vor allem während der Zeit der Prohibition. Die Fassade entsprach der eines typisches Flachdachgebäude aus der Zeit als Chicagos Schlachthäuser zu den größten der Welt zählten.
Ein Haus, in dem damals wohlhabendere Familien zu residieren pflegten.
Damals.
Heute war dies eine raue und ruchlose Gegend, in der man es sich zwei Mal überlegte, ob man nach Anbruch der Dämmerung nochmals einen Fuß vor die Tür setzte.
Die Außenfassade des Gebäudes bestand zum Großteil aus rotem Sandstein, der aufwendige Verzierungen zeigte. Im Laufe der Zeit wurde die Wartung jedoch vernachlässigt und so verkörperte es heutzutage einen Schatten seines früher sicherlich glanzvollen Selbst. An einigen Stellen bröckelten Verschnörkelungen ab oder Dreck setzte sich hartnäckig in Rillen fest. Graffitis gaben dem Ganzen den Rest.
Auf jeder Seite des Gebäudes gab es pro Stockwerk mannsgroße Fenster und eine Schiebetüre, die auf einen weiß gestrichenen Balkon hinausführte, was einen wundervollen Kontrast zu der ansonsten komplett roten Fassade darstellte.
Paul konnte sich seit nunmehr drei Jahren Eigentümer einer geräumigen Drei-Zimmer-Wohnung an der westlichen Seite der obersten Etage nennen. Von dort hatte er einen wundervollen Blick auf den nahegelegenen Eisenhower Park. Das hörte sich wesentlich luxuriöser an, als es war. Doch für ihn reichte der Platz vollkommen aus. Und mit der Situation im Viertel hatte er sich mittlerweile notgedrungen arrangiert.
In der Mitte des Gebäudes rankte sich eine Wendeltreppe aus schwarzem Metall bis in den letzten Stock. Auch seine vierundachtzig Jahre alte Nachbarin Elisabeth Gonzales hatte sie jeden Tag mehrfach zu bewältigen. Den Aufzug zierte bereits seit Pauls Einzug ein „Defekt“ -Schild.
Einen Monat lange gab es deshalb gehäuft Beschwerden der Bewohner. Irgendwann hatten sich alle damit abgefunden, nachdem es den Besitzer anscheinend recht wenig zu kümmerte. Sogar Elisabeth erkannte in der Treppe eine Art tägliche Trainingseinheit, die sie jung halten sollte.
Paul durchquerte den lieblos gestalteten Eingangsbereich in dessen Ecken die einfarbige braune Tapete bereits in Fetzen von den Wänden hing. Der burgunderrote Teppich, der sich in der Mitte der Treppe mit ihr emporschlängelte, vermittelte seit geraumer Zeit kein royales Gefühl mehr. Inzwischen hatten ihn unzählige Schuhsohlen abgenutzt und verschmutzt, sodass es für das ungeübte Auge den Eindruck vermittelte, dass die Treppe Rost ansetzte.
Im Erdgeschoss wohnte angeblich ein Hausmeister, den Paul in seiner ganzen Zeit in diesem Haus nicht benötigt, allerdings auch nie zu Gesicht bekommen hatte. Seines Erachtens nach hing an dieser Tür rechts neben der Treppe ein Schild mit der Aufschrift „Hausmeister“, weil der Mietvertrag die Anwesenheit eines solchen mit einbezog. Paul war fest davon überzeugt, dass sich hinter der Tür eine leere Rumpelkammer befand.
Im ersten Geschoss waren Familien untergebracht, die alle drei Monate wechselten. Entweder sie konnten die Miete nicht bezahlen, es gab Streit oder sie hatten ein besseres Angebot gefunden - was angesichts des Zustandes der Wohnungen keine Schwierigkeit darstellte.
Letztes Jahr gab es einen riesigen Aufruhr. Ein zugekokster Familienvater stürzte die Treppe hinunter und brach sich das Genick. Seine Frau knüpfte sich am Folgetag in ihrer betrunkenen Trauer an einem Deckenventilator auf. Was aus der Tochter wurde, war Paul nicht bekannt.
Wenn sie es richtig anstellte, standen ihr in Hollywood sicher eines Tages alle Türen offen. Mit dieser traumatischen Kindheitserfahrung konnte sie den Heißhunger der Presse sicher auf sich lenken und ihn für einen gewissen Zeitraum stillen.
Die Türen des zweiten Stocks waren im Laufe der beiden letzten Jahre allesamt irgendwann nach und nach mit dem charakteristischen, gelben Absperrband der Polizei versehen und nie wieder frei gegeben worden. Manchmal hatte Paul das Gefühl, dass sich das ein oder andere Mal ein paar Obdachlose Zugang zu den Wohnungen verschafften. Tatsächlich interessierte es niemanden. Solange es im Gang nicht nach verwesenden Leichen stank, wurden sie geduldet.
Die einzige Konstante stellte der dritte und oberste Stock dar. Neben Paul wurde der noch von Elisabeth Gonzales, einem russischen Kampflesbenpaar und Prince F. Craigin bewohnt.
Die Leute, die bei Prince ein- und ausgingen, nannten den Mann schlicht „Poison“. Der Name erklärte sich von selbst, wenn man wusste, dass er der Abnehmer für das Phenylaceton war, welches Paul täglich aus dem Labor herausschmuggelte.
Prince hatte die Wohnung im Osten, direkt gegenüber von Paul. Auf die Frage wofür das „F“ in seinem Namen eigentlich stand reagierte er aufbrausend mit der herzlichen Aussage, dass Paul ihn nicht danach fragen solle. Der genaue Wortlaut hatte einen wesentlich makabreren Inhalt vorgewiesen und deutete den Verlust einiger sensibler Körperteile an. Daher war Paul nicht mehr weiter darauf eingegangen.
Prince war schwarz, knapp einen Kopf größer als Paul und hatte die Haare auf seinem Kopf stets penibel abrasiert. Die Glatze polierte er auf Hochglanz. Seinen Bart stutzte er sich so zurecht, dass er an den Kanten seines Gesichtes entlang verlief.
Seine Eltern waren laut
eigener Aussage unauffindbar. Vor wenigen Tagen war er gerade
zweiundzwanzig geworden.
Sein stolzes Vorstrafenregister reichte vom
Klau eines Kaugummiautomaten bis hin zu schwerem Raub mit
Todesfolge, wofür er einige Jahre im Jugendgefängnis verbracht
hatte.
Dort hatte er die Zeit gefunden seinen Körper auf Vordermann zu bringen und sich ein paar schlechte Tattoos stechen zu lassen. Was ihn, wie Paul sich eingestehen musste, tatsächlich wie einen dieser klischeehaften Gangster aussehen ließ.
Darüber hinaus hatte er sich während seiner Zeit in der Besserungsanstalt in die Bibliothek gesetzt und sich fortgebildet. Ein vorbildlicher Insasse, der seinen Aufenthalt sinnvoll nutzen wollte und sich auf dem Weg der Besserung befand. So stand es wortwörtlich in der Begründung seiner frühzeitigen Entlassung. Wenn man bedachte, dass das chemische Wissen aus der Gefängnisbibliothek der Grundstein für sein heutiges Geschäft wurde, hatte es fast etwas Ironisches an sich.
Zu Beginn war es für Paul sehr gewöhnungsbedürftig, dass Prince sich abseits der Straße überraschend gewählt auszudrücken vermochte. Kannte man ihn näher und hatte seinen Respekt erlangt, konnte man ernsthafte Gespräche mit ihm führen. Sofern man sich alleine mit ihm in einem Raum befand. War das nicht der Fall, mutierte er zu einem dieser Proleten, die jeden Satz mit Schimpfwörtern abrundeten, wie ein Koch seine Gerichte mit Gewürzen, und sich alle drei Sekunden in den Schritt fassten. Der dank Baggy Pants auf Kniehöhe baumelte.
Seine gesamte Garderobe bestand allem Anschein nach aus solchen Hosen und verschiedenen Basketball Trikots. Selten hatte Paul ihn in anderer Kleidung gesehen.
Am Tag, an dem Paul in seine neue Wohnung eingezog, hatte Prince ihm einen kleinen Empfang vorbereitet. Keinen solchen, wie man ihn von einem Nachbarn in einer schönen Wohngegend erwartete. Kein Kuchen, keine höflichen Gesten.
Vielmehr stand er mit fünf seiner grimmig dreinblickenden Jungs über das Geländer gebeugt und sinnierte darüber, wie viele Filetstücke er wohl aus diesem fetten Schwein herausschneiden könnte. Gerade so laut, dass Paul es beim Heraufkommen hören konnte.
Der Blick des Gangsters schweifte neugierig über Pauls beachtliche Vinyl und CD Sammlung. Letztendlich verdankte Paul den Bildern der Hip Hop Größen auf den Hüllen, dass er unversehrt aus dieser Situation entkommen konnte.
Prince betitelte ihn als „Weißen mit schwarzer Seele“, was ein fragwürdiges Kompliment darstellen sollte. In all seiner Gnade rang der Gangster sich dazu durch, Paul das Leben vorerst zu schenken. Irgendwie rundete Paul in seinen Augen das Bild ab. Er komplettierte gewissermaßen den dritten Stock.
Einen Monat später wurde Prince zum ersten Mal von Paul beliefert. Mittlerweile war ihre Beziehung darüber hinausgewachsen. Aus Geschäftspartnern, die einander nicht über den Weg trauten, waren Freunde geworden. Freunde, die tagtäglich ein Bündel Dollarscheine gegen Behälter mit einer gewissen Flüssigkeit miteinander tauschten.
Die Wohnung im Norden wurde keinen Monat nachdem Paul eingezogen war von Natascha Rumikov und Svenja Duritschek gemietet. Beide waren Mitte zwanzig und laut ihrer eigenen Aussage professionelle Bodybuilderinnen. Zumindest ihrer eigenen Aussage nach.
Ihre Körper bestätigten das zwar, ihre Arbeit als Auslieferer bei Pauls Lieblingspizzeria, sowie der Fakt, dass sie im selben heruntergekommenen Gebäude wie Paul wohnten, nagte allerdings an der Bezeichnung „professionell“. Wobei Paul keine Relation dazu hatte, was ein Bodybuilder verdiente.
Nichtsdestotrotz verbrachten die beiden täglich mehrere Stunden im Fitnessstudio am Ende der Straße und stählten ihre Adoniskörper. Als Angehörige des weiblichen Geschlechts wies die beiden das Doppel-D-Argument aus, das eindeutig operativ vergrößert worden war. Ihre Haare trugen sie abgeschoren. Die Haut war bis zum Äußersten im Solarium gebräunt.
Obwohl Paul mittlerweile an ihr Auftreten gewohnt war, überkam ihn bei ihrem Anblick oft eine Heißhungerattacke auf Brathähnchen. Diesen Gedanken hatte er in seinem Leben bisher genau ein Mal in Anwesenheit der beiden Damen laut geäußert. Wenn er daran zurückdachte, konnte er Nataschas Todeszange an seinem Gehänge noch heute fühlen. Wie sie genüsslich zudrückte, während ihm die Augen fast aus ihren Höhlen sprangen.
Das ganze Jahr über begleitete die beiden Damen der immer selbe Kleidungsstiel: Hotpants, damit man ihre muskulösen Oberschenkel und Waden bewundern konnte, die jeden Radsportler vor Neid erblassen ließen, und unmittelbar unterhalb der Brüste abgeschnittene T-Shirts Marke Eigenbau. Im Winter gab es dazu einen langen Mantel und gefütterte Schuhe anstatt Chucks. Ansonsten änderte sich an ihrem Aufzug nichts.
Eines nachts hatte Prince versucht in die Wohnung der beiden Frauen einzubrechen. Zu seinem Unglück waren die Fleischberge zu Hause und nicht wie es sonst Routine war, am Freitagabend zu ihrem Lieblingssteakhaus ausgegangen.
So kam es, dass ihm Rippen gebrochen und eine Platzwunde am Kopf zugefügt wurde. Bevor die beiden von ihm abließen, musste er ihnen zehn Prozent seiner Einkünfte zusichern. All seinen Freunden gegenüber berief er sich vehement auf die Ausrede, dass er keine Frauen schlagen könnte. Da jeder wusste, dass es hart auf hart kam, wenn man in das Revier der beiden achtzig Kilogramm Panther nebenan eindrang, hielt sich die Häme in Grenzen.
Seit Neuestem agierten die beiden gelegentlich als Schläger für Prince. Sie hatten ihm den kleinen Einbruch verziehen und sich vor knapp einem Monat auf einen neuen Deal geeinigt. Traurig, aber wahr: Chicagos harte Jungs wurden auf der Straße von zwei Frauen aufgemischt.
Im Süden, mit herrlichem Blick auf eine Strip-Bar, befand sich das Vier- Zimmer- Apartment von Elisabeth Gonzales. Sie war eine vierundachtzig Jahre zählende Dame lateinamerikanischer Herkunft und wohnte nunmehr seit achtundfünfzig Jahren in dem Gebäude und gehörte somit praktisch zum Inventar.
Ihr Mann verstarb vor vierzehn Jahren an Lungenkrebs, was sie nicht davon abhielt, sich täglich zwei Schachteln Malboro in die Lungen zu saugen. Mittlerweile musste sie genug Teer angesammelt haben, damit sie eine Autobahn asphaltieren könnte.
Der Tribut an ihre Sucht war ihr praktisch ins Gesicht geschrieben. Ihre Haut warf Falten, die so tief wie der Grand Canyon waren.
Früher hatte sie viele Jahre an einem Fließband gearbeitet. Die meiste Zeit davon im Sitzen, was ihr Rücken der Frau im Alter mit einem Buckel heimzahlte. Ihre geringe Körpergröße von einem Meter und sechzig schrumpfte dadurch nochmals um gute zehn Zentimeter.
Zum Ausgleich für den Verlust ihres Mannes hielt sie sich drei Katzen, die sich auf allen Stockwerken frei bewegten. Die Namen der drei Tiere waren regelrechte Zungenbrecher. Nach einer Woche gab Paul es ganz auf und dachte sich eigene Namen für sie aus. Elisabeth störte das zunächst nicht im Geringsten. Nach einer Weile voll regelmäßigem und intensiven Training, mit den dazu gehörenden Leckerlies als Belohnung, hörten die Tiere allerdings ausschließlich auf die Namen, die Paul ihnen mit viel Liebe antrainiert hatte.
So kam es, dass Elisabeth sich eines Tages entrüstet vor seiner Tür aufbaute und ihm befahl entweder die ihnen von ihr gegebenen Namen zu verwenden, oder ihre armen Kätzchen in Ruhe zu lassen. Er würde die armen „Mietzis“ ja ganz verstören.
Das war das einzige Mal, dass Paul sie wütend gesehen hatte. Elisabeth war von Grund auf ein herzensguter Mensch, der nach den christlichen Werten lebte. Die Bewohner des dritten Stockwerkes kamen jeden Sonntag in den Genuss dieser Gutherzigkeit.
Zunächst besuchte Elisabeth am frühen Sonntagmorgen ihre Kirche, in der sie seit inzwischen zweiunddreißig Jahren keinen Gottesdienst versäumt hatte. Die gesamte Zeitspanne saß sie ebenfalls in deren Kirchenrat und organisierte viele wohltätige Aktionen der Kirche.
Der Sonntagnachmittag war fest für ihre unglaublichen Backkünste reserviert. Von den leckersten Cookies, die Paul zu seinen Lebzeiten je genießen durfte, über die saftigsten Brownies dieser Welt, bis hin zu ihrem inzwischen legendären Bananenkuchen, hatte sie alles im Repertoire was das Herz begehrte.
Das Beste daran war, dass sie ihre fertigen Kunstwerke mit dem gesamten Stock zu teilen pflegte. Das machte sie allseits beliebt und hatte ihr den Spitznamen „Mama“ eingebracht.
Sogar das Geschäft von Prince florierte sonntags deshalb besonders gut. Denn ihre Großherzigkeit machte selbst vor Junkies nicht Halt, die eigentlich kamen um sich den nächsten Schuss zu holen und danach wieder in ihre persönliche Hölle einzureiten.
Ja, dieses Haus war etwas Besonderes.
Lächelnd warf Paul einen letzten Blick auf sein Handy, bevor er es stumm schaltete und die Treppe emporstieg.