Keith
16. KAPITEL
Jamey schüttelte den Kopf in dem Bemühen, ihn freizubekommen, doch das bescherte ihm lediglich quälende Schmerzen. Er war bewusstlos gewesen … so viel wusste er, wenn ihm auch nicht klar war, wie lange. Er lag auf dem Rücken, und seine nach wie vor hinter seinem Rücken gefesselten Arme waren vollkommen taub. Er versuchte sich aufzusetzen, und der Schmerz, der dabei durch seinen Oberkörper schoss, war mit nichts von dem zu vergleichen, was er je gefühlt hatte.
Er hatte das Gefühl, entzweigerissen zu werden. Er erstarrte in halb sitzender und halb liegender Position. So zu verharren schmerzte jedoch bloß noch mehr, also atmete er tief durch, um Kraft zu sammeln, doch auch das sandte lediglich weitere Pein durch seinen Leib.
Die Zähne zusammenbeißend, quälte er sich weiter nach oben und war erleichtert, als er rechts von sich eine Wand ertastete. Er lehnte sich dagegen und saß dann ganz still da, während der Schmerz allmählich abklang. Ganz verschwand er nicht, denn als das gestaute Blut in seine Arme zurückschoss, begannen sie unerträglich zu pochen, zu kribbeln und zu prickeln.
Er hätte geschrien, wäre er dazu in der Lage gewesen, doch er hatte noch immer das Klebeband über seinem Mund. Seine Augen waren nach wie vor verbunden und seine Knöchel immer noch gefesselt. Seine Lungen fühlten sich sonderbar an, und das nicht nur wegen des stechenden Schmerzes, den er jedes Mal beim Einatmen fühlte. Vielmehr fühlten sie sich an wie nach dem Schwimmen, wenn man etwas Wasser geschluckt hatte.
Er verspürte den Drang zu husten, hatte jedoch Angst, ihm nachzugeben. Wenn er mit dem Klebeband über dem Mund hustete, würde er vermutlich ersticken – besonders wenn das eigenartige Gefühl in seinen Lungen tatsächlich das war, wofür er es hielt. Er fand, dass es sich anfühlte, als würde irgendetwas geradewegs in seiner Brust stecken. Ein Messer, ein scharfkantiges Brett, auf das er bei seinem Sturz gefallen war, irgendetwas in dieser Art.
Und er dachte, dass das, was auch immer da versuchte, seine Kehle emporzukriechen und ihn zu ersticken, möglicherweise Blut war. Falls das zutraf, darüber war er sich im Klaren, dann steckte er wirklich in Schwierigkeiten.
Sie warf die Akte voller Abscheu zu Boden und wandte sich um, um dem kleinen Büro, das sie entdeckt hatte, den Rücken zu kehren. Sie hatte es noch nicht einmal bis ins eigentliche Labor geschafft, das ihrer Vermutung nach hinter der Tür mit dem Vorhängeschloss zu ihrer Rechten lag.
Sie brauchte keine weiteren Enthüllungen als die, die sie hier gefunden hatte. In Daniels Unterlagen war sie auf etwas gestoßen, das er als „Fallstudien“ gekennzeichnet hatte. Tatsächlich handelte es sich um detaillierte Berichte über die Gefangennahme und anschließende Folterung von drei Vampiren.
Zwei waren 1959 von Daniel und seinem Partner William Reinholt eingefangen worden. Das Pärchen wurde als „jung und dementsprechend nicht so stark, wie wir zunächst angenommen haben“ beschrieben. Ihnen wurde „eine größere Menge Blut entnommen, um sie zu schwächen und so die Sicherheit meines Partners und mir zu gewährleisten. Allerdings waren sie nicht imstande, den Blutverlust zu verkraften, und verschieden im Laufe der Nacht.“
Eine weitere Studie handelte von einer Frau, die sich selbst nur Rhiannon nannte und „gänzlich unkooperativ“ war, ganz abgesehen davon, dass sie „in einem fort Beschimpfungen und Beleidigungen von sich gab“. Mit ihren letzten Versuchen im Hinterkopf nahmen sie ihr weniger Blut ab und ließen ihr so zu viel Kraft, als dass sie imstande gewesen wären, sie zu bändigen. Als Daniel nach einigen Stunden voller „Versuche und Experimente“ ins Labor zurückkehrte, fand er seinen Partner tot, mit gebrochenem Genick. Die Gitter waren von dem Fenster fortgerissen worden, und die „Testperson“ war verschwunden.
Tamara verspürte den Drang, die geheimnisvolle Rhiannon zu bejubeln. Und sie wollte um den Mann weinen, der Daniel einst gewesen war. Ein Monster, genau wie er ihr gesagt hatte. Bis zu diesem Moment war ihr nicht klar gewesen, wie zutreffend seine Einschätzung von sich selbst gewesen war.
Sie widerstand dem Verlangen, von hier zu verschwinden, denn ganz gleich, wie fürchterlich die Aufzeichnungen waren, die sie fand, sie musste die Akten weiter durchsehen, wenn sie einen Hinweis darauf finden wollte, wohin man Jamey gebracht hatte. Sie hoffte bei Gott, dass es einen solchen Hinweis gab. Allmählich kam ihr der Gedanke, dass dies ihre letzte Chance war. In ihrer Magengrube machte sich die schreckliche Gewissheit breit, dass, falls sie Jamey nicht bald fand, es für ihn zu spät sein würde.
Sie wandte sich wieder dem Aktenschrank zu und durchforstete noch mehr Ordner. Es gab keine Akte mit Jameys Namen darauf, aber sie hielt inne, als sie auf einen Ordner mit ihrem eigenen Namen stieß; ihr Blut schien zu erkalten. Langsam zog sie die Akte heraus. Sie war dicker als alle anderen. Etwas in ihr warnte sie davor, sie zu öffnen und einen Blick hineinzuwerfen, aber sie wusste, dass sie nicht anders konnte.
Sekunden später wünschte sie sich, sie hätte auf ihr Gefühl vertraut. Sie verharrte beim Durchblättern der Unterlagen, als sie auf einer der Seiten die Namen ihrer Eltern entdeckte. Ihre Augen überflogen einen einzigen Abschnitt, bevor ihr Blick zu sehr verschwamm, um weiterlesen zu können.
Es wurde entschieden, dass ich versuchen solle, die Vormundschaft für das Kind zu erhalten. Sie wird auf Marquand und wahrscheinlich auch auf andere der untoten Spezies wie ein Magnet wirken. Wie erwartet, weigern sich die Eltern zu kooperieren. Sie sind allerdings entbehrlich und von geringerem Wert als die zahllosen Leben, die wir zu retten imstande sein werden, sobald dieses Experiment Früchte trägt. Man hat einen seltenen Virenstamm ausgewählt. Die Freisetzung wird sorgsam überwacht. Der Tod wird innerhalb von vierundzwanzig Stunden eintreten.
„Nein“, flüsterte sie. „Oh Gott, nein …“
Die Akte fiel aus ihren kraftlosen Fingern, und die Blätter verteilten sich über den Boden. Tamara packte die Kante der offenen Schublade des Aktenschranks und beugte den Kopf darüber. Daniel hatte ihre Eltern umgebracht. Einen Moment lang sah sie sie vor ihrem geistigen Auge und schämte sich, weil sie ihr nur verschwommen und undeutlich erschienen.
Sie vermochte sich kaum an sie zu erinnern. Man hatte ihr auch ihre Erinnerung an sie geraubt. Daniels Weigerung, über sie zu sprechen … sein Verbot, Andenken von ihnen zu behalten … sein fortwährendes Reden, dass ihr Verstand nicht wolle, dass sie sich erinnerte, dass sie besser daran täte, all das zu vergessen …
Tamara atmete mehrmals kurz durch und zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte ihre Tränen fort und erhaschte einen Blick auf den polierten Griff einer Pistole, die unter den Akten in der Schublade hervorlugte. Just als sie die Hand danach ausstreckte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter und zog sie rückwärts.
Sie wirbelte herum. „Curtis!“
Sein Blick wanderte erst über sie, dann über die offenen Schubladen und die im Raum verstreuten Akten. „Na, hast du eine kleine Entdeckungsreise unternommen, Tammy?“
Warum nur hatte sie auch nur eine Sekunde lang an Eric gezweifelt, fragte sie sich im Stillen. Warum war sie nicht geradewegs zu ihm gefahren, als sie erkannt hatte, dass Curtis Daniel auf dem Gewissen haben musste? Er hätte ihr geholfen, Jamey zu finden. Gleichwohl, diese Einsicht kam ein bisschen zu spät. Bis es draußen gänzlich dunkel war, würde noch eine Stunde vergehen. Und sie musste immer noch in Erfahrung bringen, wo sich der Junge befand. „Was hast du mit Jamey gemacht, Curtis?“
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Du warst wirklich fleißig. Aus welchem Grund nimmst du an, dass ich das Kind habe?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich nehme es nicht an, ich weiß es. Wo ist er?“
„Er ist in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen, ich würde dem Kind nichts antun … zumindest noch nicht. Ich würde ihn gern ein bisschen erforschen. Später. Wenn ich mit dir und Marquand fertig bin. Beruhigt dich das?“
Tamara schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Haar sie umflatterte wie eine dunkle Wolke. „Ich schwöre bei Gott, Curtis, wenn du ihm wehtust …“
„Du solltest dir besser Gedanken um dich selbst machen, Tammy.“ Er trat einen Schritt näher an sie heran, und sie wich zurück. Er tat einen weiteren, genau wie sie. Mit einem Mal begriff sie, dass er sie zu der Tür mit dem Vorhängeschloss getrieben hatte. Er zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und reichte ihn ihr. „Mach auf.“
Sie schüttelte erneut den Kopf. „Nein.“
„Du willst doch das Kind sehen, oder nicht?“
„Jamey?“ Tamara blickte verstohlen über die Schulter zur Tür. „Ist er etwa da drin?“
„Wo hätte ich ihn denn sonst unterbringen sollen?“
Erleichterung überfiel sie, und sie entriss ihm den Schlüssel, schob ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Als das Schloss aufsprang, zog sie es ungestüm ab und warf die Tür weit auf. Wenn sie es nur schaffte, zu Jamey zu gelangen, dachte sie, dann würde alles in Ordnung kommen. Bald wurde es dunkel, und Eric würde kommen, um sie zu retten. Sie betrat den dunklen Raum. „Jamey? Ich bin’s, Tam. Ich bin hier. Es ist alles in Ordnung … Jamey?“
Die Tür fiel zu, und ihr Herz machte einen Satz, als sie hörte, wie Schlösser an ihren Platz glitten. Das Umlegen eines Lichtschalters tauchte den Raum in ein so grelles Licht, dass sie blinzeln musste, um etwas erkennen zu können. Sie schaute sich um und gelangte zu dem Schluss, dass Jamey nicht hier war.
In der Mitte des Raums thronte ein Tisch mit Gurten an den Stellen, wo die Handgelenke, die Knöchel und der Kopf der darauf liegenden Person fixiert werden würden. Neben dem Tisch stand ein Chromtablett mit glänzenden Instrumenten, sorgsam aufgereiht. Darüber hing eine kuppelförmige OP-Lampe.
Panik stieg in ihr auf, und sie schluckte schwer angesichts der fürchterlichen Erkenntnis, dass dies der Raum war, in dem die beiden jungen Vampire durch Daniels Hand gestorben waren; wo man Rhiannon so lange gefoltert hatte, bis es ihr in ihrem mörderischen Zorn gelang zu fliehen.
Sie wandte sich um, um Curtis anzusehen, als sie hörte, wie er näher kam; im nächsten Moment packte er sie unbarmherzig an den Oberarmen. Er drängte sie rückwärts, ohne sich um ihre wirbelnden Arme oder Füße zu scheren, mit denen sie ihn an den Schienbeinen traf. Als sie mit dem Rücken gegen den Tisch stieß, holte sie keuchend Luft. „Mein Gott, Curtis, was hast du vor?“
Curtis zwang ihre Handgelenke mit einer Hand zusammen und griff mit der anderen nach einer Flasche. Er drehte den Deckel mit den Zähnen ab und hielt ihr die Flasche unter die Nase. Sie drehte ihren Kopf von dem erschreckend vertrauten Geruch fort, doch ihre Bewegungsfreiheit war eingeschränkt und seine Reichweite zu groß.
Als Schwindel ihren Kopf befiel und ihre Knie nachgaben, stellte er das Chloroform beiseite und drückte sie grob auf den Tisch. Einen Moment später war sie an Knöcheln und Handgelenken gefesselt. Sie blinzelte das Schwindelgefühl fort und wandte hastig ihr Gesicht ab, als er ihr ein starkes Riechsalz unter die Nase hielt.
„Braves Mädchen. Werd mir jetzt ja nicht ohnmächtig. Das würde alles zunichtemachen.“ Sie bemühte sich, den sich drehenden Raum schärfer zu sehen, und war erleichtert, als er schließlich aufhörte zu rotieren. „Du kannst ihn mit deinem Geist rufen, habe ich recht?“
Sie schürzte die Lippen und weigerte sich, ihn anzuschauen.
Er packte ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Dann schweig ruhig, Tammy. Aber ich wette, du kannst es. Wir werden es bald wissen, nicht wahr?“ Er deutete ihren Gesichtausdruck richtig und lächelte. „Du glaubst, ich habe Angst vor ihm, Tammy? Ich will, dass du ihn rufst. Wenn er hierherkommt, werde ich schon auf ihn warten.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde es nicht tun.“
Curtis lächelte bedächtig, und Tamara spürte, wie ein kalter Schauer ihren Rücken hinablief. „Nun, ich glaube, das wirst du doch“, sagte er und beugte sich vor, um den Gurt über ihre Stirn zu legen, der sie zur Gänze bewegungsunfähig machte. „Ich glaube, bis ich mit dir fertig bin, wirst du nach ihm schreien, damit er zu dir kommt.“
Er griff zu dem Tablett, und sie versuchte seiner Bewegung mit den Augen zu folgen. Er nahm ein glänzendes Skalpell zur Hand, betrachtete es eine kleine Weile und drehte dann sein Handgelenk, um einen Blick auf seine Uhr zu werfen. „Zwanzig Minuten reichen mir voll und ganz, Süße.“
Eric versteifte sich in seinem Sarg, als eine Woge des Schmerzes seinen Körper durchtoste. Schlagartig hellwach, riss er die Augen weit auf, öffnete den Verschluss und warf den Deckel hoch. Einen Lidschlag später war er mit vor Konzentration zusammengekniffenen Augenbrauen auf den Beinen. Er konzentrierte sich auf Tamara. Er rief nach ihr und wartete auf eine Antwort, die nicht kam.
Einen kurzen Moment lang fragte er sich, ob es möglich war, dass sie tatsächlich glaubte, was Rogers sie glauben zu machen versucht hatte – dass er ihren geliebten St. Claire ermordet hatte. Er verwarf diesen Gedanken. Sie kannte ihn gut genug. Sie war sich vollkommen darüber im Klaren, dass sie lediglich einen Blick in seinen Verstand zu werfen brauchte, um die Wahrheit zu erfahren.
Sie würde ihn nicht für schuldig halten, ohne ihm eine Chance zu geben, alles zu erklären. Aus diesem Grund hatte er damit gerechnet, dass sie oben auf ihn warten würde, wenn er heute Abend aufstand. Stattdessen fühlte er nur Leere. Zweifellos war sie außer sich vor Trauer, aber er würde nicht zulassen, dass sie ihn ausschloss. Er würde ihr helfen, ganz gleich, ob sie damit einverstanden war oder nicht. Erneut rief er nach ihr, und erneut erhielt er keine Antwort.
Roland erhob sich mit der ihm eigenen Anmut; gleichwohl, als Eric seinen Freund ansah, entdeckte er eine ungewohnte Anspannung in Rolands Gesicht. Er hörte auf, Tamara zu rufen, um zu fragen: „Was ist los?“
„Ich bin mir nicht sicher.“ Roland schüttelte sich. „Hast du etwas von unserer werten Tamara gehört?“
„Sie antwortet nicht auf mein Rufen.“
„Dann geh zu ihr. Nach vergangener Nacht ist sie gewiss nicht ganz auf der Höhe, aber ich habe keinen Zweifel, dass sie die Wahrheit erkennen wird, wenn du sie ihr erzählst. Wenn du …“ Er hielt inne und neigte den Kopf zur Seite, als würde er auf etwas lauschen. „Verdammich!“
Eric hob eine Augenbraue und erwartete eine Erklärung, aber Roland schüttelte bloß den Kopf. „Ich bin mir nach wie vor nicht sicher. Ich werde eine Weile fort sein, um zu sehen, ob ich dahinterkomme, was vorgeht. Bist du in der Lage, mit dem hier allein zurechtzukommen?“
„Natürlich, aber …“
„Gut. Grüß unser Mädchen von mir.“
Roland machte auf dem Absatz kehrt und verschwand, während Eric ihm hinterherschaute und sich fragte, was, zum Teufel, vor sich ging. Mit einem Schulterzucken wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Tamara zu.
Warum ignorierst du mich, meine Liebste?
Er spürte keine Erwiderung. Dann schoss mit einem Mal eine weitere Welle der Pein durch ihn hindurch, und sein Rückgrat versteifte sich. Er blinzelte hastig und erkannte, dass es ihr Schmerz sein musste, wenn er selbst ihn so intensiv fühlte.
Tamara! Wenn du dich weigerst, mir zu antworten, werde ich zu dir kommen. Ich muss wissen, was …
Nein!
Ihre Antwort hallte laut in seinem Kopf wider, und er runzelte die Stirn. Liebste, du leidest Schmerzen. Was geschieht mit dir?
Nichts. Halt dich fern, Eric. Wenn du mich liebst, dann hältst du dich fern. Erneut traf ihn intensiver, quälender Schmerz, der ihn beinahe in die Knie gehen ließ, und er wusste, dass jemand ihr mit Absicht wehtat. Rogers?
„Ich hätte den Mistkerl umbringen sollen, als er mir das erste Mal unter die Augen kam.“ In seiner Eile, zu ihr zu gelangen, riss er um ein Haar die Tür aus den Angeln. Er lief die Treppe hinauf und dann in die kalte Nachtluft hinaus. Seine übernatürliche Stärke verlieh ihm die Geschwindigkeit eines Geparden und noch mehr. Er jagte zu ihr und wäre geradewegs durch die Eingangstür gestürmt, hätte ihn nicht ein unsteter Gedankengang daran gehindert.
Das ist eine Falle, Eric. Bleib weg. Bitte bleib weg.
Er hielt inne; sein Herz pochte, nicht vor Anstrengung, sondern vor Wut und aus Angst um Tamara. Eine Falle, hatte sie gesagt. Er benutzte seinen Geist, um sie aufzuspüren, dann umrundete er vorsichtig das Haus und suchte nach einem anderen Weg hinein. Schließlich kniete er neben einem vergitterten Fenster nieder, das von Sträuchern vor neugierigen Blicken verborgen war.
Tamara lag unter blendend grellem Licht auf einen Tisch gefesselt. Ihre Bluse war in der Mitte durchgeschnitten worden, ebenso ihr Büstenhalter. Sie trug noch immer ihren dunklen Rock, und ihre Füße waren bloß. Heiße pinkfarbene Stofffetzen sogen an verschiedenen Stellen ihres Oberkörpers Blut auf, so wie ein Schwamm Wasser aufsaugt; einer davon befand sich auf jener Brust, von der Eric selbst ihr Blut gekostet hatte. Ein anderer lag auf der entsprechenden Stelle an ihrem Hals.
Eric erkannte, dass Rogers sich einen Spaß daraus gemacht hatte, Gewebeproben zu entnehmen. Jetzt stand er neben ihr, legte ein messerähnliches Instrument beiseite und nahm etwas zur Hand, was aussah wie ein Bohrer.
„Selbst das Ding hat dich nicht dazu gebracht, ihn zu rufen, was, Tam? Nun ja, ich habe noch andere Tricks auf Lager. Ich könnte wirklich eine Probe deines Knochenmarks gebrauchen.“ Er drückte auf den Einschaltknopf, und der Bohrer setzte sich in Bewegung. Er ließ den Knopf los und hielt das Gerät drohend über ihren Unterschenkel. „Wie sieht’s aus, Tamara? Rufst du ihn, oder soll ich bohren?“
Tamaras Gesicht wurde leichenblass. Ihr Kinn zitterte, aber sie schaute Rogers geradewegs in die Augen. „Fall tot um“, stieß sie hervor.
Mit einem Schulterzucken streifte Rogers eine Plastikschutzbrille über und senkte den Bohrer. Mit einem wilden Knurren schlug Eric die Scheibe ein und riss die erste Eisenstange vom Fenster, die er zu packen bekam. Innerhalb einer Sekunde war er drinnen.
„Eric, nein! Verschwinde, schnell!“ Ihre Stimme war kaum als die ihre zu erkennen; es war das zähe Knirschen eines uralten Kirschbaums, ein Laut wie Sandpapier.
Eric stürzte sich auf Curtis, der den Bohrer fallen ließ und etwas hochhob, das aussah wie eine merkwürdige Art von Pistole. Er war flink genug: Der Pfeil traf Erics Oberkörper. Dieser zuckte zurück, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und ging in die Knie. Er packte den Pfeil, zog ihn aus seinem Körper, hielt ihn in die Höhe und betrachtete erst ihn, dann Rogers’ triumphierendes Grinsen dahinter. Die Droge. Eric hatte eine Spritze erwartet, keine Pistole.
Er zwang sich auf die Füße und tat einen unsicheren Schritt auf Rogers zu. „Dafür … wirst … du sterben“, keuchte er. Er trat einen weiteren Schritt vor und versank dann in einem bodenlosen See schwarzen Nebels.
Roland bewegte sich wie ein Schatten durch die Nacht, eilte durch die dunklen Straßen, verharrte dann, um zu lauschen, und huschte weiter. Er kam dem Jungen immer näher. Der schwache Geruch des Kindes hatte ihn beschäftigt, seit er den Fuß über Erics Türschwelle gesetzt hatte. Gleichwohl, er war so schwach gewesen, dass Roland ihn kaum wahrgenommen hatte, geschweige denn in der Lage gewesen wäre, seine Quelle ausfindig zu machen.
Selbstverständlich war er sich darüber im Klaren, dass die Auserwählten für gewöhnlich nur mit einem einzigen Vampir „verbunden“ waren. Er war als Einziger imstande gewesen, Eric zu spüren, als er noch ein Kind war. Natürlich hätten andere Vampire ihn als das erkannt, was er war, wenn sie ihm begegnet wären, aber keiner von ihnen wäre in der Lage gewesen, seine Rufe zu vernehmen. Sie spürten nicht wie er die Anziehungskraft, die Eric ausübte. Genau wie in Tamaras Fall war es Eric gewesen, mit dem die Verbindung ihren Anfang genommen hatte. Und jetzt spürte Roland Tamara durch Eric.
Dieser Junge rief nach jemandem … und nicht nach Roland. Hätte er Roland gerufen, wäre alles viel einfacher gewesen. So wie die Dinge lagen, ohne den geringsten Hauch einer Spur, der er folgen konnte, und eingedenk des Umstands, dass sich der Junge vermutlich nicht einmal darüber im Klaren war, dass er diese Signale aussandte, konnte er von Glück sagen, wenn er Jamey rechtzeitig fand.
Das war das Problem dabei, dachte Roland, als er von Neuem innehielt, in dem Versuch, den Signalen nachzuspüren, die das Kind ausschickte. Mit jedem verstreichenden Moment wurden sie schwächer. Das Wissen darum, dass das Leben des Kindes zusehends verrann, übertönte die Anziehungskraft, die an ihm zerrte wie eine Alarmglocke, die in Rolands Kopf schrillte – vergleichbar mit einer von Erics Sicherheitsvorkehrungen.
Wenn er den Jungen doch nur stärker spüren könnte! Wenn der Junge nur seine unsichtbaren Finger nach ihm ausstrecken würde anstatt nach jemand anderem – nach jemandem, der ihm offensichtlich nicht zuhörte. Roland war nicht bewusst gewesen, dass einer der ihren imstande war, die verzweifelten Schreie eines Kindes zu ignorieren, eines Kindes, das aller Wahrscheinlichkeit nach sterben würde, bevor diese Nacht vorüber war.
Eric öffnete die Augen und stellte fest, dass man ihn an denselben Tisch gefesselt hatte, auf dem Tamara gelegen hatte. Seine Hände, Füße und sein Kopf waren genauso gefesselt wie bei ihr. Im Gegensatz zu ihr jedoch war er noch immer voll bekleidet. Wahrscheinlich war sich der Mistkerl nicht sicher gewesen, wie lange seine Droge wirken würde, und wollte kein unnötiges Risiko eingehen, selbst Schaden zu nehmen.
Er wollte nicht, dass Eric erwachte, ehe er vollständig gefesselt war … als würden diese schäbigen Gurte irgendeinen Unterschied machen. Eric zerrte daran und war überrascht, dass seine Bemühungen ihn schwach und schwindelig zurückließen.
Er hat dir kanülenweise Blut abgenommen, Eric. Das ist der Grund dafür, dass du so schwach bist.
Die Erklärung drang aus Tamaras Gedanken in seine, zusammen mit einem hartnäckigen Schmerz, einem erschütternden Gefühl der Schwäche und absoluter Verzweiflung. Ihn verlangte danach, sie zu sehen, doch er war außerstande, seinen Kopf zu drehen. Er versuchte seine benommenen Sinne auf sie auszurichten, und endlich begannen sie, wieder schärfer zu werden. Er wusste, dass sich Curtis nach wie vor im Raum aufhielt. Das war der Grund, warum sie nicht laut gesprochen hatte.
Was hat der Mistkerl dir angetan?
Nichts Schlimmes, kam die schwache Antwort. Ich komme wieder in Ordnung.
Ich spüre deinen Schmerz, Tamara. Ich kann dich nicht sehen, und wenn du mir etwas verschweigst, werde ich mir nur noch mehr Sorgen machen. Sag es mir. Sag mir alles.
Er spürte den Schauder, der sie durchlief, als ränne er durch seinen eigenen Körper.
Er … hat mir kleine Hautstücke entnommen. Es brennt, aber die Schnitte sind nicht tief. Er hat mir auch Blut abgenommen.
Eric fühlte ihren Schmerz, überzeugt davon, dass das noch nicht alles war. Die Wogen der Pein, die er vorhin wahrgenommen hatte, hatten ihre Ursache nicht in oberflächlichen Abschürfungen gehabt.
Als ich hier eintraf, hielt er ein Instrument in Händen – ein stangenförmiges Gerät, das er über dir geschwenkt hat. Was war das?
Sie zögerte einen Moment. Es ist … mit Elektrizität … aufgeladen.
Wut durchströmte Eric. Dafür würde er Curtis Rogers umbringen, schwor er sich im Stillen, selbst während Tamara fortfuhr: Er hat Daniel umgebracht. Er wollte, dass ich glaube, dass du es warst, aber das könnte ich niemals glauben. Er hat Jamey entführt, Eric. Ich weiß nicht, was er mit ihm angestellt hat …
Ihre Gedanken endeten abrupt, als sich Curtis’ Schritte näherten. Er beugte sich über Eric. „Endlich aufgewacht? Die Droge hat nicht so lange gewirkt, wie ich gehofft habe, aber schließlich ist sie ja noch in der Erprobungsphase, nicht wahr?“
„Du bist zu weit gegangen, Rogers.“
„Und im Moment kannst du nicht das Geringste dagegen unternehmen, nicht wahr? Weißt du, ich werde auch ein paar Proben von dir brauchen. Ein bisschen Knochenmark, etwas Hirnflüssigkeit. Und dann werden wir mal sehen, wie viel Sonnenlicht du ertragen kannst.“
Eric fühlte die Angst, die Tamara verspürte, als Rogers im Detail seine Pläne ausführte. Auch spürte er, wie der schwächende Effekt der Droge allmählich nachließ. Seine Stärke begann in seine Körperteile zurückzufließen.
„Das darfst du ihm nicht antun, Curtis. Bitte, um Gottes willen, wenn du je etwas für mich empfunden hast, dann lässt du ihn gehen.“
Rogers trat vom Tisch zurück. Eric konnte sich nicht umdrehen, aber er wusste, dass der Mistkerl sie anrührte. Er fühlte, wie sie vor Ekel erzitterte, und lauschte den gefühllosen Worten.
„Hast du es noch immer nicht begriffen? Ich habe nie auch nur das Geringste für dich empfunden … Du warst nichts anderes als ein Forschungsobjekt. Ein Vampirhalbblut, Tam. Denn das bist du. Das Einzige, wozu du taugst, ist für wissenschaftliche Forschung. Oh, möglicherweise bist du auch noch für einige andere Dinge gut. Ich habe die Absicht, das herauszufinden, bevor ich mit dir fertig bin.“
Unwillkürlich musste sie schluchzen, und Eric riss an seinen Fesseln. Die Bewegung sorgte dafür, dass Rogers sich ihm rasch wieder zuwandte. „Hmm, für meinen Geschmack bist du ein wenig zu lebhaft“, sagte er, während er mit den Instrumenten auf dem Tablett herumklapperte.
Einen Moment später zuckte Eric zusammen, als eine Nadel in seinen Arm gestoßen wurde. Er spürte, wie die Lebenskraft seinen Körper mit jedem Tropfen seines Blutes, der in die wartende Kanüle floss, mehr und mehr verließ. Innerhalb weniger Sekunden fühlte er sich schwindlig und zu schwach, um auch nur einen Finger zu rühren. Er spürte, wie er das Bewusstsein verlor.
Seine bleischweren Lider fielen zu, und wie von Ferne hörte er Tamara schreien: „Hör auf damit, Curtis, bitte! Mein Gott, du bringst ihn um …“
Tamara wehrte sich gegen den Gurt, den er um sie gelegt hatte, doch es war zwecklos. Ihre Hände waren hinter dem Stuhl zusammengebunden, auf den Curtis sie gesetzt hatte, ihre Knöchel an die Stuhlbeine gefesselt. Dank der unzähligen Proben, die er aus ihrer Haut entnommen hatte, pulsierte ihr gesamter Körper vor Schmerz.
Noch immer war ihr schwindlig vom Verlust des Blutes, das er ihr abgenommen hatte, ebenso fühlte sie sich geschwächt und aufgewühlt von den Elektroschocks, die er durch sie hindurchgejagt hatte, in dem Versuch, sie dazu zu zwingen, Eric herbeizurufen. Sie hatte sich geweigert, aber es nützte nichts. Eric hatte ihren Schmerz gespürt und war an ihre Seite geeilt. Ihr hätte klar sein müssen, dass er das tun würde. Er war gekommen, um ihr zu helfen, und nun konnte sie nichts weiter tun, als hier zu sitzen und zuzusehen, wie Curtis ihm das Blut abzapfte.
Eric wurde zusehends blasser und erschlaffte vollkommen. Schließlich entfernte Curtis die Nadel. Er hob Erics Augenlider und leuchtete mit einer Taschenlampe hinein, ehe er zufrieden nickte.
Sie war überrascht, als Curtis auf die Uhr sah und dann die Fensterläden schloss. „Ich denke, es ist sicherer, tagsüber an ihm zu arbeiten, meinst du nicht auch, Tamara?“ Er fegte das zerbrochene Glas achtlos beiseite und scherte sich nicht um die Eisenstange, die Eric herausgerissen hatte. Er wandte sich zu einem der Regale, um daraus eine frische Kanüle nebst Spritze hervorzuholen, und unwillkürlich zuckte Tamara zusammen.
„Nur die Ruhe“, sagte er leise. „Ich will mich ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Ich weiß, dass er nirgends hingeht, aber ich muss sicherstellen, dass du ebenfalls keine Dummheiten machst, nicht wahr?“ Er packte ihren Arm und stieß die Nadel viel tiefer als notwendig in ihr Fleisch. Sie versteifte sich und versuchte sich der Müdigkeit zu widersetzen, die sie zunehmend überfiel.
Curtis ließ seine Hand über ihre Brüste wandern, bevor er sie fortzog. Wäre sie imstande gewesen, ihre Arme zu bewegen, hätte sie ihre zerrissene Bluse um sich zusammengerafft. Seine Berührung löste in ihr den Drang aus, sich zu übergeben.
„Ich hasse dich … dafür“, brachte sie gerade noch hervor, bevor sie nicht länger in der Lage war, der Müdigkeit zu widerstehen. Ihr Kopf sackte nach vorn.
Sie vermochte nicht zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, als sie ihn schließlich wieder hob. Die dunklen Stellen zwischen den Fensterläden waren jetzt eher grau als so schwarz wie zuvor, was sie fürchten ließ, dass die Dämmerung nahte. Ihre Arme schmerzten davon, dass sie auf ihrem Rücken zusammengebunden waren, und ihr Kopf dröhnte so gewaltig, dass sie kaum etwas erkennen konnte.
Als sich ihr Blickfeld endlich klärte, sah sie, dass Eric noch genauso dalag wie zuvor, so blass und reglos wie … nein. Sie würde diesen Gedanken nicht zu Ende bringen. Er war in Ordnung. Er musste es sein.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen und hüpfte mit dem Stuhl zu ihm hinüber. „Eric. Wach auf, Eric, wir müssen von hier verschwinden.“ Dass er keinerlei Reaktion zeigte, schreckte sie nicht. Sie erreichte den Tisch und drehte sich um, sodass ihr Rücken an seiner Seite war. Sie beugte sich vornüber und spannte ihre Beine an, bis es ihr gelang, den Stuhl auf ihren Rücken zu heben.
Sie tastete mit den Fingern, bis sie schließlich die seinen fand, und ergriff sie. „Spürst du, wie ich dich berühre? Wach auf, Eric. Binde mich los. Komm schon, ich weiß, dass du es kannst. Wenn du wach genug wirst, um diesen verdammten versteckten Knopf zu drücken, dann kannst du auch wach genug werden, um einen einfachen Knoten zu lösen. Unser Leben liegt in deinen Händen, Eric. Bitte.“
Sie atmete tief durch, als sie spürte, wie sich seine Finger bewegten. „Gut so. So ist es richtig.“ Sie winkelte ihre Hand so an, dass der Knoten seine Fingerspitzen berührte, und sprach weiter leise zu ihm, als sie spürte, wie sich seine Finger bewegten. Sie wusste, dass ihm dies unglaubliche Mühe bereitete. Sie spürte, wie viel Kraft es ihn kostete, auch nur seine Finger zu bewegen. Dann merkte sie, wie der Riemen von ihren Händen abfiel, und hörte, wie er ausatmete.
Sofort beugte sie sich vor, um ihre Füße loszubinden. Sie erhob sich, wandte sich um und lehnte sich vor, um die Gurte zu lösen, die seine Knöchel und Handgelenke an Ort und Stelle hielten. Als sie sich über seinen Kopf beugte und den letzten Gurt löste, strich sie mit ihrer Handfläche über sein kühles Gesicht. „Sag mir, was ich tun muss, Eric.“ Sie wollte ihm helfen, aber sie war sich nicht sicher, wie. Heiße Tränen rannen ihr Gesicht herab, um auf seins zu tropfen.
Seine Augenlider flatterten und blieben schließlich offen. „Geh“, flüsterte er. „Lass mich hier …“ Seine Lider fielen wieder zu. „Zu spät“, murmelte er.
„Nein, das ist es nicht. Das darf nicht sein. Tu das nicht, Eric, lass mich nicht allein.“
Ihr stockte der Atem, als die Erinnerung einem Sturzbach gleich durch ihre Gedanken toste. In ihrer Einbildung war es nicht Eric, der dort auf dem Tisch lag. Es war Tamara, eine sehr junge Tamara, die klein, blass und verängstigt war. Ihre Handgelenke waren bandagiert, doch sie wusste, dass die Bandagen nicht helfen würden. Sie würde sterben. Sie konnte es spüren.
Dann war der große dunkle Mann neben ihrem Bett aufgetaucht. Schon damals war ihr sein Gesicht vertraut gewesen. Sie kannte seinen Namen nicht, aber das war nicht von Belang. Er war ihr Freund … Sie hatte ihn schon zuvor gesehen, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Sie spürte, dass er nicht gesehen werden wollte, und sie wollte ihn nicht verschrecken.
Normalerweise kam er nachts, um nach ihr zu sehen. Bei ihm fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie wusste, dass er sie liebte. Sie fühlte es, so wie man die Hitze einer Kerze spüren konnte, wenn man die Hand in die Nähe der Flamme hielt.
Sie war heilfroh, dass er hier bei ihr war. Aber auch traurig, weil er weinte. Er blieb lange neben ihrem Bett stehen, streichelte ihr Haar und war sehr traurig. Sie wollte mit ihm sprechen, aber sie war so schwach, dass sie kaum imstande war, die Augen zu öffnen. Nach einer Weile tat er etwas. Er verletzte sich selbst. An seinem Handgelenk war ein Schnitt, den er gegen ihre Lippen presste.
Im ersten Moment dachte sie, dass sie den Schmerz fortküssen sollte, damit es nicht mehr wehtat, so wie ihre Mutter es manchmal bei ihr machte. Doch sobald das Blut ihre Zunge berührte, spürte sie, wie etwas durch sie hindurchschoss … genau wie damals, als sie das durchgescheuerte Kabel einer Lampe berührt hatte. Bloß dass es dieses Mal nicht wehtat und ihr auch keine Angst einjagte wie seinerzeit. Genauso durchfuhr es sie jetzt, und mit einem Mal wusste sie, dass er ihr die Medizin verabreichte, die sie brauchte, um wieder gesund zu werden, und sie schluckte sie.
Sie spürte, wie sie mit jedem Schluck stärker wurde. Eine ganze Weile später zog er sein Handgelenk fort und wickelte ein sauberes weißes Taschentuch darum. Er sank auf den Stuhl neben dem Bett und war fast so weiß wie das Taschentuch. Er fühlte sich schwach und müde, während sie sich stärker und gesünder fühlte. Sie wusste, dass sie wieder gesund werden würde. Und als sie ihn erneut anblickte, kannte sie auf einmal seinen Namen.
Tatsächlich wusste sie aus irgendeinem Grund plötzlich alles über ihn. Sie setzte sich im Bett auf und lauschte ihm, als er ihr Geschichten erzählte und Gutenachtlieder sang. Er war ihr Held, und sie vergötterte ihn. Es brach ihr das Herz, als er schließlich gehen musste.
Tamara schüttelte sich und wischte die Tränen fort. „Ich erinnere mich“, sagte sie zu ihm. „Oh Eric, ich erinnere mich.“
Seine einzige Reaktion bestand in einem unmerklichen Flackern seiner Lider. Seine Lippen formten das Wort „Geh“.
„Nicht ohne dich“, sagte sie.
„Zu … schwach.“ Es kostete ihn unglaubliche Mühe, diese Worte hervorzubringen. Sein Gesicht war vor Anstrengung gezeichnet. „Geh schon.“
„Niemals“, flüsterte sie. „Selbst wenn ich dich auf dem Rücken tragen müsste, Eric, selbst wenn ich hinauskriechen müsste … Eher würde ich mir die Handgelenke aufschlitzen, als dich hier zurückzulassen mit …“ An dieser Stelle brach sie ab.
Er zwang ein weiteres Mal seine Augen auf und blickte sie an. „Nein. Du … zu schwach … könntest zu viel … verlieren.“
Ohne auf ihn zu achten, warf Tamara einen Blick auf das Tablett und griff nach einem Skalpell. „Nein …“ Er legte so viel Kraft in das Wort, wie er nur aufzubringen vermochte. „Könntest … sterben …“
Sie biss die Zähne zusammen und zog die Klinge über ihren Unterarm. Sie zwang den kleinen Schnitt an seinen Mund. Zu schwach, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen, blieb Eric keine andere Wahl, als zu schlucken.
Langsam floss ihr Blut in ihn, doch aufgrund der Blutproben, die Curtis ihr entnommen hatte, fühlte sie sich schon bald schwach und schwindelig. Ihr Kopf kreiste, und der Raum um sie her begann sich zu drehen. Eric stieß sie von sich, packte den Riemen, der sie zuvor an den Stuhl gefesselt hatte, und band ihn gleich oberhalb des Schnitts fest um ihren Arm.
Sie hörte undeutlich, wie sich die Tür öffnete, nur Sekundenbruchteile bevor sie von Eric fortgerissen wurde. Curtis wirbelte sie herum und donnerte seine Faust gegen ihre Schläfe, um sie auf die Knie zu schicken. Sie blinzelte benommen, als sich die Decke über ihr drehte, und versuchte zu erkennen, was vor sich ging.
Eric stand da, während Curtis eine Spritze aus einem der Regale fischte. Geduckt und bereit wartete er. Eric nahm dieselbe Position ein, und die beiden Männer umkreisten einander aufmerksam, jeder darauf gefasst, dass sich der andere auf ihn stürzte.
Sie musste Eric beistehen, dachte sie wie durch dichten Nebel. Er hatte keinerlei Chance gegen Curtis’ neue Droge, und falls es Curtis diesmal wieder gelang, ihn zu bezwingen, würde er ihn ohne Zweifel umbringen, dessen war sie sich gewiss. Es war ihr schlichtweg nicht möglich, nur dazusitzen und abzuwarten, wer von den beiden nach diesem Kampf noch atmete. Eric durfte nicht verlieren, so einfach war das. Wenn das geschah, würden sie beide in diesem Gruselkabinett sterben. Und was wurde dann aus Jamey?
Unbeachtet von den beiden Männern huschte sie über den Boden rückwärts zu der Tür, die Curtis weit offen gelassen hatte. Als sie dort anlangte, packte sie den Griff und zog sich auf die Füße.
Schwindel überfiel sie, und sie wankte, aber mit einem verzweifelten Satz nach vorn schaffte sie es bis zum Aktenschrank und betete, dass er noch immer unverschlossen war. Sie hörte, wie etwas im Labor zu Boden krachte. Sie hörte, wie Glas zersplitterte und Metall schepperte. Sie riss an der obersten Schublade und zog sie auf.
Sie griff hinein und tastete blindlings darin herum, indes sie einen Blick über die Schulter warf, überzeugt davon, dass Curtis jede Sekunde auftauchen würde. Ihre Hand schloss sich um den glatten Walnussgriff, und langsam holte sie die Pistole hervor. Stolpernd kehrte sie zur Tür zurück. Curtis wandte ihr den Rücken zu. Er stand zwischen ihr und Eric, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte und sie ansah. Sie spannte den Hahn mit dem Daumen.
„Das reicht, Curtis. Leg die Spritze weg oder – Curtis!“
Curtis stürzte sich auf Eric und holte weit mit der Spritze aus.
Tamaras Finger krümmte sich um den Abzug, und ehe sie selbst recht begriff, was sie tat, feuerte sie zweimal.
Curtis zuckte wie eine Marionette, an deren Fäden plötzlich gezogen wird, dann glitt er langsam zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Eric krachte gegen die Wand, als wäre er geschlagen worden. Tamara sah das Blut, das sich auf seiner Brust ausbreitete, dann fiel auch er zu Boden.
„Eric!“, schrie sie und ließ die Waffe fallen. „Mein Gott, Eric!“
Draußen vor dem verwaisten zerfallenden Gebäude hielt Roland inne. Noch vor einer Sekunde war das Signal des Jungen so stark wie nie zuvor. Jetzt war es mit einem Mal vollständig verschwunden. War das Kind gestorben? Voller Verzweiflung ging Roland hinein, und seine Nachtsicht offenbarte ihm die kleine Gestalt, die kraftlos an der Wand lehnte.
Er kniete neben dem Jungen nieder, und ein Schnipsen seines Fingers genügte, um das Seil zu durchtrennen, das Jamey an Handgelenken und Knöcheln fesselte. Er entfernte die Augenbinde und zog behutsam das Klebeband von den blassen Lippen.
Er nahm das Kind in die Arme und verließ das Gebäude, während seine Sinne damit beschäftigt waren, festzustellen, was dem Jungen fehlte.
Das Kind war dabei, in das hinüberzugleiten, was die moderne Medizin einen Schockzustand nannte; sein Blutdruck war gefährlich niedrig, seine Haut kalt und klamm. Aufgrund einer gebrochenen Rippe, die eine seiner Lungen durchbohrt hatte, hatte er innere Blutungen. Zudem hatte er einen Bluterguss in seinem Kopf – eine Gehirnerschütterung, um genau zu sein –, doch Roland nahm nicht an, dass diese Verletzung ernst war.
Das Kind in einem Arm haltend, zog er mit dem anderen seinen Mantel aus und legte ihn rasch um den Jungen. Wärme war jetzt lebenswichtig. Und Eile war geboten. Er eilte mit dem Kind zum nächstgelegenen Krankenhaus. Während sie durch die Nacht jagten, öffnete der Junge die Augen.
„Wer bist du?“, war alles, was er sagte, und das auch nur ganz leise.
„Ich bin Roland, Kind. Mach dir keine Sorgen. Du wirst wieder gesund.“
„Erics Freund?“
Roland runzelte die Stirn. „Du bist Tamaras Jamey, nicht wahr?“
Er nickte und beruhigte sich ein bisschen, dann flogen seine Augen weit auf. „Ist sie in Ordnung?“
„Eric ist bei ihr“, erwiderte Roland.
Sie stürmten in die Notaufnahme und wurden sogleich von Krankenschwestern umringt, um Papiere auszufüllen und endlose Fragen zu beantworten. Eine der Schwestern nahm ihm den Jungen ab und legte ihn auf einen Tisch.
„Ruf meine Mom an“, sagte Jamey leise. Roland nickte und kramte in seiner Erinnerung nach dem Nachnamen des Kindes. Er entsann sich, dass Tamara den Namen „Bryant“ erwähnt hatte. Er ging zum Empfang und erkundigte sich nach einem Telefon.
Während er wartete, wurde ihm klar, dass Tamara das fehlende Bindeglied sein musste. Sie war diejenige, nach der der Junge unbewusst gerufen hatte. Sie hatte ihn nicht gehört. Sie war ja noch nicht einmal eine von ihnen. Aber vielleicht war sie genau dazu bestimmt.