Keith
5. KAPITEL
Jamey Bryant rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; seine Augen schweiften immer wieder zu dem vor dem Fenster fallenden Schnee hinaus, statt seine Aufmerksamkeit Tamara oder dem Karton in der Mitte des Tisches zu widmen.
„Komm schon, Jamey. Konzentrier dich.“ Ihr war nicht wohl dabei, von dem Jungen etwas zu verlangen, was sie für unmöglich hielt. Den ganzen Tag über war es ihr nicht gelungen, Eric Marquand aus ihren Gedanken zu vertreiben. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor sich.
Die Erinnerung an seine Berührung, daran, wie sich seine Lippen auf den ihren angefühlt hatten, an das Gefühl der Sicherheit, das seine Umarmung ihr verschafft hatte, ließ sie einfach nicht los. Der Kummer, den sie in seinen Augen gesehen hatte, bevor er verschwand, verfolgte sie mehr als alles andere.
Andererseits hegte sie nach wie vor ziemliche Zweifel daran, dass es ihn tatsächlich gab. Genauso gut hätte er eine Schöpfung ihrer Fantasie sein können, ein Hirngespinst, ein Traum. Wie sonst hätte er so rasch von ihrem Balkon verschwinden können? Dass er hinuntergesprungen war, war ausgeschlossen. Dabei hätte er sich wenigstens ein Bein gebrochen. Also war er vielleicht nicht wirklich gewesen …
Doch, das war er. Sie wusste, dass er wirklich war, ebenso wie die Gefühle, die er in ihr auslöste, wirklich waren. Nichts, das derart intensiv war, konnte lediglich Einbildung sein.
Jamey seufzte und richtete den Blick auf den Pappkarton, der zwischen ihnen stand. Er verzog das Gesicht, bis es Falten schlug und aus der Furche zwischen seinen feinen dunklen Augenbrauen drei wurden. Er beugte sich vor, und sein sommersprossiges Antlitz rötete sich, bis Tamara der Gedanke kam, dass er den Atem anhielt. Ihr Verdacht bestätigte sich einen Moment später, als er die Luft mit einem lauten Zischen entweichen ließ und in seinen Stuhl zurücksackte. „Ich kann nicht“, sagte er. „Darf ich jetzt gehen?“
Tamara versuchte es mit einem ermutigenden Lächeln. „Du hasst das hier wie die Pest, oder?“
Er zuckte die Schultern, schaute zum Fenster und dann zurück auf den Karton. „Ich wünschte, ich wäre wie die anderen Kinder. Ich komme mir komisch vor, weil ich Dinge weiß, die andere nicht wissen. Wenn ich dann etwas nicht weiß, was ich aber wissen sollte, fühle ich mich wie ein Dummkopf. Und dann gibt es Momente, in denen ich Dinge mitkriege, die überhaupt keinen Sinn ergeben. Es ist, als wüsste ich etwas, ohne zu wissen, was es bedeutet. Verstehst du, was ich meine?“
Sie nickte. „Ich denke schon.“
„Also, was ist so toll daran, Sachen zu wissen, wenn sie für einen keinen Sinn ergeben?“
„Jamey, du bist nicht komisch, und wir beide wissen, dass du kein Dummkopf bist. Jeder von uns besitzt eine Fähigkeit, die ihn von den anderen abhebt. Einige Leute können Töne singen, die der Rest von uns niemals zustande bringen würde. Manche Sportler vollbringen Leistungen, die jenen, die dazu nicht in der Lage sind, beinahe übernatürlich erscheinen. Ganz genauso verhält es sich mit außersinnlicher Wahrnehmung, bloß dass du das viel besser beherrschst als die meisten anderen Menschen. Deine Gabe ist einfach nicht so gewöhnlich wie diese anderen Dinge.“
Sie betrachtete sein Gesicht und kam zu dem Schluss, dass ihre aufmunternden Worte ihn offenbar nicht wirklich trösteten. „Vielleicht solltest du mir sagen, was dich bedrückt.“
Er blies Luft durch seine Lippen und schüttelte den Kopf. „Weißt du, ich bin in so was nicht besonders gut. Wahrscheinlich ist es gar nichts. Ich … ich will dir nicht grundlos Angst einjagen.“
Sie runzelte die Stirn. „Mir Angst einjagen? Geht es dabei um mich, Jamey?“
Er nickte, ihrem Blick ausweichend.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl, ging um den Tisch herum und sank vor ihm auf die Knie. Seit sie vor sechs Monaten angefangen hatte, mit Jamey zu arbeiten, hatte sich eine enge Beziehung zwischen ihnen aufgebaut. Sie liebte ihn wie einen eigenen Sohn. Es missfiel ihr, dass er sich wegen etwas so quälte, das mit ihr zu tun hatte. Er war stets unglaublich sensibel, wenn es um ihre Gefühle ging. Er wusste immer, wenn sie verstimmt oder schlecht drauf war. Er hatte auch über ihre Albträume und ihre Schlaflosigkeit Bescheid gewusst.
„Ich finde, du bist verdammt gut in so was. Zumindest sofern es mich betrifft. Falls du irgendetwas aufgeschnappt hast, dann sag’s mir. Vielleicht kann ich es erklären.“
Einer seiner Mundwinkel verzog sich. Er sah sie ernst an. Sein angespannter Gesichtsausdruck ließ ihn wie die Miniaturausgabe eines Erwachsenen wirken. „Ich habe ständig das Gefühl, dass dir irgendetwas passieren wird … als würde jemand dir … dir etwas antun.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß nicht, wer es ist oder worum es geht, also was ist an diesem Wissen so großartig?“
Sie lächelte milde. „In letzter Zeit ist mir jede Menge passiert, Jamey. Persönliche Sachen. Sachen, die mir ganz schön an die Nieren gehen. Ich nehme einmal an, dass du womöglich das empfängst.“
„Meinst du?“ Seine dunklen Augen blickten sie hoffnungsvoll an, um sich dann vor Sorge zu verfinstern. „Bist du okay?“
Sie nickte nachdrücklich. „Ich denke schon. Mach dir bitte keine Sorgen: Alles kommt wieder in Ordnung. Diese Albträume haben inzwischen aufgehört.“
„Das ist gut“, sagte er, auch wenn sein Stirnrunzeln nicht verschwand. „Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es irgendwelche Leute auf dich abgesehen haben.“ Er kaute auf seiner Lippe herum. „Kennst du jemanden namens Eric?“
Etwas Hartes von der Größe eines Ziegelsteins traf ihre Brust. Sie schnappte hörbar nach Luft und stand so schnell auf, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. „Eric?“, wiederholte sie dumpf. „Warum? Hat es etwas mit ihm …?“
„Keine Ahnung. Es ist nur so, dass mir dieser Name in den sonderbarsten Momenten in den Sinn kommt. Wenn das passiert, bin ich immer entweder sehr traurig oder sehr besorgt. Ich glaube, dass er sich vielleicht dann gerade so fühlt, aber wie ich schon sagte, ich bin in so was nicht sehr gut. Ich könnte das alles auch einfach ganz falsch verstehen.“
Sie wartete, bis der Augenblick der Panik vorüberging. Sie hatte befürchtet, er würde sagen, dass Eric derjenige war, der ihr Schaden zufügen wollte. Sie fragte sich immer noch, ob das nicht vielleicht wirklich der Fall war. Indes, sie wollte nicht, dass Jamey davon etwas mitbekam. Sie atmete ein paarmal tief durch und versuchte sich zusammenzunehmen, bevor sie ihn wieder ansah.
„Danke für die Warnung, Jamey, aber ich denke, dass du diese Angelegenheit zu ernst nimmst. Schau mal, warum öffnest du nicht einfach den Karton? Ich kann mich schon nicht einmal mehr daran entsinnen, was da drin ist.“
Nach einem letzten flüchtigen Blick, wie um sich zu vergewissern, dass er sie nicht verängstigt hatte, beugte er sich vor, streckte eine Hand aus, packte den Karton und zog ihn zu sich heran. Als er hineinsah, weiteten sich seine Augen, und er holte ein Videospiel daraus hervor. „Dungeon Warriors! Mom hat überall danach gesucht – wo hast du es gefunden?“
„Deine Mom hat nicht so intensiv danach gesucht, wie du geglaubt hast. Ich habe sie gebeten, das mir zu überlassen.“
Voller Begeisterung betrachtete er die farbenfrohe Verpackung. „Danke, Tam.“ Er stand auf; offensichtlich hatte er es eilig, nach Hause zu kommen, um sein neues Spiel auszuprobieren.
„Geh ruhig, Jamey. Deine Mom wartet unten schon auf dich.“
Er nickte und trat zur Tür.
„Und Jamey“, rief sie ihm nach. Als er zu ihr zurückschaute, sagte sie: „Falls du noch mehr von diesen eigenartigen Schwingungen über mich auffängst und sie dich beunruhigen, ruf mich einfach an. Du hast meine Nummer. In Ordnung?“
„Na klar, Tam.“ Er schenkte ihr ein breites, grübchenbewehrtes Grinsen, das ihr verriet, dass er – zumindest für den Augenblick – guter Dinge war. Er eilte aus der Tür, und Tamara blieb allein zurück, um über seine Warnung nachzugrübeln.
An diesem Abend arbeitete sie lange, in dem Versuch, ihren Verstand mithilfe ihrer banalen Pflichten auf andere Gedanken zu bringen. Indes, es funktionierte nicht. Als sie schließlich nach Hause ging, fand sie das Haus verlassen vor. Das war nicht weiter überraschend; die Sonne war bereits untergegangen, was bedeutete, dass Daniel und Curtis längst zu ihrer nächtlichen Überwachungsmission aufgebrochen waren.
Trotz seiner unbegründeten Vorwürfe gegen Daniel tat Eric Marquand ihr ein wenig leid. Es musste ermüdend sein, jede Nacht aus dem Fenster zu schauen und sie dort draußen zu sehen.
Tamara holperte in ihrem VW-Käfer über die zerfurchte, gewundene Auffahrt. Schneeflocken drehten Pirouetten über der weitläufigen viktorianischen Villa, eingefangen vom Strahl ihrer Scheinwerfer. Das makellose Weiß des Schnees hob das verblichene Gelb des Gebäudes noch hervor. Die großen schmalen Fenster wirkten wie traurige Augen. Die rostigen Wasserflecke, die sich tränengleich unter jedem einzelnen von ihnen abzeichneten, verstärkten diesen Eindruck noch. Tamara stoppte den Wagen, stieg aus, um das widerspenstige Garagentor zu öffnen, und murmelte dabei vor sich hin.
In den vergangenen drei Jahren hatte sie sich jeden Winter aufs Neue für ein automatisches Tor ausgesprochen, doch ohne Erfolg. Daniel würde in dieser Sache keinen Millimeter nachgeben. Die Arbeiten, die er nicht selbst an dem alten Haus durchführen konnte, wurden schlichtweg nicht gemacht. Er wollte einfach nicht, dass eine Horde Fremder hier überall herumschnüffelte, und das war sein letztes Wort.
Sie fuhr ihren Wagen in die Garage und bemerkte das Fehlen von Daniels Cadillac. Ein Gefühl des Unbehagens wanderte ihr den Rücken hinab. Sie hoffte, dass er heute Abend nicht selbst fuhr. Die Straßen waren glatt, und sie hatte es versäumt, einen neuen Ersatzreifen zu besorgen, nachdem er vor zwei Monaten einen Platten gehabt hatte, verdammt noch mal. Sie nahm an, dass Curtis bei ihm war, und dieser Gedanke beruhigte sie ein bisschen.
Sie schaltete das Licht ein und trat in die Eingangshalle. Das Telefon begann zu läuten, noch ehe sie sich setzen konnte, um ihre Stiefel auszuziehen. Sie ging über den verschlissenen Teppich, um den Hörer aufzunehmen.
„Tammy, höchste Zeit, dass du nach Hause kommst! Wo bist du gewesen?“
Sie schluckte die harsche Erwiderung hinunter, die ihr auf der Zunge lag. „Curtis, ist Daniel bei dir?“
„Ja, aber das ist keine Antwort auf meine Frage.“
„Wenn du es unbedingt wissen willst, ich bin vom Büro schnurstracks nach Hause gefahren. Ich habe etwas länger gearbeitet, und die Straßen sind ziemlich glatt. Ich will nicht, dass Daniel fährt.“
„Ich gebe auf ihn acht. Sag mal, bleibst du heute Abend zu Hause, Tam?“
Ihre Stirn legte sich in tiefe Falten. „Warum?“
Er zögerte, begann zu sprechen, hielt inne und setzte von Neuem an. „Es ist nur, weißt du, nach diesem Zwischenfall mit Marquand in jener Nacht halten Daniel und ich es für das Beste, wenn du, ähm, nach Sonnenuntergang möglichst zu Hause bleiben würdest. Ich weiß, wie sehr du es hasst, wenn man dir etwas vorschreibt, aber es wäre zu deinem eigenen …“
„Zu meinem eigenen Besten, ich weiß.“ Sie schüttelte seufzend den Kopf. „Hör mal, Curtis, ich habe nicht die Absicht, heute Nacht das Haus zu verlassen. Abgesehen davon nahm ich an, dass ihr zwei ohnehin jeden von Marquands Schritten verfolgt.“
„Das tun wir, aber …“
„Dann gibt es nichts, worüber ihr euch Sorgen machen müsstet, oder? Falls es euch beruhigt, ich habe vor, ein langes heißes Bad zu nehmen und danach gleich ins Bett zu gehen und zu schlafen.“
„Ja, das beruhigt uns.“ Einen Moment lang schwieg er. „Wir machen uns bloß Sorgen, Tammy.“
„Ja, ich weiß. Gute Nacht.“ Sie legte den Hörer auf, bevor er sie noch mehr in Rage versetzen konnte, und ging nach oben, um ihre Worte in die Tat umzusetzen und ein heißes Bad zu nehmen. Dass sie anschließend gleich zu Bett gehen würde, war jedoch eher unwahrscheinlich. Den ganzen Tag über war sie bei der Arbeit Gefahr gelaufen, im Stehen einzuschlafen. Jetzt, da sie zu Hause war, fühlte sie sich hellwach und sprühte förmlich vor Energie.
Nach einem beruhigenden, wenn auch nicht allzu entspannenden Bad trocknete sie sich ab und schlüpfte in ein Paar bequeme Jeans und einen Schlabberpulli. Sie zog ihre dicksten Socken über und rubbelte ihr Haar halbherzig trocken, bevor sie nach unten ging, um sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen und ihren leeren Magen zu füllen.
Sie hatte kaum mit einer Dose Cola und einem Pappteller mit einem längs aufgeschnittenen Sandwich mit dickem Speck, Salat und Tomaten darauf auf dem Sofa im riesigen Wohnzimmer Platz genommen, als es an der Tür klingelte.
Tamara verdrehte die Augen, legte das Sandwich beiseite, in das sie soeben hineinbeißen wollte, und ging zur Tür, um zu öffnen. Ihr Ärger verflog, als Eric Marquand über die Schwelle in die Eingangshalle trat. Nachdem sie einen angsterfüllten Blick auf die Auffahrt geworfen hatte, schlug sie die Tür zu und schaute ihn erstaunt an. „Du solltest nicht hier sein, Eric. Lieber Himmel, wenn Daniel dich hier sieht, trifft ihn der Schlag!“
„Das wird nicht passieren. Er und Rogers werden bis Sonnenaufgang auf ihrem Spähposten vor meinem Eingangstor ausharren, wie sie es jede Nacht tun, das versichere ich dir. Sie haben nicht mitbekommen, dass ich fortgegangen bin. Ich habe mir einiges einfallen lassen, um in dieser Hinsicht auf Nummer sicher zu gehen.“
Sie stand reglos da und kämpfte gegen das aufkeimende Gefühl der Freude an, das sie bei seinem Anblick verspürte, während sie sich sagte, dass es unmöglich war, so für einen Fremden zu empfinden. Trotz allem jedoch war das Gefühl da.
„Nach meinem Benehmen vergangene Nacht habe ich beinahe damit gerechnet, dass du mich hinauswirfst. Wirst du das tun, Tamara?“
Sie versuchte den Blickkontakt zu ihm zu unterbrechen, aber vergebens. „Ich … nein. Nein, ich werde dich nicht rauswerfen. Komm rein. Ich wollte gerade ein Sandwich essen. Soll ich dir auch eins machen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe bereits gegessen. Falls ich dich beim Abendessen störe …“
Sie schüttelte schnell den Kopf. „Nein. Ich meine, du kannst ein Sandwich und eine Cola wohl kaum als Abendessen bezeichnen.“
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und setzte sich neben sie aufs Sofa, obwohl sie ihm mit einer Geste einen Stuhl in der Nähe angeboten hatte. Sie griff nach der feuchten Dose. „Ich könnte dir auch eine holen.“
„Nein danke.“ Er räusperte sich. „Ich bin gekommen, weil …“ Er schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt gibt es keinen konkreten Anlass dafür, abgesehen davon, dass ich dich sehen wollte. Gehst du heute Nacht mit mir aus, Tamara? Ich gebe dir mein Wort, dass ich nichts gegen deinen St. Claire sagen werde. Ich werde keine Fragen über das DPI stellen. Ich möchte einfach nur mit dir zusammen sein.“
Sie lächelte und rief sich dann selbst zur Ordnung. Konnte sie es riskieren, mit ihm auszugehen? Nach all den Malen, die Daniel sie vor ihm gewarnt hatte?
Eric nahm ihre Hand; sein Daumen strich zärtlich über ihre Fingerkuppen. „Wenn du mir nicht glaubst, was ich gegen ihn vorzubringen habe, Tamara, dann solltest du seine Anschuldigungen gegen mich gleichermaßen anzweifeln. Das wäre nur fair.“
Sie nickte langsam. „Ich schätze, du hast recht. In Ordnung, ich komme mit dir.“ Sie erhob sich hastig und mit mehr Eifer, als sie ihm gegenüber eigentlich an den Tag legen wollte. „Soll ich mich umziehen? Wohin gehen wir?“
„Liebes, du bist wunderhübsch so. Würde es dir etwas ausmachen, einfach ein bisschen durch die Gegend zu fahren, bis uns etwas Besseres einfällt? Ich möchte dich für mich allein haben, zumindest vorerst.“
„Okay. Ich hole meinen Mantel und … fahren? Ich habe kein Auto gesehen. Wie sollen wir …“
„Iss dein Sandwich auf, Tamara. Das ist eine Überraschung.“
Bei diesen Worten konnte sie sich ein breites Lächeln nicht verkneifen, und einen Moment lang schien es ihm beinahe den Atem zu verschlagen. „Ich habe ohnehin keinen Hunger“, erklärte sie ihm, eilte an ihm vorbei in die Eingangshalle und zum Wandschrank neben der Vordertür. „Ich habe bloß gegessen, um mich nicht so einsam zu fühlen.“
Tamara zog ihren dicksten Mantel über: einen langen Wollmantel mit einem schwarzen Schal um den Kragen und passenden Handschuhen in der Tasche. Sie schlüpfte in ihre Stiefel. Als sie wieder aufblickte, musterte er sie. „Bist du denn einsam gewesen?“, fragte er behutsam.
Sie blinzelte die plötzliche Feuchtigkeit fort, die ihr bei dieser Frage in die Augen trat. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, ihn anzulügen. „Ich denke oft, dass ich der einsamste Mensch bin, den ich kenne. Sicher, ich habe Daniel und ein paar Freunde auf der Arbeit, aber …“
Sie schaute ihm in die Augen und wusste, dass er sie verstand. „Ich bin nicht wie sie. Ich fühle mich … anders, als gebe es eine unsichtbare Barriere zwischen uns.“ Sie runzelte die Stirn. „Bei dir habe ich dieses Gefühl nicht.“
Er schloss langsam die Augen und öffnete sie wieder.
Mehr als nur ein bisschen nervös eilte sie durch den Raum und zog den Stecker des Telefons aus der Buchse. Ohne ein Wort der Erklärung ging sie nach oben in ihr Zimmer und verbrachte einige Minuten damit, Decken unter ihre Daunendecke zu stopfen, damit es aussah, als würde sie schlafen. Sie schaltete das Licht in ihrem Schlafzimmer aus und schloss die Tür.
Als sie sich umdrehte, stand Eric hinter ihr. Eine seiner Brauen hob sich, als er sie anschaute. „Wegen St. Claire?“
„Auf diese Weise kann ich mich entspannen und unseren Abend genießen“, sagte sie sanft, und ihr Blick verweilte einen langen Moment auf seinen Lippen. Sie sah, wie sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. Als sie ihm in die Augen schaute, stellte sie fest, dass er ihre Lippen betrachtete, und ohne dass sie sich dessen bewusst war, befeuchtete sie sie mit ihrer Zunge.
„Ich habe mir vorgenommen, dich heute Nacht nicht anzurühren“, sagte er mit einer Stimme, leiser als ein Flüstern. „Aber ich glaube nicht, dass ich mich gut genug im Griff habe, um dich nicht zu küssen.“
„Über kurz oder lang musste das zur Sprache kommen“, sagte sie, bemüht, ihre Worte ruhig klingen zu lassen. „Vielleicht sollten wir die Angelegenheit jetzt aus der Welt schaffen.“
Er stand vollkommen reglos, nicht ein einziger Muskel rührte sich.
Tamara trat vor, legte den Kopf zurück und berührte seine Lippen mit den ihren. Sie spürte, wie er erbebte, als sie ihre Hände auf seine steinharten Schultern legte. Sie schloss die Augen, streifte seinen Mund und ließ zaghaft ihre Zungenspitze über seine Lippen gleiten.
Er seufzte in ihren Mund, als er die Arme um sie legte, um sie an sich zu ziehen. Der Druck seiner Lippen zwang ihre, sich ihm zu öffnen, und er erkundete jeden Winkel, indes seine Zunge voller Verlangen tief in ihren Mund stieß, um ihr einen Vorgeschmack der noch um vieles größeren Freuden zu gewähren, die ihr bevorstanden.
Seine Hände bewegten sich über ihren Körper; während eine sie an ihn gepresst hielt, vergrub sich die andere in ihrem Haar und zog ihren Kopf noch weiter zurück, damit seine forschende Zunge tiefer in sie dringen konnte. Sie gewahrte, wie seine heiße Erregung gegen ihren Bauch drückte, um ihr zu verraten, wie sehr er sie begehrte. Sie drängte ihm die Hüften entgegen, um ihn wissen zu lassen, dass sie dasselbe blinde Verlangen verspürte.
Als das Feuer in ihrem Blut außer Kontrolle geriet, zog er sich schwer atmend von ihr zurück. „Das ist nicht richtig, Tamara. Jede Faser meines Leibes schreit danach, dich hier und jetzt zu nehmen. Verflucht, ich möchte dich gegen die Wand drücken oder es dir gleich hier auf dem Boden besorgen. Aber es ist nicht richtig. Morgen, wenn die Begierde aus deinen Augen verschwunden ist, wirst du mich vielleicht dafür hassen.“
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht, dann drückte er seine Lippen abwechselnd auf jedes ihrer Augenlider. „Sag mir, dass ich recht habe, bevor ich mich nicht länger beherrschen kann.“
Tamara verzehrte sich körperlich danach, dass er die Beherrschung verlor, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass er tatsächlich recht hatte. Sie kannte ihn nicht. Gleichwohl, einst waren sie einander vertraut gewesen, dessen war sie sich gewiss. Nur vermochte sie sich nicht daran zu erinnern. Es war, als würde sie Sex mit einem Fremden haben, mit der Folge, dass sie sich deshalb billig und beschämt fühlte. Sie trat von ihm zurück. „Du hast recht. Es … es tut mir leid.“
„Entschuldige dich niemals dafür, dass du mich küsst oder mich berührst, Tamara. Deine Berührung ist ein kostbares Geschenk, eines Königs würdig … etwas, für das ich stets dankbar sein werde, wann immer dir danach ist, es mir zuteilwerden zu lassen.“
Eric hatte alle Mühe, sich zurückzuhalten, um nicht auf der Stelle zu Ende zu bringen, was sie im Flur von St. Claires Villa begonnen hatten. Er bekam sich gerade noch rechtzeitig in die Gewalt. Das Verlangen, das Tamara in ihm weckte, war eine Bestie, die er nur schwerlich zu zähmen vermochte. Gleichwohl, er musste es tun. Die Blutgier in ihm wurde eins mit seinem sexuellen Verlangen. Bei Wesen seiner Art lagen diese beiden Gefühle so dicht beieinander, dass sie nicht auseinanderzuhalten waren. Wenn er sie nahm, würde er ihr Blut ebenso nehmen wie ihren Körper. Dann würde sie die Wahrheit kennen und ihn für alle Zeit verachten.
Oder Schlimmeres …
Nein, er weigerte sich, zu glauben, dass sie Teil von Daniel St. Claires Machenschaften sein könnte.
Die Verweigerung, es zu glauben, schließt die Möglichkeit aber nicht aus.
Falls sie meine Vernichtung im Sinn hat, wäre mir das nicht entgangen, sagte er sich, als er neben ihr die Treppe hinabstieg. Er hätte es in ihren Gedanken gelesen.
Vampire können lernen, ihre Gedanken abzuschirmen. Warum nicht auch sie?
Sie ist kein Vampir, dachte er wütend. Und ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der dazu in der Lage gewesen wäre.
Du hast nie zuvor einen Menschen wie Tamara getroffen.
Am Ende der Stiege angelangt, bemerkte Eric einen schwachen Lichtschimmer unter einer Tür am gegenüberliegenden Ende der Eingangshalle. Tamara hatte alle anderen Lichter gelöscht, an denen sie vorbeigekommen waren, weshalb er sie nun an der Schulter berührte und auf die Tür deutete. „Willst du dieses Licht nicht auch ausmachen?“
Sie schüttelte hastig den Kopf, setzte zu einer Erklärung an, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Da hatte Eric allerdings bereits mitbekommen, was ihr durch den Sinn ging. Es war ihr verboten, durch diese Tür zu treten. Am Fuße der anderen Treppe befand sich St. Claires Kellerlabor, das der Hausherr zum Sperrgebiet ernannt hatte.
Nur zu gern wäre Eric jetzt dort hinuntergegangen, um sich die Akten und die Ausrüstung des skrupellosen Wissenschaftlers anzusehen. Indes, er hatte Tamara sein Wort gegeben, dass er nur gekommen war, um mit ihr zusammen zu sein. Wie konnte sie ihm Glauben schenken, wenn er ihr Vertrauen auf diese Art und Weise verriet?
Als er ihr dieses Versprechen gegeben hatte, war es ihm ernst damit gewesen, selbst wenn er ihr noch mehr hätte sagen können. Er wollte mit ihr zusammen sein, weil er sich um ihre Sicherheit sorgte. Dass sich St. Claire von Anfang an über das Band zwischen ihnen im Klaren gewesen war, war offensichtlich. Eric war davon überzeugt, dass er die Geschehnisse zu seinen Gunsten ausgenutzt hatte, um die Vormundschaft für das Kind zu bekommen.
Ob er sie einer Gehirnwäsche unterzogen hatte, damit sie ihn bei seinen Intrigen unterstützte oder um sie als unwissenden Lockvogel zu benutzen, würde sich noch zeigen. So oder so jedoch war Tamara für St. Claire nichts weiter als eine Spielfigur in einer Partie mit hohem Einsatz. Bei ihm war sie nicht sicher. Dass Eric des Tags nicht an ihrer Seite weilen konnte, trieb ihn fast in den Wahnsinn, aber was blieb ihm anderes übrig?
Er würde bei ihr sein, wann immer es ihm möglich war, während er herauszufinden versuchte, was St. Claire wirklich im Schilde führte. Er würde Tamara beschützen, selbst wenn das bedeutete, dass er den Mistkerl umbringen musste.
Bei den drei Malen, die Eric ihr seit seiner Rückkehr von seinen Reisen begegnet war, war ihm eine Sache bewusst geworden, über die er sich zuvor nicht gänzlich im Klaren gewesen war: Er liebte sie noch immer über alles. Gleichwohl, seine Gefühle für sie hatten sich drastisch verändert.
Sie war nicht länger das kleine Kind, das Gutenachtgeschichten und Schlaflieder brauchte. Sie war jetzt eine erwachsene Frau, eine Frau von unvergleichlicher Schönheit und unglaublicher Leidenschaft … eine Frau, die imstande war, ihm den Puls in den Schläfen pochen zu lassen und sein Blut vor Verlangen nach ihr zum Kochen zu bringen.
Er wusste, was er für sie fühlte, und akzeptierte es. In einem fort musste er sich ins Gedächtnis rufen, dass sie das jedoch nicht tat. Sie war weder in der Lage, es zu begreifen, noch war sie sich über ihre eigenen Gefühle für ihn im Klaren. Für sie war er ein Fremder … zumindest bis ihre Erinnerungen zurückkehren und sie erkennen würde, dass sie alles über ihn in Erfahrung bringen konnte, einfach indem sie seine Gedanken las. Im Moment jedoch war er für sie ein Fremder.
Er hoffte, das heute Abend bis zu einem gewissen Grad ändern zu können.
Sie verriegelte die Tür, steckte den Schlüssel in die Tasche und wandte sich zu ihm um.
Eric nahm sich die Freiheit, ihr den Arm um die Schultern zu legen. Trotz seiner guten Vorsätze schien es, als wäre er außerstande, die Finger von ihr zu lassen, um sie so nah wie irgend möglich bei sich zu haben. Für seinen Geschmack war ihr Mantel viel zu dick; er war kaum imstande, ihren Körper darunter zu fühlen.
Er schob sie die gewundene Auffahrt hinunter und gewahrte, wie sie überrascht die Augen aufriss, als sie das Fahrzeug erblickte, das dort auf sie wartete. Die Ohren zweier Pferde gingen nach vorn, und beim Geräusch ihrer nahenden Schritte ruckten die Köpfe der Tiere hoch.
Tamara blieb stehen und schaute Eric mit großen Augen an. Er lächelte, als er die Freude in ihrem Blick sah. „Ich dachte mir, ein Schlitten wäre schöner als jedes andere Transportmittel“, erklärte er.
Ihr Lächeln raubte ihm den Atem, und sie lief los, einen puderigen Blizzard vor sich herschickend, als sie durch die zehn Zentimeter Neuschnee auf dem Boden pflügte. Dann stand sie vor dem Rappen, sprach so leise zu ihm, dass es nur das Pferd hören konnte, und strich ihm über die Nüstern. Das Tier schnaubte dankbar.
Eine Sekunde später gesellte sich auch Eric zu ihnen. „Das ist Max. Er ist ein Wallach, und ich glaube, er ist ebenso bezaubert von dir, wie ich es war, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“
Sie sah auf, blickte ihm in die Augen und dankte ihm im Stillen für das Kompliment, bevor Eric fortfuhr: „Und das …“, er ging hinüber zu dem goldenen Palomino neben Max, „ist Melinda, seine Partnerin.“
Tamara trat einen Schritt zurück und streichelte Melindas geschmeidigen Hals. „Sie ist wunderschön – beide sind sie das. Gehören sie dir, Eric?“
„Unglücklicherweise nicht. Ich konnte sie für heute Nacht ausleihen.“ Er sah die Gefühle auf ihrem Antlitz und spürte sie in ihren Gedanken, als sie erst das eine und dann das andere Pferd berührte und streichelte. „Allerdings denke ich darüber nach, die beiden zu kaufen“, fügte er hinzu. Das war die Wahrheit. In dem Moment, als er ihre Freude beim Anblick der Tiere gesehen hatte, wollte er sie besitzen.
„Ach?“ Endlich gehörte ihre Aufmerksamkeit wieder ihm. „Hast du einen Stall?“
„Ich werde einen bauen lassen“, erklärte er. Sie lachte, als er ihren Arm ergriff, sie um die Pferde herumführte und ihr in den Schlitten half. Er ließ sich neben sie sinken und nahm die Zügel in die Hand.
„Ich habe Pferde schon immer geliebt. Als ich ein kleines Mädchen war, wollte ich eine Farm haben, wo ich dann Hunderte von ihnen züchten könnte.“
Eric nickte. Er entsann sich ihrer Pferdeliebe. Er hatte sogar gehofft, dass sie immer noch so vernarrt in Pferde war wie damals. Nun ließ er leicht die Zügel knallen und schnalzte mit der Zunge. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, und Tamara lehnte sich in dem gepolsterten Sitz zurück.
Sobald es möglich war, ließen sie die gepflasterte Straße hinter sich und bogen in eine schneebedeckte Seitenstraße ein, die eigentlich kaum mehr als ein Pfad war. Sein Blick ruhte öfter auf ihr als auf dem Weg voraus. Schier alles entlockte ihr kleine, erfreute Seufzer – der Vollmond, der sich auf dem Schnee brach und ihn glitzern ließ, als lägen winzige Diamanten unter seiner Oberfläche; das eisüberzogene Geäst, das die hässlichen kahlen Zweige in gemeißeltes Kristall verwandelte. Die klare kalte Luft, die ihr Gesicht berührte, und der Geruch der warmen Pferdekörper.
Eric nickte zustimmend, obwohl er in Wahrheit nichts von alldem mitbekam. Es war ihr Duft, der ihn gefangen hielt; die Art, wie die eisige Brise mit ihrem Haar spielte und Wangen wie Nasenspitze gleichermaßen rot anlaufen ließ, entzückte ihn.
Er fühlte allein die Wärme ihres Körpers, der sich gegen seinen presste, und sah das Mondlicht statt im Schnee in ihren Augen schimmern. Über die rhythmischen Laute der Pferdehufe hinweg hörte er die Musik in ihrer Stimme.
Sie hakte sich bei ihm ein, und ihr Kopf kam auf seiner Schulter zu liegen. „Das hier ist wundervoll, Eric. Es ist das Schönste, das ich seit …“ Sie blinzelte und dachte einen Moment lang nach. „Ich kann mich nicht entsinnen, jemals eine Nacht so genossen zu haben.“
„Ich auch nicht“, flüsterte er, überzeugt davon, dass es stimmte. „Aber du musst mir sagen, wenn du müde wirst, sonst werde ich dich vermutlich die ganze Nacht hier draußen behalten.“
„Ich werde nachts nicht müde. Niemals. Ich habe seit über einem Monat nicht mehr durchgeschlafen … tatsächlich sind es schon fast zwei. Wenn du mich also die ganze Nacht über bei dir haben möchtest, kannst du auf mich zählen.“
Sie wirkte so überschwänglich und glücklich. Dennoch machte er sich Gedanken wegen ihrer Schlaflosigkeit, die sie bereits zuvor erwähnt hatte. „Kannst du denn am Tage schlafen?“
„Nein, ich muss arbeiten. Für gewöhnlich schaffe ich es, mich nachmittags ein paar Stunden hinzulegen.“ Sie schaute auf und gewahrte sein Stirnrunzeln. „Mache ich auf dich den Eindruck, als würde ich unter Erschöpfung leiden?“
„Ganz im Gegenteil“, gestand er.
Sie lehnte sich wieder gegen ihn, ehe sie sich von Neuem aufsetzte und mit den Fingern schnippte. „Er ist französisch, nicht wahr?“
„Was?“
„Dein Akzent.“
„Mir war nicht bewusst, dass ich einen habe.“ Himmel, sie war wunderschön. Ihre Augen schienen im Mondschein zu leuchten, und einmal mehr fiel ihm auf, wie lang ihre Wimpern waren.
„Nur minimal. Mir wäre er selbst fast nicht aufgefallen. Ich habe die ganze Zeit versucht, ihn zuzuordnen. Liege ich mit meiner Vermutung richtig?“
Er nickte. „Ich bin in Frankreich geboren.“
„Wo?“
Er lächelte auf sie hernieder, verblüfft, dass sie sich überhaupt die Mühe machte, sich danach zu erkundigen. „Paris. Ich war nicht mehr dort seit … Jahren.“
„Du klingst, als würdest du gern dorthin zurückkehren“, sagte sie, während sie sein Gesicht musterte. „Warum bist du noch nicht wieder dort gewesen?“
„Schlechte Erinnerungen, nehme ich an. Mein Vater wurde dort ermordet. Mir wurde um ein Haar dasselbe Schicksal zuteil, was nur durch das Eingreifen eines guten Freundes verhindert wurde.“ Er sah, wie sich ihre Augen weiteten. Er hatte sich vorgenommen, ihr gegenüber so ehrlich wie nur irgend möglich zu sein, ohne jedoch das Geheimnis preiszugeben. Er wollte, dass sie das Gefühl hatte, ihn zu kennen.
Ihre Hand packte seinen Oberarm fester. „Das ist furchtbar.“
Er nickte. „Aber es liegt lange zurück, Tamara; ich bin darüber hinweg.“
„Bist du sicher?“ Er begegnete ihrem eindringlichen Blick. „Hast du mit jemandem darüber gesprochen, Eric? Solche Dinge neigen dazu, an einem zu nagen.“
Er legte den Kopf schief und wählte seine Worte mit Bedacht. „Es war … eine politische Tat … und vollkommen sinnlos. Ich war anschließend vollkommen allein, ohne Familie; wäre Roland nicht gewesen, hätte ich nicht einmal einen Freund gehabt.“ Er blickte herab und stellte fest, dass sie ihm gespannt zuhörte. „Weißt du, ich hatte nie viele Freunde. Ich fühlte mich immerzu abgesondert – abgesondert von meinesgleichen.“
„Du hast nicht dazugehört. Ich weiß genau, was du meinst.“
Er sah ihr tief in die Augen. „Ja. Ich kann mir vorstellen, dass du das weißt.“
„Erzähl mir von deinem Freund. Habt ihr immer noch Kontakt?“
Er lachte leise. „Manchmal vergeht zwischen unseren Briefen oder Besuchen eine ganze Weile. Aber wie es der Zufall so will, ist Roland momentan bei mir zu Gast.“
Ihr Kopf ruckte empor, die Augen voller Neugierde. „Könnte ich ihn treffen?“
Eric runzelte die Stirn. „Warum möchtest du das?“
Sie musste einen Moment lang über ihre Antwort nachdenken, bevor sie schließlich sprach. „Du … hast gesagt, dass er dir das Leben gerettet hat. Ich …“ Sie schaute auf ihre Hand, die auf ihrem Knie lag. „Ich möchte ihm dafür danken.“
Eric schloss die Augen, als die Wärme ihrer Worte sein Herz durchdrang. „Er ist ein Eigenbrötler. Aber vielleicht kann ich es trotzdem einrichten. Im Gegensatz zu mir unterhält er nach wie vor einen Wohnsitz in Frankreich, wenn er sich dort auch nur selten aufhält. Er besitzt ein imposantes mittelalterliches Schloss im Tal der Loire. Nachdem wir aus Paris geflohen sind, hat er mich dort eine Zeit lang versteckt.“
Als er sie wieder anschaute, sah er, dass ihr Blick auf sein Antlitz gerichtet war, wie schon die meiste Zeit der Schlittenfahrt über. „Du bist ein faszinierender Mann“, flüsterte sie.
„Ich bin ein einfacher Mann mit einfachen Bedürfnissen.“
„Ich würde gern dein Zuhause sehen.“
„Vielleicht ein andermal. Nähme ich dich mit, während mein einsiedlerischer Freund unter meinem Dach weilt, würde er mich erwürgen.“ Er legte seinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich. „Das Haus ist beinahe ausschließlich mit Antiquitäten möbliert. Natürlich gibt es elektrisches Licht, aber ich greife nur selten darauf zurück. Ich ziehe den gedämpften Schein von Öllampen dem grellen Licht dieser weißen Glühbirnen vor, außer in meinem Labor.“
„Du bist Wissenschaftler?“
„Ich beschäftige mich nebenbei mit einigen Projekten, die mich interessieren.“
Ihre hübschen Augen verengten sich. „Ich denke, du stapelst ein wenig tief.“
Er zuckte mit den Schultern, zog an den Zügeln, um den Schlitten zum Stehen zu bringen, und griff unter den Sitz, um die Thermoskanne hervorzuholen, die er mitgebracht hatte. „Vor sehr langer Zeit hast du mir einmal gesagt, dein Lieblingsgetränk sei heiße Schokolade. Ist das immer noch der Fall?“
Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich Tamara in Gesellschaft einer anderen Person vollkommen entspannt. Die Stunden der Nacht verflogen, fast ohne dass sie es zur Kenntnis nahm. Sie unterhielten sich ohne Unterlass, schnitten jedes erdenkliche Thema an, von Musik über Kunst bis hin zu Politik. Eric faszinierte sie, und je mehr sie über ihn erfuhr, desto mehr wollte sie wissen.
Die ganze Zeit über war sie sich der körperlichen Anziehungskraft bewusst, die zwischen ihnen herrschte. Sie hatte sich mit Absicht dicht zu ihm gesetzt, damit sich ihre Körper berührten. Sie mochte es, ihn zu berühren, so sehr, dass sie sich kalt und einsam fühlte, als sie über ein Schlagloch in der Straße holperten und sie von seiner Seite gerissen wurde.
Ohne zu zögern, nahm sie ihren vorherigen Platz wieder ein. Er schien ihr Verlangen, ihm nahe zu sein, zu teilen, da er sie häufig anfasste. Er ließ seinen muskulösen Arm um sie gelegt und führte die Zügel mit nur einer Hand. Als sie unter einem tief hängenden Ast hindurchfuhren und eine Handvoll Schnee auf sie herabfiel, stoppte er den Schlitten und wandte sich ihr zu, um ihr den Schnee von den Schultern und aus ihrem Haar zu streichen.
Ihre Blicke trafen sich, und sie spürte seine unwiderstehliche Anziehungskraft. Er beugte sich vor und legte seine Lippen unendlich zärtlich auf ihre. Gleichwohl musste er merklich an sich halten. Sie gewahrte seine mühsame Zurückhaltung und wusste, dass er entschlossen war, es mit ihr langsam angehen zu lassen … um ihr Zeit zu geben, damit sie sich daran gewöhnen konnte, was zwischen ihnen geschah.
Sie fragte sich, was genau eigentlich zwischen ihnen passierte. Sie wusste, dass es stark und wirklich war. Sie wusste, dass sie noch nie zuvor etwas Vergleichbares für ein anderes menschliches Wesen empfunden hatte. Und sie wusste, dass sie nicht wollte, dass es aufhörte – um was auch immer es sich dabei handeln mochte. Sie wollte ihm das sagen, aber sie hatte keine Ahnung, wie.
Er brachte den Schlitten an derselben Stelle nahe der Auffahrt zum Stehen, wo er zuvor gestanden hatte, als sie zum Haus zurückkehrten. Er geleitete sie zur Tür und hielt inne, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte.
Bei dem Gedanken daran, ihn zu verlassen, krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Das Schloss gab nach, doch sie hielt die Tür geschlossen. Sie drehte sich um, schaute zu ihm auf und fragte sich, ob er es wusste.
„Ich würde dich gern wiedersehen“, sagte sie; mit einem Mal kam sie sich schüchtern und unbeholfen vor, was angesichts dessen, was zuvor zwischen ihnen passiert war, sonderbar schien.
„Ich glaube, ich würde nicht eine einzige Nacht überstehen, ohne dich zu sehen, Tamara“, gestand er ihr. „Ich werde wieder zu dir kommen … verlass dich darauf.“
Sie biss sich auf die Unterlippe und sah ihm ins Gesicht. „Ich bin eine erwachsene Frau. Es ist albern, hier so herumzuschleichen. Du weißt, dass du diese lächerliche Farce zwischen Daniel und dir im Handumdrehen aus der Welt schaffen könntest, wenn du nur wolltest. Komm einfach tagsüber hier vorbei. Er müsste dann zugeben, dass …“
„Liebes, er würde dann lediglich mutmaßen, dass ich irgendeinen Schutz gegen das Sonnenlicht besitze. Nichts kann seine Meinung über mich ändern.“ Sein Blick glitt kurz von ihr fort. „Ich folge meinem eigenen Zeitplan – einem, der lebenswichtig für mich ist. Warum sollte ich etwas daran ändern, bloß um den Launen eines Mannes entgegenzukommen, der alles daransetzt, mich zu schikanieren?“
„So habe ich das nicht gemeint!“ Sie seufzte mit einem Anflug von Enttäuschung. „Es ist nur, dass ich es hasse, ihn zu hintergehen.“
„Wenn du ihm davon erzählst, dass wir uns sehen, wird er einen Weg finden, dem einen Riegel vorzuschieben, Tamara.“
Sie schaute ihm wieder in die Augen und sah, wie der Hauch von Ungeduld darin verschwand, als sich ihre Blicke trafen.
„Ich muss mich korrigieren. Er würde versuchen, einen Weg zu finden, aber er hätte keinen Erfolg damit.“
Sie war davon überzeugt, dass es ihm ernst war. „Ich bin froh, dass du das gesagt hast“, gestand sie.
Sie wusste, dass er sie küssen würde. In dem Moment, bevor seine Arme ihre Taille umschlossen, sah sie, wie das Verlangen in seine leuchtenden Augen trat. Ihre Lippen öffneten sich, als seine herabkamen. Die Zurückhaltung, die er zuvor an den Tag gelegt hatte, schwand in der Sekunde dahin, als sie die Arme um seinen muskulösen Hals legte und ihren Leib gegen ihn drängte. Seine Lippen zitterten, als sie sich über ihre legten, und sie hieß seine forschende Zunge begierig willkommen.
Selbst mit ihrem dicken Mantel zwischen ihnen war sie sich der Hitze bewusst, die seine Berührungen in ihr auslösten, als glitten seine Hände über ihre nackte Haut. Er erkundete ihren Mund; seine Finger strichen leicht über ihren Nacken, und wohlige Schauer liefen ihren Rücken hinab.
Sie hatte einige sexuelle Erfahrungen gesammelt. Obwohl sie während ihrer Collegezeit auf Daniels Drängen hin zu Hause gewohnt hatte, gab es seinerzeit zahlreiche Gelegenheiten und keinen Mangel an eifrigen Lehrmeistern. Jedoch war sie noch nicht besonders oft mit Männern zusammen gewesen, und wenn, dann war eher die Neugierde ihre Triebfeder gewesen, nicht die Leidenschaft. Heute Nacht, mit Eric, wollte sie es. Ein nie gekanntes Verlangen höhlte sie aus – eine endlose Leere, die nur er füllen konnte. Diese Leere nagte unbarmherzig an ihr, und das Verlangen entlockte ihr ein tiefes kehliges Stöhnen.
Er richtete sich auf, und sie wusste, dass er ihre Begierde in ihren Augen las. Seine Lider schlossen sich, als litte er Schmerzen, und er entließ sie aus seinen Armen. „Ich muss gehen“, brachte er mühsam hervor. Er griff an ihr vorbei und stieß die Tür weit auf. Als er sie über die Schwelle schob, lag keinerlei Zärtlichkeit in seiner Berührung.
Sie spürte, wie ihr Tränen in den Augen brannten, als er sich umwandte und fortging.