Keith

1. KAPITEL

Im Traum lief sie davon. Vor irgendetwas, irgendwohin. Zu irgendjemandem. Sie stürzte durch dichtes Unterholz voller Sträucher und dorniger Zweige, die ihre Beine zerkratzten, sie festhielten und zurückzuziehen schienen. Rauchiger Nebel wand sich schlangengleich um ihre Beine. Sie konnte noch nicht einmal den Boden unter ihren Füßen ausmachen. Die ganze Zeit über rief sie nach ihm, aber wie stets vermochte sie sich nicht an seinen Namen zu erinnern, sobald sie erwachte.

Tränen und Schweiß klebten ihr das schwarze Haar ins Gesicht. Ihre Lungen schwollen an wie die eines Marathonläufers nach seinem Lauf. Ihr Atem ging schwer. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment explodieren. In ihrem Kopf drehte sich alles, und der überwältigende Schwindel zwang sie dazu, die Augen zu schließen.

Rasch setzte sie sich auf und strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Ihr Blick fiel auf die Uhr neben dem Bett und dann auf das dahinschwindende Licht draußen vor dem Fenster.

Im Grunde wäre das gar nicht nötig gewesen. Der Traum überfiel sie jeden Tag zur gleichen Zeit, nichts weiter als ein Bestandteil ihrer zunehmend ungewöhnlicher werdenden Schlafgewohnheiten. Nächtens Schlaflosigkeit, tagsüber fehlende Energie und immer dieselben beängstigend realistisch wirkenden Albträume schienen zu einem festen Teil ihres Lebens geworden zu sein.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich unverzüglich hinzulegen, um ein Nickerchen zu machen, sobald sie von der Arbeit heimkehrte, weil sie wusste, dass dies vermutlich der einzige Schlaf war, den sie an diesem Tag bekäme. Bis kurz vor Sonnenuntergang schlief sie dann wie eine Tote, nur um schließlich durch diesen Furcht einflößenden Traum geweckt zu werden.

Die Nachklänge des Albtraums verblassten allmählich. Tamara erhob sich, zog ihren Satin-Morgenmantel über und tapste ins angrenzende Badezimmer, Fußspuren im tiefen silbrigen Flor des Teppichs hinterlassend. Sie drehte das Wasser auf, um die übergroße Badewanne volllaufen zu lassen, und verteilte eine Handvoll Badeölperlen im ansteigenden Wasser. Als der Strahl sprudelte und spritzte, vernahm sie ein lautes Klopfen und ging zur Tür.

Daniels silberne Augenbrauen zogen sich über seinen hellblauen, besorgt dreinblickenden Augen zusammen. „Tam? Bist du in Ordnung?“

Sie schloss langsam die Augen und seufzte. Allem Anschein nach hatte sie wieder laut geschrien. Es war nicht angenehm, sich selbst eingestehen zu müssen, dass sie allmählich durchdrehte, doch zu sehen, dass sie dem Mann, der die letzten zwanzig Jahre wie ein Vater für sie gewesen war, Sorgen bereitete, war mehr, als sie ertragen konnte. „Natürlich, es geht mir gut. Warum fragst du?“

„Ich … dachte, ich hätte dich rufen hören.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, um ihr Gesicht genauer zu betrachten. Sie hoffte, dass die Ringe unter ihren Augen nicht allzu offensichtlich wären. „Bist du sicher, dass du …“

„Gut. Es geht mir gut. Ich habe mir den Zeh am Bettpfosten gestoßen, das ist alles.“

Er schien noch immer nicht überzeugt. „Du siehst müde aus.“

„Ich wollte gerade ein schönes heißes Bad nehmen, und dann lege ich mich hin.“ Sie lächelte, um seine Sorgen zu vertreiben; dann wurde daraus ein Stirnrunzeln, als sie den Mantel über seinem Arm sah. „Du gehst aus? Daniel, es hat den ganzen Tag geschneit. Die Straßen …“

„Ich fahre nicht, Tam. Curtis holt mich ab.“

Sie spürte, wie sich ihr Rücken versteifte. Sie atmete stoßartig aus. „Du spionierst wieder diesem Mann nach, oder? Ehrlich, Daniel, deine Besessenheit …“

„Spionieren? Das ist Überwachung! Und nenn es nicht Besessenheit, Tamara. Es ist rein wissenschaftliches Interesse. Das solltest du verstehen.“

Ihre Augenbrauen glitten in die Höhe. „Es ist Aberglaube, nichts weiter. Und wenn du den armen Mann auf Schritt und Tritt verfolgst, wird er dich am Ende noch vor Gericht zerren. Daniel, du bist ihm seit Monaten auf den Fersen. Und trotzdem hast du immer noch nicht den geringsten Beleg dafür gefunden, dass er ein …“

„Daniel.“ Curtis’ Stimme unterbrach sie; einen Moment später war er die Treppe hochgestürmt und stand neben Daniel vor ihrer Schlafzimmertür. „Bist du fertig?“

„Und du …“ Tamara fuhr fort, als hätte Curtis an dem ganzen Gespräch teilgenommen. „Ich kann nicht glauben, dass du Daniel zu dieser Hexenjagd ermutigst. Um Himmels willen, wir drei verbringen jeden Tag in einem von Hightech, Messing und Glas beherrschten Bürogebäude in White Plains. Jungs, wir leben in den Neunzigern! In Byram, Connecticut, nicht in Transsilvanien im 15. Jahrhundert!“

Curtis starrte sie einen Moment lang an. Dann legte er den Kopf schief und öffnete die Arme. Sie seufzte und erlaubte ihm, sie zu umarmen. „Liegst du nachts immer noch wach?“ Seine Stimme war sanft und einfühlsam.

Gegen den feuchten Stoff seines Mantels schüttelte sie den Kopf.

„Ich mache mir Gedanken, sie hier allein zu lassen“, sagte Daniel, als wäre sie gar nicht da.

„Ich muss noch einige Experimente im Kellerlabor zu Ende bringen“, bot Curtis an. „Ich könnte hierbleiben, wenn du die Überwachung allein machen willst.“

„Ich brauche keinen Babysitter“, blaffte sie ihn an.

Daniel beachtete sie nicht. „Ich denke, das ist eine gute Idee“, sagte er. Er lehnte sich vor, um ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu drücken. „Ich werde gegen Sonnenaufgang wieder zurück sein.“

Sie zog sich aus Curtis’ Armen zurück und schüttelte frustriert den Kopf.

„Tam, Daniel und ich wissen, was wir tun“, sagte Curtis in beschwichtigendem Ton zu ihr. „Wir sind schon länger in diesem Geschäft als du. DPI hat Beweise für Marquand. Das ist kein Aberglaube.“

„Ich will die Akten sehen.“ Sie schniefte und schaute ihm in die Augen.

Seine Lippen zogen sich an den Mundwinkeln zusammen. „Dein Sicherheitsstatus ist dafür nicht hoch genug.“

Das war die Antwort, mit der sie gerechnet hatte, dieselbe, die sie jedes Mal zu hören bekam, wenn sie darum bat, die Daten der DPI, der Abteilung für paranormale Ermittlungen, über den vermeintlichen Vampir Marquand einsehen zu dürfen. Sie senkte den Kopf und wandte sich von Curtis ab. Seine Hand auf ihrer Schulter ließ sie innehalten.

„Sei bitte nicht wütend, Tamara. Es ist nur zu deinem eigenen …“

„Ich weiß. Zu meinem eigenen Wohl. Meine Badewanne läuft bestimmt schon über.“ Sie trat von ihm zurück und schloss die Tür. Curtis würde sich im Kellerlabor verkriechen und ihr keinen zweiten Gedanken schenken, dessen war sie sich gewiss. Er sorgte sich nicht so sehr um sie, wie Daniel es tat.

Tatsächlich schien er sie in letzter Zeit mehr herumzukommandieren als sonst. Sie tat diesen Umstand mit einem Schulterzucken ab und nahm sich vor, nicht weiter über Curtis’ besitzergreifendes Verhalten ihr gegenüber nachzudenken. Sie stellte das Wasser ab und starrte für eine Weile vor sich hin. Kein heißes Bad dieser Welt würde ihr dabei helfen einzuschlafen. Sie hatte alles probiert, von warmer Milch bis hin zur doppelten Dosis Schlaftabletten, die ihr Arzt ihr auf ihren nachdrücklichen Wunsch hin verschrieben hatte.

Alles vergebens. Warum sollte sie es dann trotzdem tun?

Mit einem frustrierten Seufzer tappte sie zur Balkontür. Aus einem Impuls heraus öffnete sie die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Aus dem lilaschwarzen Himmel, der sich im Westen zu einem silbrigen Blau aufhellte, trudelten Schneeflocken wie bei einem verrückten Tanz herab. Die Sonne war zur Gänze untergegangen, während sie mit ihrem überkandidelten Vormund und seinem dickköpfigen Kollegen diskutiert hatte. Sie starrte hinaus ins Freie, völlig verzaubert von der schlichten Anmut des wirbelnden Schnees.

Mit einem Mal überkam sie das Gefühl, ein Teil davon sein zu müssen. Warum sollte sie all diese aufgewühlte Energie dafür verschwenden, im Bett zu liegen und zur Unterseite ihres weißen Betthimmels emporzustarren? Vor allem wenn sie genau wusste, dass es noch Stunden dauern würde, bis sie endlich schlafen konnte.

Vielleicht, überlegte sie matt, sollte ich mich bis zur Erschöpfung verausgaben? Wie lange war es schon her, seit sie zuletzt in der Lage gewesen war, die nagenden Sorgen beiseitezuschieben und sich einem einfachen Vergnügen hinzugeben?

Jetzt, da sie ihre Entscheidung getroffen hatte, eilte sie wieder hinein. Sie zog enge schwarze Leggings, einen dicken Strickpullover, zwei Paar Socken und flauschige pinkfarbene Ohrenschützer an, ergriff ihren Mantel und holte ihre Schlittschuhe aus dem Wandschrank, warf die Schuhe in ihre Sporttasche, steckte ihre Handtasche daneben und öffnete die Schlafzimmertür.

Einen Moment lang lauschte sie nur. Das hohle Gerippe des Hauses lag still. Sie huschte auf Zehenspitzen durch den Flur, die Treppe hinab. An der Eingangstür hielt sie gerade lange genug inne, um in ihre Stiefel zu schlüpfen; dann war sie draußen.

Ihre Wangen brannten in der eisigen Luft; ihr Atem bildete kleine Dampfwolken im fallenden Schnee. Ein Fußmarsch von zwanzig Minuten, versunken in den Anblick tanzenden Schnees, brachte sie in die Vororte von Byram. Kindliche Freude wärmte sie, als ihr Ziel in Sicht kam.

Inmitten des Strauchwerks und der sorgsam geschnittenen Ulmen des Stadtparks funkelte die Eisbahn. Gewundene schneebedeckte Gehwege, schmiedeeiserne Bänke mit Rotholzlattensitzflächen und Abfalleimern in fröhlichem Grün umgaben das Eis. Tamara eilte zur nächsten Bank, um ihre Schlittschuhe anzuziehen.

Als er erwachte, fühlte sich Eric, als wäre sein Kopf mit nasser Baumwolle vollgestopft. Er schwang seine Beine zu Boden und kam mit einer ungewohnten Unbeholfenheit auf die Füße. Er brauchte kein Fenster, um die blasse Röte zu spüren, die noch immer am westlichen Himmel auszumachen war. Es war nicht die nahende Nacht, die ihn schwächte.

Schon seit Wochen lag es nicht mehr daran. Doch immer wieder hallten ihre Schreie durch seinen Kopf, bis dass er keine Ruhe mehr fand. Ihr ergreifendes Flehen machte die Angst und Verwirrung selbst für ihn fühlbar.

Er verspürte ihr Bedürfnis wie einen Widerhaken, der durch sein Herz ging und an ihm zog. Doch er zögerte. Irgendein übernatürlicher Instinkt warnte ihn, nicht voreilig zu handeln. Ihre nächtlichen Rufe weckten kein Gefühl von bevorstehender Gefahr in ihm. Der Grund dafür schienen weder körperliche Schwäche noch ein lebensbedrohlicher Unfall zu sein. Aber was war es dann?

Schon allein die Tatsache, dass sie ihn zu rufen vermochte, war unglaublich. Kein gewöhnlicher Mensch war in der Lage, einen Vampir zu rufen. Es verblüffte ihn, dass irgendetwas anderes als eine tödliche Gefahr ihn aus seinem todesähnlichen Schlaf wecken konnte. Es verlangte ihn danach, zu ihr zu gehen, um ihr die Fragen zu stellen, die ihn quälten. Doch er zögerte.

Vor langer Zeit hatte er diesem Ort den Rücken gekehrt und sich geschworen, das Mädchen um ihres eigenen Schutzes willen in Ruhe zu lassen. Er hatte gehofft, dass die unfassbare psychische Verbindung zwischen ihnen mit Zeit und Distanz nachlassen würde. Doch offensichtlich war dies nicht der Fall.

Er entspannte sich eine Stunde lang in der Behaglichkeit seines Unterschlupfs. Mit dem endgültigen Untergehen der Sonne kam der ihm vertraute Energierausch. Seine Sinne verdichteten sich zur tödlichen Schärfe einer frisch geschliffenen Klinge. Sein Leib prickelte vom Gefühl von Millionen Nadelstichen auf der Haut.

Eric zog sich an und öffnete dann die Vielzahl der Schlösser an der schweren Tür. Er bewegte sich lautlos durch den pechschwarzen Flur und drückte am Ende des Gangs gegen eine schwere Steinplatte, die leicht und ohne protestierendes Knarren nach innen aufschwang. Durch die Öffnung trat er in einen auf den ersten Blick ganz gewöhnlichen Keller. Von dieser Seite sah die Tür aus wie ein gut bestücktes Weinregal. Er drückte sie behutsam wieder zu und stieg die Treppe hinauf, die zum Haupthaus führte.

Er musste sie sehen. Er wusste es schon seit einiger Zeit, doch bislang hatte er dieses Wissen erfolgreich verdrängt. Ihre Anziehungskraft war zu stark, um ihr zu widerstehen. Wenn ihre süße, gequälte Stimme in den samtigen Schoß seiner Ruhe drang, spürte er ihre Qual. Er musste wissen, was ihr derartige Sorgen bereitete. Er trat in den Salon, ging hinüber zu dem hohen Fenster und öffnete die Vorhänge.

Der DPI-Lieferwagen stand gegenüber dem Eingangstor, wie jede Nacht in den vergangenen zwei Monaten. Ein weiterer Grund, warum er auf der Hut sein musste! Die Abteilung hatte vor über hundert Jahren als eine Gruppe von frommen Schwachköpfen ihren Anfang genommen, die die Zerstörung von all jenem im Sinn hatten, was sie nicht verstanden.

Es gab Gerüchte, dass sie nun unter dem Dach der CIA operierten, was sie zu einer Bedrohung machte, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Nach Erics Informationen besaßen sie ein Bürogebäude in White Plains. Man sagte, dass sie überall in den USA und sogar in Europa Agenten hatten. Der Agent da draußen schien Eric zu seiner persönlichen Obsession erkoren zu haben. Als wäre das Eingangstor der einzige Weg hinaus, parkte er dort jeden Abend, sobald es dunkel wurde, und blieb, bis der neue Tag erwachte. Eric fand ihn so lästig wie eine umherbrummende Fliege.

Er schlüpfte in einen dunklen Mantel und verließ das Wohnzimmer durch die Glastüren auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangstors. Er überquerte den Rasen, der sich vom Haus bis hin zu der felsigen Klippe des Long-Island-Sunds erstreckte, ging zu dem hohen Eisenzaun, der seinen Besitz zur Gänze umgab, und schwang sich ohne große Mühe darüber. Er bahnte sich einen Weg durch die Bäume und gelangte einige Meter hinter dem angestrengt wirkenden Mann, der dem Irrglauben anhing, ihn so gekonnt zu beschatten, zur Straße.

Eric ging nur ein kurzes Stück, bevor er innehielt, um seinen Kopf freizubekommen, indem er die Augen schloss. Er öffnete sich für das Durcheinander von Emotionen, dem er den Zugang für gewöhnlich verwehrte, und zuckte unter dem Bombardement der Eindrücke innerlich zusammen.

Stimmen jedes Tonfalls, jeder Flexion und Lautstärke schallten durch seinen Kopf. Gefühle von fürchterlicher Angst bis hin zu überwältigender Freude durchströmten ihn. Körperliche Empfindungen – sowohl Vergnügen als auch Schmerz – durchdrangen ihn, und er wappnete sich gegen diese seelische Attacke. Er war außerstande, mit dem Geist eines anderen Lebewesens in Kontakt zu treten, sofern jene Person ihm nicht zunächst ihrerseits eine Nachricht zukommen ließ – so, wie sie es getan hatte.

Langsam gewann er die Oberhand über das Sperrfeuer der Eindrücke. Er durchforstete sie und suchte nach ihrer Stimme und ihren Gedanken. Innerhalb von Momenten spürte er sie und wandte sich in die Richtung desjenigen Ortes, von dem er wusste, dass sie dort war.

Eric verschluckte sich fast, als er sich der Eislaufbahn näherte und sie erblickte. Sie drehte sich im Mondschein in der Mitte der Bahn, ihr Gesicht wie im Gebet nach oben gerichtet – als würde sie die Nacht anbeten. Sie stoppte, breitete mit der Grazie einer Ballerina die Arme aus und glitt erst langsam, dann immer schneller übers Eis, um Achten zu ziehen. Dann drehte sie sich, glitt rückwärts übers Eis, drehte sich von Neuem, kreuzte einen Schritt über den anderen und wurde schließlich langsamer.

Als er sie beobachtete, spürte er ein eigenartiges Brennen in seiner Kehle. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit er das unschuldige schwarzhaarige Kind in dem Krankenhausbett zurückgelassen hatte, nachdem er ihr das Leben rettete. Wie lebhaft er sich noch an jene Nacht erinnerte – an die Art, wie sie ihre Augen geöffnet und seine Hand gehalten hatte. Sie hatte ihn bei seinem Namen genannt und ihn gebeten, nicht zu gehen. Sie hatte ihn bei seinem Namen genannt, obwohl sie ihm noch nie zuvor begegnet war! Genau in diesem Moment hatte er erkannt, wie stark das Band zwischen ihnen war, und beschlossen, dass es besser war zu verschwinden.

Erinnerte sie sich daran? Würde sie ihn erkennen, wenn sie ihn wiedersah? Er hatte natürlich nicht vor, das zuzulassen. Er wollte sie nur anschauen, ihre Gedanken durchforsten und dahinterkommen, was der wahre Grund für ihre nächtlichen Qualen war.

Sie glitt zu einer Bank in der Nähe der Eisbahn, zog die Ohrenschützer ab und ließ sie fallen. Als sie den Kopf schüttelte, flog ihr Haar wild umher, wie ein schwarzer Satinlocken-Mantel. Sie streifte ihre Jacke ab und ließ sie in den Schnee gleiten. Mit einem tiefen Atemzug wandte sie sich um und fuhr wieder los.

Eric öffnete seinen Geist, nahm Verbindung mit dem ihren auf und stellte sich mit allen Sinnen auf sie ein. Es dauerte nur Sekunden, und erneut staunte er über die Stärke der geistigen Verbindung zwischen ihnen. Er hörte ihre Gedanken so deutlich wie sie selbst.

Was er hörte, war Musik – die Musik, die sie sich ausmalte, während sie auf dem Eis ihre Kreise zog. Die Musik verblasste ein wenig, als sie mit sich selbst sprach. Einen Axel, Tam, altes Mädchen. Etwas mehr Tempo … jetzt!

Er hielt die Luft an, als sie vom Eis hochsprang, um sich anderthalbmal zu drehen. Sie landete fast perfekt, mit einem Bein hinter sich ausgestreckt, dann geriet sie ins Schwanken und stürzte hart. Eric musste an sich halten, um nicht zu ihr zu laufen. Ein beinahe überhörter Instinkt flüsterte ihm eine Warnung zu, und er hielt inne. Erst jetzt begriff er, dass sie lachte, ein Geräusch klar wie Kristallwasser, das über Steine plätscherte.

Sie erhob sich, rieb sich den Rücken und lief wieder los; sein Blick folgte ihr. Sie fuhr zum anderen Ende der Eisbahn. Das war der Moment, in dem Eric den Lieferwagen entdeckte, der in der Dunkelheit auf der anderen Straßenseite parkte. Daniel St. Claire!

Schnell besann sich Eric eines Besseren. Es konnte nicht St. Claire sein. Er hätte die Ankunft des Mannes gehört, da er nach ihm gekommen sein müsste. Er besah sich den weißen Lieferwagen genauer und erkannte gewisse Unterschiede – der Kratzer an der Seite, die Reifen. Das war nicht St. Claires Fahrzeug, aber es gehörte dem DPI. Jemand hatte ein Auge auf Tamara – und nicht auf ihn!

Er wäre gern näher herangegangen, um das Dunkel des Innenraums mit seinen Blicken zu durchdringen und den Beobachter zu identifizieren, aber sein Fuß verhakte sich irgendwo, und er schaute nach unten. Eine Sporttasche. Ihre Sporttasche. Er sah wieder zu Tamara. Sie konzentrierte sich vollkommen aufs Eislaufen. Wie es schien, war derjenige, der sie beobachtete, nicht minder von ihr fasziniert.

Eric bückte sich, hob die Tasche auf und verschmolz mit den Schatten. Außer ihren Stiefeln befand sich nur eine kleine Handtasche in der Sporttasche. Seine Hände glitten über geschmeidiges Ziegenleder. Er holte die Handtasche heraus.

Ja, es war ein Einbruch in ihre Privatsphäre, das war ihm bewusst. Falls die gleichen Leute, die ihn beschatteten, auch sie beobachteten, musste er in Erfahrung bringen, warum. Falls St. Claire von seiner Beziehung zu dem Mädchen wusste, bestand die Möglichkeit, dass dies eine höchst raffinierte Falle war.

Er nahm jeden Gegenstand aus der Tasche und besah ihn sich genauestens, bevor er ihn wieder zurücklegte. In dem kleinen Fach für die Geldscheine fand er eine DPI-Schlüsselkarte, auf der Tamaras Name in so riesigen Lettern auf der Vorderseite stand, dass seine Augen schmerzten.

„Nein“, flüsterte er.

Sein Blick wanderte zu ihr, als er die Karte gedankenvoll in die Tasche zurückfallen ließ. Er legte die Handtasche wieder in die Sporttasche und warf jene zurück an die Stelle, wo er sie gefunden hatte. Sein Herz verkrampfte sich, als er sie beobachtete. So wunderschön, so zerbrechlich, in ihrem Haar das Glitzern diamantähnlicher Tropfen, als wären sie auf magische Weise in ihre Mähne eingewoben, während sie im Schein des Vollmonds dahinglitt. War es möglich, dass sie sein Judas war? Ein Verräter im Kleid eines Engels?

Er richtete seinen Geist mit jeder Unze Kraft, die er aufzubringen vermochte, auf den ihren aus, aber die einzigen Empfindungen, auf die er dabei stieß, waren Freude und Ausgelassenheit. Alles, was er hörte, war Musik, die in ihrem Kopf zunehmend lauter spielte, die Ouvertüre von „Der Schauspieldirektor“. Sie lief in vollkommener Harmonie mit dem beschwingten Stück, bis die Musik schließlich vollends verklang.

Sie kam zum Stillstand und stand sicher auf dem Eis, ihr Kopf leicht geneigt, als hätte sie ein Geräusch vernommen, das sie nicht recht zuzuordnen vermochte. Sie wandte sich langsam um und drehte sich einmal im Kreis, während ihr Blick über die Eisbahn glitt. Sie hielt inne, als sie ihn entdeckte, obgleich ihm klar war, dass sie ihn in seinen schwarzen Kleidern im Schatten vermutlich gar nicht sehen konnte. Dennoch runzelte sie die Stirn und kam in seine Richtung.

Lieber Himmel, war es möglich, dass das Band zwischen ihnen so stark war, dass sie seine Gegenwart spüren konnte? Hatte sie gefühlt, wie er ihre Gedanken erkundete? Er wandte sich von ihr ab und wäre verschwunden, wären da nicht die stetig schneller werdenden Laute ihrer Kufen auf dem Eis gewesen und das Knirschen, als sie so nah bei ihm stoppte, dass er die winzigen Eissplitter spürte, die ihre Schlittschuhe gegen seine Beine schleuderten.

Eric konnte die Hitze spüren, die von ihrem von der Anstrengung erwärmten Körper ausging. Ihr Blick brannte einen Pfad über seinen Rücken, und selbst wenn sein Leben davon abgehangen hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, sie hier zurückzulassen. Es mochte eine Riesendummheit sein, aber Eric konnte nicht anders: Er drehte sich um und sah sie an.

Sie starrte ihn einen Moment lang mit verwirrter Miene an. Ihre Wangen glühten vor Wärme und Leben. Ihre Nasenspitze war rot. Kleine weiße Atemzüge entwichen ihren offenen Lippen, und tiefer an ihrem Hals pochte ihre Schlagader. Selbst als er sich zwang, den Blick von dem schwachen Pulsieren abzuwenden, spürte er es, so wie auch Beethoven die körperliche Wirkung seiner Musik gespürt haben musste.

Er war nicht imstande, den Blick von ihren Augen zu wenden. Sie hielten ihn gefangen, als wohnte ihnen dieselbe Macht über andere inne, wie er sie besaß. Er fühlte sich verloren in diesen schwarzen, bodenlosen Pupillen, so riesig, dass sie scheinbar keine Iris besaßen. Mein Gott, dachte er. Sie sieht bereits aus wie eine von uns.

Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, wie in dem Versuch, die Schneeflocken aus ihrem Haar zu schütteln. „Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie wären …“ Die Worte erstarben auf ihren Lippen, aber Eric wusste es ohnehin. Sie hatte ihn für jemanden gehalten, den sie kannte, jemanden, der ihr nahestand. Er war es.

„Jemand anders“, beendete er den Satz für sie. „Das passiert mir dauernd. Ich habe so ein Allerweltsgesicht.“ Er durchforstete ihren Verstand und suchte nach Hinweisen darauf, dass sie ihn erkannte. Er fand keine Erinnerung an sich, lediglich eine gewaltige Sehnsucht – ein starkes Verlangen, über das sie sich selbst noch nicht vollends im Klaren war. „Gute Nacht.“ Er nickte knapp und musste sich zwingen, sich von ihr abzuwenden.

Selbst als er den ersten Schritt tat, hörte er ihre unausgesprochene Bitte so deutlich, als hätte sie sie lauthals herausgeschrien. Bitte, geh nicht!

Er drehte sich wieder zu ihr um – er konnte einfach nicht anders. Sein pragmatischer Verstand erinnerte ihn immer wieder an die DPI-Karte in ihrer Tasche. Sein Herz verlangte danach, sie in die Arme zu schließen. Sie war wahrlich zu einer Schönheit herangereift. Ein flüchtiger Blick auf sie genügte, um einem Mann den Atem zu rauben. Der Schimmer ungeweinter Tränen in ihren Augen traf ihn wie ein Hieb.

„Ich weiß, dass ich Sie kenne“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte bei diesen Worten. „Wer sind Sie?“

Ihr Verlangen, mehr zu erfahren, setzte ihm zu, und er konnte keine Lüge oder böse Absicht dahinter entdecken. Doch falls sie wirklich für das DPI arbeitete, bedeutete sie für ihn nichts als Ärger. Er war sich der Aufmerksamkeit des Mannes im Lieferwagen bewusst. Der Bursche fragte sich vermutlich, was sie hier verweilen ließ.

„Sie müssen sich irren.“ Diese Lüge auszusprechen tat ihm in der Seele weh. „Ich bin mir sicher, dass wir uns noch nie zuvor begegnet sind.“

Er wandte sich wieder ab, doch diesmal kam sie auf ihn zu und streckte die Hand nach ihm aus. Sie stolperte, und nur Erics übernatürliche Schnelligkeit ermöglichte ihm, rechtzeitig zu reagieren. Er fing sie auf, als sie nach vorn fiel. Seine Arme umschlossen ihren schlanken Leib, und er zog sie an seine Brust.

Er konnte sich nicht dazu durchringen, sie loszulassen. Er hielt sie an sich gedrückt, und sie sträubte sich nicht. Ihr Gesicht lag an seiner Brust, über seinem wild pochenden Herzen. Ihr Duft nahm ihn gefangen. Ihre Arme legten sich auf seine Schultern, wie um bei ihm Halt zu finden; dann jedoch glitten sie um seinen Hals herum, und er hatte das Gefühl, tausend Tode sterben zu müssen, wenn er wieder von ihr abließ.

Sie hob den Kopf, legte ihn zurück und sah ihm in die Augen. „Wir kennen uns, nicht wahr?“