Keith
2. KAPITEL
Tamara versuchte, die trunkene Benommenheit abzuschütteln, die sich ihrer bemächtigt zu haben schien. Sie stand so nah bei diesem Fremden, dass sich jeder Teil ihres Körpers – von den Oberschenkeln bis zur Brust – an ihn schmiegte. Ihre Arme lagen um seinen muskulösen Hals. Seine starken Arme umschlangen ihre Taille. Sie legte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen, und hatte das Gefühl, in ihnen gefangen zu sein.
Er wirkt so vertraut!
Diese Augen … sie funkelten wie perfekte runde Kohlestücke unter pechschwarzen Wimpern. Seine dunklen Augenbrauen, nicht minder schwarz und dicht, schufen über jedem Auge eine Linie. Sonderbarerweise war sie sich mit einem Mal sicher, dass er, wenn er verblüfft oder belustigt war, eine Braue hochziehen würde, auf eine Art und Weise, die ihr den Atem rauben würde.
Aber ich kenne ihn nicht.
Seine vollen Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen; dann jedoch schloss er den Mund wieder. Wie weich seine Lippen waren! Wie glatt und wie wundervoll, wenn er lächelte. Oh, wie sehr sie sein Lächeln vermissen würde!
Was rede ich denn da? Ich habe diesen Mann doch noch nie zuvor gesehen.
Sein Brustkorb unter ihrem glich einer mächtigen, soliden Mauer. Sie spürte, wie sein Herz kraftvoll darin schlug. Seine Schultern waren so breit, dass sie förmlich dazu einluden, ihren müden Kopf darauf zu betten. Sein Haar glänzte im Mondlicht so schwarz wie ihr eigenes, wenn auch ohne ihre wilden Locken. Stattdessen fiel es in seidigen Wellen über seine Schultern – zumindest wenn es nicht gerade mit einer kleinen Samtschleife hinter dem Kopf zu einem Zopf zusammengebunden war, wie er es nannte.
Sie berührte die Schleife in seinem Nacken und wusste, dass sie dort sein würde, noch bevor ihre Finger sie fanden. Sie spürte das irrationale Verlangen, sie zu lösen und mit ihren Fingern durch sein herrliches Haar zu fahren – um eine Handvoll davon an ihr Gesicht zu führen und damit über ihre Wangen zu streichen.
Tamara registrierte, wie sie die Stirn runzelte, und zwang sich dazu, den Mund zu öffnen. „Wer bist du?“
„Du weißt es nicht?“ Seine Stimme sandte eine weitere Welle des Widererkennens durch sie hindurch.
„Ich … habe das Gefühl, als wüsste ich es, aber …“ Sie legte ihre Stirn noch mehr in Falten und schüttelte frustriert den Kopf.
Ihr Blick fiel auf seinen Mund, und sie zwang sich, wegzuschauen. Das Gefühl, das in ihr brodelte, fühlte sich an wie freudige Erleichterung. Sie fühlte sich, als wäre eine unermessliche Leere in ihrem Herzen allein durch den Anblick dieses wohlvertrauten Mannes mit einem Mal gefüllt worden.
Die Worte, die in ihrem Kopf herumwirbelten und die sie kaum zurückzuhalten vermochte, waren absurd. Gott sei Dank, du bist zurückgekommen … Ich habe dich so vermisst … Bitte, verlasse mich nicht noch einmal … Ich werde sterben, wenn du mich von Neuem verlässt.
Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten; sie wollte sich umdrehen und fortlaufen, damit er es nicht mitbekam. Schmerz flackerte in seinen Augen auf und war dann sofort wieder verschwunden, sodass sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie tatsächlich gesehen hatte, was sie gesehen zu haben glaubte. Er sah sie so eindringlich an, und das eigenartige Gefühl, dass er irgendwie in ihren Kopf hineinschauen konnte, traf sie mit geradezu lächerlicher Gewissheit.
Tamara wollte sich umdrehen und weglaufen. Zugleich wollte sie ihn aber auch auf ewig festhalten. Ich verliere den Verstand.
„Nein, Liebes. Du bist vollkommen gesund, das versichere ich dir.“ Seine Stimme klang einschmeichelnd.
Sie atmete tief ein. Sie hatte das nicht laut ausgesprochen – oder doch? Er hatte … lieber Himmel, er hatte ihre Gedanken gelesen!
Unmöglich! Das war einfach nicht möglich. Sie betrachtete seinen sinnlichen Mund und befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge. Hatte er tatsächlich ihre Gedanken gelesen? Um es zu prüfen, dachte sie: Ich will, dass du mich küsst.
Eine leise Stimme flüsterte die Antwort in ihrem Kopf – seine Stimme. Ein Test? Ich könnte mir keinen angenehmeren vorstellen.
Sie beobachtete fasziniert, wie er den Kopf senkte. Sein Mund kam ihr immer näher, und sie erlaubte sich, sich seinem sanften Drängen zu öffnen. In dem Moment, in dem seine feuchte, warme Zunge in ihren Mund schlüpfte und ihre Zunge liebkoste, durchfuhr sie ein heißer Schauer.
Es war kein unerwarteter Ansturm körperlichen Verlangens. Nein, dies fühlte sich vielmehr wie ein elektrischer Stromstoß an, der vom Kontaktpunkt aus durch ihren Körper loderte und an ihren Fußsohlen wieder austrat. Ihre eigene Reaktion erschütterte sie und raubte ihr die Kraft.
Seine Hände bewegten sich ihren Rücken hinauf. Seine Fingerspitzen tanzten über ihren Nacken und höher, bis sie sich in ihrem Haar vergruben. Die Hände an ihrem Hinterkopf, zog er sie näher zu sich heran, drehte sie so, wie es ihm am besten passte, und hinderte sie daran, sich zurückzuziehen, als er mit der Zunge tiefer drang, um in ihrem Bauch kribbelnde Flammen der Sehnsucht zu entfachen.
Schließlich glitten seine Lippen von ihren, und sie dachte, der Kuss wäre vorüber. Stattdessen wurde er lediglich zu einer anderen Art von Kuss. Mit feuchten Lippen zog er die Konturen ihres Kinns nach. Mit der Zunge berührte er die empfindliche Haut knapp unterhalb ihres Ohrs. Er ließ die Lippen zärtlich zu ihrer Kehle gleiten, und ihr Kopf sank wie von selbst zurück.
Sie legte die Hände um seinen Kopf und zog ihn näher zu sich. Ihre Augenlider flatterten, und ihr war so schwindlig zumute, dass sie überzeugt war, gleich ohnmächtig zu werden.
Er saugte an ihrer empfindlichen Haut. Sie spürte, wie seine Zähne über ihre weiche Haut strichen, als er daran sog wie ein Baby an der Brust seiner Mutter. Tamara fühlte, wie er erschauerte, hörte ihn aufstöhnen, als würde er gefoltert. Er hob den Kopf und richtete sich auf, damit sie einander in die Augen schauen konnten.
Einen Moment lang schien ein Licht in seinen Augen zu schimmern – ein unnatürliches Leuchten, das von irgendwo jenseits der Schwärze hervordrang.
Seine Stimme klang rau und zittrig, als er sprach; nicht länger der besänftigende Klang wie Honig, der zuvor ihren Ohren geschmeichelt hatte. „Was willst du von mir? Und pass auf, dass du nicht zu viel verlangst, Tamara. Ich fürchte nämlich, dass ich dir nichts abschlagen kann …“
Sie runzelte die Stirn. „Ich will nichts …“ Sie atmete zwischen zusammengebissenen Zähnen ein und löste sich aus seiner Umarmung. „Woher kennen Sie meinen Namen?“
Langsam schwand der Zauber. Sie atmete tief und gleichmäßig ein. Was hatte sie getan? Seit wann zog sie umher und knutschte mitten in der Nacht mit irgendwelchen Fremden herum?
„So wie du auch meinen kennst“, sagte er, und seine Stimme gewann etwas von ihrer vormaligen Stärke und ihrem Klang zurück.
„Ich weiß nicht, wie Sie heißen! Und wie konnten Sie … warum hast du …“ Sie schüttelte wütend den Kopf, außerstande, den Satz zu beenden. Immerhin hatte sie ihn genauso geküsst wie er sie.
„Komm schon, Tamara, wir wissen beide, dass du mich hergerufen hast, also hör mit diesem Versteckspiel auf. Ich will nur wissen, was dir Sorgen bereitet.“
„Sie gerufen? Ich habe Sie mit Sicherheit nicht gerufen. Wie könnte ich das? Ich kenne Sie nicht einmal!“
Er zog eine Augenbraue hoch. Hastig schlug Tamara sich die Hand vor den Mund, hatte sie ihn sich doch mit genau diesem Gesichtsausdruck vorgestellt. Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, da seine nächste sonderbare Frage nicht lange auf sich warten ließ. „Und kennst du ihn?“
Er schaute hinüber zur Straße, und sie folgte seinem Blick. Sie hielt den Atem an, als sie Curtis’ DPI-Lieferwagen dort stehen sah. Dank des rostigen Flecks unterhalb des Außenspiegels auf der Fahrerseite wusste sie, dass es seiner war. Sie konnte kaum glauben, dass er die Frechheit besaß, ihr nachzuspionieren. Mit einem entrüsteten Seufzer flüsterte sie: „Er ist mir gefolgt. Aber warum sollte dieser gefühllose Mist…“
„Sehr gut, obwohl ich annehme, dass du den Grund dafür, warum er sich hier herumtreibt, genau kennst. Das war eine Falle, nicht wahr? Mich hierherzulocken, und dann dein aufmerksamer Freund da drüben …“
„Sie hierherzulocken? Warum, um alles in der Welt, sollte ich Sie hierherlocken, und wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich sagte Ihnen, dass ich Sie noch nie zuvor gesehen habe.“
„Du rufst mich jede Nacht, Tamara. Du flehst mich an, zu dir zu kommen, und hast mich damit beinahe in den Wahnsinn getrieben.“
„Ich glaube nicht, dass dazu sonderlich viel nötig ist. Ich sagte bereits, dass ich Sie nicht gerufen habe. Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen.“
Von Neuem glitt sein Blick suchend über ihr Gesicht, und sie spürte, wie ihre Gedanken durchforscht wurden. Er seufzte und runzelte die Stirn so sehr, dass sich seine Augenbrauen trafen. „Was ist deiner Meinung nach dann der Grund dafür, dass dieser werte Herr dort drüben dir folgt?“
„So wie ich Curtis kenne, hat er vermutlich gedacht, es sei zu meinem eigenen Besten. Diese Floskel hat er in letzter Zeit weiß Gott oft genug vorgebracht.“
Ihre Wut ließ ein wenig nach, als sie darüber nachdachte. „Er könnte sich Sorgen um mich machen. Ich weiß, dass Daniel sich welche macht … mein Vormund, wenn Sie so wollen. Offen gestanden mache ich mir auch Gedanken. Ich schlafe nachts nicht mehr – überhaupt nicht. Lediglich am Tage kann ich hin und wieder ein Auge zutun. Tatsächlich bin ich schon zweimal an meinem Schreibtisch eingenickt.“
„Sobald ich zu Hause bin, schlafe ich wie ein Stein, aber bloß bis Sonnenuntergang. Bei Einbruch der Dunkelheit bekomme ich dann fürchterliche Albträume und wache so laut schreiend auf, dass ich wohl beide davon überzeugt habe, dass ich langsam den Verstand verliere; anschließend bin ich die ganze Nacht über wach und komme nicht zur Ru…“ Sie brach ab, als sie erkannte, dass sie gerade einem vollkommen Fremden ihre Lebensgeschichte erzählte.
„Bitte, sprich weiter“, bat er sofort. Er schien sehr daran interessiert, mehr darüber zu erfahren. „Erzähl mir mehr über diese Albträume.“ Offenbar waren ihm ihre Bedenken nicht entgangen. Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte mit den Spitzen seiner langen, schmalen Finger ihre Wange. „Ich will dir nur helfen. Ich tue dir nichts Böses.“
Tamara schüttelte den Kopf. „Sie werden lediglich ebenfalls zu dem Schluss gelangen, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.“ Er runzelte die Stirn. „Ich drehe durch“, erklärte sie. Sie legte einen Finger an die Schläfe und machte kleine Kreisbewegungen. „Völlig plemplem.“
„Du bist gewiss nicht … plemplem, wie du es nennst.“ Seine Hand glitt zu ihrem Hinterkopf, und er zog sie näher zu sich. Sie widersetzte sich nicht. Seit Monaten schon hatte sie sich nicht mehr so geborgen gefühlt wie in seinen Armen. Er hielt sie zärtlich an sich gedrückt, als wäre sie ein kleines Kind, und streichelte mit einer Hand ihr Haar. „Erzähl mir von deinen Träumen, Tamara.“
Sie seufzte, außerstande, der sanften Verlockung seiner Stimme und seiner Berührung zu widerstehen, zumal sie wusste, dass das ohnehin keinen Sinn hatte. „Es ist dunkel, und da ist so etwas wie dichter Wald. Dichter Nebel und Dunst bedecken den Boden, sodass ich meine Füße nicht sehen kann. Beim Laufen stolpere ich ständig. Ich weiß nicht, ob ich auf etwas zulaufe oder vor etwas fliehe. Ich weiß, dass ich nach jemandem suche, und im Traum bin ich mir sicher, dass dieser Jemand mir helfen kann, meinen Weg zu finden. Doch sooft ich auch rufe, er antwortet mir nicht.“
Mit einem Mal hörte er auf, ihr Haar zu streicheln, und sie hatte das Gefühl, er würde sich verkrampfen. „Nach wem rufst du?“
„Ich glaube, das ist es, was mich wahnsinnig macht. Ich kann mich nicht erinnern. Ich wache atemlos und erschöpft auf, als wäre ich wirklich durch den Wald gelaufen, manchmal noch mit seinem Namen auf den Lippen – aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern.“
Er atmete stoßweise aus. „Was für Gefühle weckt der Traum in dir, Tamara?“
Sie trat von ihm zurück und betrachtete sein Antlitz. „Sind Sie Psychologe?“
„Nein.“
„Dann sollte ich Ihnen das alles gar nicht erzählen.“ Sie versuchte den Blick von seinem so vertrauten Gesicht abzuwenden. „Weil ich Sie wirklich nicht kenne.“
Sie versteifte sich, als jemand auf der anderen Seite des Eises ihren Namen rief. „Tammy!“
Sie schnitt eine Grimasse. „Ich hasse es, wenn er mich so nennt.“ Sie sah dem Fremden wieder in die Augen, und von Neuem war ihr, als wäre dies ein lang erwartetes Wiedersehen mit jemandem, zu dem sie sich hingezogen fühlte. „Bist du real oder nur Teil meines Irrsinns?“ Nein, sag’s mir nicht, dachte sie plötzlich. Ich will es nicht wissen. „Ich gehe lieber, bevor Curtis vor lauter Sorgen noch der Schlag trifft.“
„Hat er das Recht, sich Sorgen zu machen?“
Sie hielt inne und runzelte die Stirn. „Wenn du wissen willst, ob er mein Mann ist, dann lautet die Antwort Nein. Wir stehen uns zwar nahe, aber nicht im romantischen Sinne. Er ist mehr so etwas wie ein … rechthaberischer großer Bruder.“
Sie wandte sich um und glitt elegant über das Eis zu Curtis hinüber, aber die ganze Zeit über spürte sie den bohrenden Blick des Fremden im Rücken. Sie versuchte, über ihre Schulter zu spähen, um zu sehen, ob er immer noch da war, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Als sie schließlich bei Curtis anlangte, verlangsamte sie ihr Tempo. Er war über das Eis auf sie zugeeilt.
Er packte sie fest am Oberarm und schleifte sie zum Rand des Eises. Auf dem schneebedeckten Boden stolperte sie mit ihren Schlittschuhen, aber er trieb sie mit unverminderter Geschwindigkeit vorwärts, bis sie die nächste Bank erreichten, wo er sie grob auf die Sitzfläche schubste.
„Wer, zum Teufel, war dieser Kerl?“
Sie zuckte die Schultern, erleichtert, dass Curtis ihn auch gesehen hatte. „Nur ein Fremder, den ich zufällig getroffen habe.“
„Ich will seinen Namen wissen!“
Die Autorität und Wut in seiner Stimme ließen sie die Stirn in Falten legen. Curtis war schon immer ein wenig herrisch gewesen, aber das ging jetzt einfach zu weit. „Wir sind nicht dazu gekommen, Adressen auszutauschen, obwohl mir nicht ganz klar ist, was dich das überhaupt angeht!“
„Du willst mir erzählen, du weißt nicht, wer das war?“
Sie nickte.
„Willst du mich für dumm verkaufen?“, stieß er aufgebracht hervor. Er ergriff ihre Schulter, zog sie auf die Füße und hielt sie unsanft fest. Er starrte sie zornig an und hätte ihr Angst gemacht, hätte sie ihn nicht so gut gekannt. „Was hast du dir nur dabei gedacht, dich nachts allein davonzuschleichen? Hä?“
„Schlittschuh laufen! – Aua!“ Seine Finger gruben sich in ihre Schultern. „Ich war bloß Schlittschuh laufen, Curtis. Du weißt, dass ich nicht schlafen kann. Ich dachte, ein bisschen Bewegung …“
„Schwachsinn! Du bist hierhergekommen, um ihn zu treffen, stimmt’s?“
„Wen? Den netten Mann, mit dem ich gerade geredet habe? Um Himmels willen, Curtis, ich …“
„Mit ihm geredet? Das ist eine seltsame Bezeichnung dafür. Ich habe dich gesehen, Tammy. Du hast ihn umarmt.“
Wut stieg in ihr auf. „Curtis Rogers, selbst wenn ich mit dem Mann mitten auf der Eislaufbahn Sex gehabt hätte, wäre das allein meine Sache. Ich bin eine erwachsene Frau und tue das, was ich für richtig halte. Du bist mir hierhergefolgt! Mir ist egal, wie besorgt Daniel ist, aber ich werde nicht zulassen, dass du mir nachspionierst, und ich muss mein Handeln dir gegenüber nicht rechtfertigen. Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“
Sein Griff wurde fester, und er schüttelte sie, erst einmal, dann von Neuem. „Die Wahrheit, Tammy! Verflucht, sag mir die Wahrheit!“ Er schüttelte sie, bis ihr der Kopf auf den Schultern wackelte. „Du weißt, wer er ist, oder etwa nicht? Du bist hierhergekommen, um ihn zu treffen, ist es nicht so? Ist es nicht so??“
„L…lass mich los … Curt…tis, du tust mir weh …“
Das Geschüttel trübte ihren Blick, ebenso wie die Befürchtung, dass sie Curtis am Ende wohl doch nicht so gut kannte, wie sie gedacht hatte; gleichwohl konnte sie immer noch gut genug sehen, dass ihr die dunkle Gestalt hinter Curtis nicht entging. Sie wusste, wer dort stand. Sie hatte seine Gegenwart gespürt … vielleicht sogar schon, bevor sie ihn gesehen hatte. Und sie spürte noch etwas: seine überschäumende Wut.
„Nimm deine Hände von ihr“, befahl der Fremde, und seine Stimme bebte vor mühsam beherrschtem Zorn.
Curtis versteifte sich. Er ließ von ihr ab, und seine Augen weiteten sich. Tamara trat einen Schritt zurück. Ihre Hand glitt empor, um eine ihrer schmerzhaft gequetschten Schultern zu massieren. Der aufgewühlte Blick des Fremden, der auf ihr ruhte, ließ sie aufschauen. Die nachtschwarzen Augen folgten der Bewegung ihrer Hand, und seine Wut steigerte sich noch mehr.
Aber wie kann ich das wissen?
Curtis drehte sich zu ihm und trat einen Schritt zurück … fort von der eindrucksvollen Gestalt des Mannes. Nun, zumindest wusste sie jetzt, dass er tatsächlich real war. Sie vermochte ihren Blick ebenso wenig von ihm abzuwenden wie er von ihr, schien es. Ihre Lippen bebten bei der Erinnerung an ihren Kuss. Sie hatte das Gefühl, als wüsste er das.
Ich sollte irgendetwas sagen, dachte sie vage. Vernünftig oder nicht, sie wusste, dass der Mann kurz davor stand, Curtis zu erwürgen.
Bevor sie allerdings dazu kam, eine passende Bemerkung zu machen, krächzte Curtis: „M…Marquand!“ Noch nie zuvor hatte sich seine Stimme so angehört wie jetzt.
Die Überraschung traf Tamara wie ein körperlicher Hieb. Ihr Blick glitt zurück zum Gesicht des Fremden, der seine Aufmerksamkeit jetzt Curtis zugewandt hatte. Ein kleines, humorloses Lächeln umspielte seine Lippen, als er Curtis zunickte.
Sie registrierte eine plötzliche Bewegung und sah, wie Curtis mit einer Hand in seine Jacke griff, genau wie es die Bösewichter im Fernsehen taten, wenn sie nach einer verborgenen Waffe tasteten. Sie versteifte sich vor Panik; dann entspannte sie sich wieder, als er lediglich ein kleines goldenes Kruzifix hervorholte, das er Marquand mit ausgestrecktem Arm entgegenhielt, das Kreuz so fest umklammernd, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
Einen Moment lang regte sich der Fremde nicht. Er starrte wie gebannt auf das goldene Symbol. Sie beobachtete ihn aufmerksam und erschauerte, als ihre Finger unwillkürlich die Stelle an ihrem Hals berührten, während sie sich an das Gefühl jener spitzen Zähne erinnerte. War er womöglich wirklich ein Vampir?
Das Lächeln kehrte zurück, sarkastisch und bitter. Er gluckste sogar, ein Laut, der wie fernes Donnergrollen aus den Tiefen seiner Brust drang. Er streckte die Hand aus, nahm Curtis das Kreuz ab und drehte es einige Male hin und her, um es eingehender zu betrachten.
„Beeindruckend“, sagte er und gab es zurück. Curtis ließ das Kruzifix zu Boden fallen, und Tamara seufzte vor Erleichterung, die jedoch nur von kurzer Dauer war.
Sie verstand jetzt, was es mit ihrer kurzen Begegnung mit Marquand auf sich gehabt hatte. Das Ganze verärgerte sie. „Bist du tatsächlich Marquand?“
Er deutete eine übertriebene Verbeugung in ihre Richtung an.
Sie vermochte seinem Blick nicht länger standzuhalten, beschämt über ihre vorangegangene Reaktion auf das, was für ihn anscheinend nichts als ein Spiel gewesen war.
„Ich kann nachvollziehen, dass du wütend auf meinen Vormund bist. Immerhin hat er dich gejagt wie einen tollwütigen Hund. Allerdings solltest du dir vor Augen führen, dass ich daran keinen Anteil hatte. Ich habe so lange zu deinen Gunsten mit ihnen diskutiert, bis ich es irgendwann leid war. Ich werde mich von jetzt an vollkommen aus dieser Sache raushalten. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dich entschlossen hast, Daniel nicht zur Rechenschaft zu ziehen, aber ich würde es wirklich vorziehen, wenn du künftig darauf verzichten würdest, mich als Laufburschen zu benutzen.“
Sie sah, wie er die Augenbraue hochzog, und hielt den Atem an. „Dein Vormund? Das sagtest du schon vorhin, aber ich …“ Seine Augen weiteten sich. „St. Claire?“
„Tu nicht so, als hättest du das vor deiner kleinen Vorstellung da drüben nicht gewusst.“ Sie schüttelte den Kopf, und instinktiv strich sie sich mit den Fingern wieder über die empfindliche Stelle an ihrem Hals.
„Ich könnte das Ganze vielleicht sogar amüsant finden, wenn ich nicht gerade kurz davor wäre …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf, als sich ihre Augen mit Tränen füllten; unversehens stockte ihr der Atem.
„Tamara, das war gewiss nicht meine Absicht …“
Sie brachte ihn mit einem heftigen Kopfschütteln zum Schweigen. „Ich werde dafür sorgen, dass er deine Nachricht erhält. Er ist vielleicht ein Mistkerl, Marquand, aber ich mag ihn sehr. Ich will nicht, dass er die Last eines Prozesses tragen muss.“
Sie machte auf dem Absatz kehrt.
„Tamara, warte! Was ist mit deinen Eltern geschehen? Wie hat er … Tamara!“
Sie ignorierte ihn, stieg aufs Eis und fuhr zur anderen Seite der Bahn, wo sie ihren Matchsack zurückgelassen hatte. Sie stolperte über den Schnee, um ihn aufzuheben, dann ließ sie sich schwer auf die nächste Bank fallen und beugte sich vor, um ihre Schlittschuhe aufzuschnüren. Ihre Finger zitterten. Durch die Tränen, die ihren Blick trübten, konnte sie kaum etwas erkennen.
Warum reagierte sie derart heftig auf die gefühllosen Machenschaften dieses Mannes? Warum fühlte sie sich so von ihm betrogen?
Weil ich den Verstand verliere, das ist der Grund.
Wut ließ sie aufschauen; sie fühlte ihn wie etwas Greifbares. Sie zerrte einen Schlittschuh von ihren Füßen, schlüpfte in einen ihrer Stiefel und schnürte den anderen Schlittschuh auf, ohne hinzusehen. Ihr Blick ruhte auf Marquand, der Curtis jetzt am Kragen gepackt hielt und ihn auf die gleiche Art und Weise schüttelte, wie Curtis vor ein paar Minuten sie geschüttelt hatte. Dann hielt er inne, ließ Curtis los und schubste ihn von sich.
Curtis landete mit dem Hintern im Schnee. Alles, was sie von Marquand sehen konnte, war sein Rücken; dennoch hörte sie seine Worte deutlich, wenn auch nicht mit den Ohren. Rogers, wenn ich noch einmal mitbekomme, dass du sie anrührst, wirst du mit deinem Leben dafür bezahlen. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?
Verständlich genug für mich, dachte Tamara. Curtis schien im Moment nicht in der Gefahr zu schweben, ermordet zu werden. Sie steckte ihre Schlittschuhe in die Tasche und ging von dannen, während die beiden noch diskutierten.
Bohrender Schmerz schoss der Länge nach sein Brustbein entlang, als Eric das pinkfarbene Fell der Ohrenschützer streichelte, die sie in ihrer Hast, von ihm fortzukommen, zurückgelassen hatte. Auch ihren Mantel hatte sie liegen lassen. Er trug ihn über seinen Arm gelegt, während er den beiden in recht großem Abstand folgte.
Rogers hatte Tamara bereits ein paar Minuten nach ihrem Abgang eingeholt. Er passte sich ihren wütenden Schritten an und sprach unentwegt auf sie ein, in dem Bemühen, ihren Zorn zu besänftigen.
„Es tut mir leid, Tammy. Glaub mir, ich wollte dir nicht wehtun. Kannst du nicht begreifen, dass ich halb verrückt war vor Angst, als ich dich in seinen Armen sah? Mein Gott, ist dir nicht klar, was alles hätte passieren können?“
Kraft seiner Gedanken durchforstete Eric den Verstand des Mistkerls Rogers, ohne Hinweise darauf zu finden, dass Tamara von ihm Gefahr drohte. Er wiederholte den Vorgang, nachdem die beiden St. Claires düstere viktorianische Villa betreten hatten, nicht bereit, Tamara der „Obhut“ der beiden Männer zu überlassen, bis er sich gewiss sein konnte, dass alles in Ordnung war. Und selbst dann brachte er es nicht über sich, zu gehen.
Wie, zum Teufel, hatte es St. Claire geschafft, Tamaras Vormund zu werden? Als Eric sie vor all diesen Jahren verlassen hatte, besaß sie zwei liebende Eltern, die bei dem Gedanken fast verrückt wurden, Tamara womöglich zu verlieren. Er konnte sie immer noch vor sich sehen – die kleine Miranda, eine zerbrechlich aussehende Frau mit mausbraunem Haar und hübschen grünen Augen, die ihr vor Liebe schier übergingen, wenn sie ihr entzückendes Kind betrachtete.
In jener Nacht im Krankenhaus war sie hysterisch gewesen. Eric hatte gesehen, wie sie sich am weißen Kittel des Arztes festklammerte und bei dem, was der Arzt ihr sagte, heftig den Kopf schüttelte, während unkontrolliert Tränen über ihr Gesicht rannen. Zeuge der unaussprechlichen Verzweiflung ihres Gatten zu werden war sogar noch schmerzlicher gewesen. Kenneth war am Boden zerstört gewesen; als er sich auf den Stuhl sinken ließ, wirkte er, als würde er nie wieder aufstehen. Das blonde Haar fiel ihm über eines seiner Augen.
Was, zum Teufel, war ihnen widerfahren? Eric ließ sich auf einen verfaulten schneebedeckten Baumstumpf außerhalb der Villa fallen, den Kopf stützte er in die Hände. „Ich hätte sie niemals alleinlassen dürfen“, flüsterte er der Nacht zu. „Lieber Himmel, ich hätte sie niemals alleinlassen dürfen …“
Seiner aufschreienden Seele trotzend, blieb er dort sitzen, bis der Himmel im Osten sich schließlich aufzuhellen begann. Sie war jetzt der Überzeugung, er hätte sie nur benutzt, um St. Claire eins auszuwischen. Ganz offensichtlich besaß sie weder eine konkrete Erinnerung an ihn, noch war sie sich über die Beziehung zwischen ihnen im Klaren.
Sie rief ihn, während sie in den Fängen ihres Unterbewusstseins weilte – im Traum. Sie konnte sich nicht einmal seines Namens entsinnen.
Tamara hielt vor der Tür zu Daniels Büro inne, um sich zu sammeln, ihre Hand lag auf dem Knauf. Vergangene Nacht war sie jeglicher weiterer Konfrontation mit Curtis aus dem Weg gegangen, indem sie ihre vermeintliche Erschöpfung vorschob – eine Lüge, die er ihr abgenommen hatte, weil er wusste, wie wenig Schlaf sie in letzter Zeit fand.
Heute Morgen war sie eigens in ihrem Zimmer geblieben und hatte vorgegeben zu schlafen, als Daniel sie vom Flur aus rief. Sie wusste, dass er sie nicht wecken würde, wenn er dachte, dass sie endlich schlief. Sie wartete, bis er zum DPI-Hauptquartier in White Plains aufgebrochen war, ehe sie sich zurechtgemacht hatte und mit ihrem arg mitgenommenen VW-Käfer losgefahren war.
Ihr Tag war vollgepackt gewesen mit der banalen Arbeit, die sie ihr dort gaben. Ihre erbärmliche Sicherheitsfreigabe war nicht hoch genug, als dass es ihr erlaubt gewesen wäre, sich mit irgendetwas Wichtigem zu beschäftigen. Mit Ausnahme von Jamey Bryant. Er war wichtig – für sie zumindest. In den Augen vom DPI war er lediglich ein Klasse-drei-Hellseher, doch in ihren gehörte er zur ersten Garde. Abgesehen davon liebte sie das Kind.
Sie seufzte und lächelte bei dem Gedanken an ihn; dann versteifte sich ihr Rücken, als sie an die bevorstehende Begegnung dachte. Sie packte den Türknauf noch fester und hielt dann inne, als sie Curtis’ Stimme hörte.
„Sieh sie dir an! Ich sage dir, irgendetwas geht hier vor, und du bist ein Idiot, wenn du es nicht erkennst!“
„Sie ist verwirrt“, sagte Daniel; er klang bekümmert. „Ich gebe zu, dass die Nähe unerwartete Auswirkungen auf sie hat, aber dafür kann man sie nicht verantwortlich machen. Sie ist sich nicht darüber im Klaren, was mit ihr geschieht.“
„Das denkst du. Ich hingegen denke, dass sie unter ständiger Beobachtung stehen sollte.“
"Ihre Wut wuchs sprunghaft, und Tamara stieß die Tür auf. „Könnt ihr euch vorstellen, wie leid ich es bin, dass ihr über mich sprecht, als wäre ich einer eurer Fälle?“
Beide Männer schauten überrascht auf. Sie tauschten beunruhigte Blicke, ehe Daniel so rasch von seinem Stuhl aufstand, dass die Beine über den Fliesenboden kratzten. „Nun, Tam, wie kommst du darauf, dass wir über dich gesprochen haben? Wir haben uns tatsächlich über einen Fall unterhalten. Einen, bei dem wir offensichtlich unterschiedlicher Ansicht sind.“
Sie lächelte zynisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ach, wirklich? Um welchen Fall geht’s denn?“
„Entschuldige, Tammy“, murmelte Curtis. „Aber deine Sicherheitsfreigabe ist nicht hoch genug.“
„Wann war sie jemals hoch genug?“
„Bitte, Tam.“ Daniel kam zu ihr herüber, umarmte sie sanft und küsste sie auf die Wange. Dann trat er zurück und sah ihr ins Gesicht. „Bist du in Ordnung?“
„Warum, um Himmels willen, sollte ich das nicht sein?“ Seine Besorgnis ließ ihren Zorn ein wenig abklingen, doch das änderte nichts daran, dass sie von seinem Verhätscheln die Nase gestrichen voll hatte.
„Curtis sagte, dass du letzte Nacht Marquand getroffen hast.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich will, dass du mir alles erzählst, was passiert ist. Alles, was er gesagt und getan hat. Hat …“ Allein die Vorstellung daran ließ Daniel erbleichen. „Hat er dich berührt?“
„Er hat sie festgehalten, als würde er sie nie wieder loslassen“, explodierte Curtis. „Daniel, ich sagte dir …“
„Ich möchte, dass sie es mir erzählt.“ Die hellblauen Augen ihres Vormunds suchten erneut den Blickkontakt mit ihr. Sein Blick fiel auf den Kragen ihres türkisfarbenen Rollkragenpullovers und ihr weites weißes Sweatshirt. Auf einmal hatte es den Anschein, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.
Curtis schien ihre Kleidung im selben Augenblick zu bemerken und hielt den Atem an. „Mein Gott, Tammy, hat er …“
„Das hat er mit Sicherheit nicht!“, unterbrach ihn Tamara wütend. „Habt ihr beide überhaupt eine Ahnung, wie verrückt ihr euch anhört?“
„Zeig’s mir“, sagte Daniel sanft.
Sie schüttelte den Kopf und atmete tief aus. „In Ordnung, aber zuerst möchte ich euch etwas erklären. Marquand scheint sich sehr wohl darüber im Klaren zu sein, für was ihr beide ihn haltet. Ich glaube, dass dieses Zusammentreffen bei der Eisbahn letzte Nacht sein Weg war, euch eine Nachricht zukommen zu lassen, und zwar die, dass ihr ihn in Ruhe lassen sollt. Ich denke, dass es ihm verdammt ernst ist.“
Sie hakte zwei Finger in den Kragen ihres Pullovers und zog ihn herunter, um den beiden Männern den blaulila Fleck zu zeigen, den Marquand auf ihrem Hals hinterlassen hatte.
Daniel schnappte nach Luft.
„Seht genau hin, ihr zwei. Das ist keine Bisswunde, bloß ein … na ja, um ehrlich zu sein, es ist ein Knutschfleck. Ich habe mir von einem vollkommen Fremden einen Knutschfleck machen lassen, was euch zeigen sollte, unter welchem Druck ich in letzter Zeit stehe. Mit meinen Schlafstörungen und eurem Gluckengehabe fühle ich mich, als müsste ich jeden Moment explodieren.“
Daniel lehnte sich näher zu ihr; sie spürte seinen Atem auf ihrem Hals, als er den blauen Fleck näher in Augenschein nahm. Zufrieden mit dem Ergebnis seiner Untersuchung, legte er ihr eine Hand auf die Schulter. „Liebes, hat er dir wehgetan?“
Sie konnte nicht verhindern, dass bei dieser Frage ein kleines Lächeln über ihre Züge huschte, welches jedoch sogleich wieder verschwand.
„Ihr wehgetan?“ Curtis schlug mit einer Hand auf die Tischplatte. „Sie hat jede Sekunde davon genossen.“ Er sah sie zornig an. „Ist dir nicht klar, was da draußen alles hätte passieren können?“
„Natürlich ist mir das klar, Curtis. Er hätte mir die Kehle aufreißen, mir alles Blut aussaugen und mich mit zwei Löchern im Hals dort auf dem Eis zum Sterben zurücklassen können!“
„Wenn ich ihn nicht vertrieben hätte …“, begann Curtis.
„Bleib bei der Wahrheit, Curtis. Er war derjenige, der dich vertrieben hat. Um deiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen: Du hast mich so durchgeschüttelt, dass mir die Zähne geklappert haben. Wäre er mir nicht zu Hilfe gekommen, trüge ich jetzt vermutlich eine Halskrause.“
Daniel warf Curtis einen vernichtenden Blick zu, der jenen veranlasste, reflexartig den Mund zu schließen. Dann wandte er sich wieder Tamara zu. „Du sagst, er ist dir zu Hilfe gekommen?“
Sie nickte. „Mmh … und er hat Curtis“, fuhr sie fort, nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, „das Kruzifix, ohne zu zögern, aus der Hand genommen. Es hat noch nicht einmal seine Handfläche verbrannt, oder was immer es eurer Meinung nach anrichten sollte. Ist das kein Beweis?“
„Doch.“ Curtis stellte den Gesichtsausdruck eines schmollenden Kindes zur Schau. „Ein Beweis dafür, dass religiöse Symbole Vampiren nichts anhaben können.“
Tamara verdrehte die Augen und hörte, wie Daniel murmelte: „Interessant.“
Trotz der eigenartigen Symptome, die ihr zu schaffen machten, hatte sie das Gefühl, die einzig Zurechnungsfähige in diesem Raum zu sein.
„Ich weiß, dass du glaubst, dass wir in dieser Angelegenheit überreagieren“, sagte Daniel. „Trotzdem möchte ich, dass du das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr verlässt.“
Sie wurde wütend. „Ich gehe, wohin ich will, wann immer ich will! Daniel, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, und wenn dieses Affentheater nicht aufhört, werde ich …“ Sie hielt lange genug inne, um sich seiner vollen Aufmerksamkeit gewiss zu sein, bevor sie fortfuhr: „… ausziehen.“
„Tam, du würdest nicht …“
„Nur wenn du mich dazu zwingst, Daniel. Falls ich mitbekomme, dass du oder Curtis mir noch einmal nachspioniert, dann werde ich mich dazu gezwungen sehen.“ Sie fühlte einen Kloß im Hals, als sie Daniels schmerzerfüllten Blick bemerkte. Sie verlieh ihrer Stimme einen freundlicheren Tonfall, als sie sagte: „Ich gehe jetzt nach Hause. Gute Nacht.“