Keith

14. KAPITEL

Als die aufgehende Sonne den Himmel zum Leuchten brachte, warf Tamara einen Blick in Daniels Schlafzimmer. Er lag vollständig bekleidet auf der Tagesdecke und schnarchte lauthals. Eine halb leere Flasche lag auf dem Boden neben dem Bett. Der Verschluss war nicht richtig zugedreht. Feuchtigkeit sprenkelte den Flaschenhals, und einige Tropfen Whiskey durchnässten den ausgetretenen Teppich. In einer bernsteinfarbenen Pfütze auf dem Nachttisch lag ein Glas.

Tamara legte die Stirn in Falten, als sie leise das Zimmer durchquerte, die Flasche und das Glas aufnahm und wieder hinausging. Was veranlasste ihn nur dazu, jede Nacht zu trinken bis zum Umfallen? In all den Jahren, die sie ihn nun schon kannte, hatte sie Daniel bei verschiedenen Gelegenheiten nie mehr als ein oder zwei Gläser trinken sehen.

Sie hatte ihn niemals betrunken erlebt. Sie kehrte mit einer Handvoll Papiertücher zurück und wischte die Pfützen auf, ehe sie die Decke über Daniel breitete und auf Zehenspitzen hinausging. Etwas machte Daniel zu schaffen – etwas anderes als das Wissen darum, dass sie ihre Nächte mit dem Mann verbrachte, den er zeit seines Lebens als seinen Feind betrachtet hatte.

Sie verdrängte die sorgenvollen Gedanken aus ihrem Bewusstsein, entschlossen, sich allein auf die guten Dinge zu besinnen, die bevorstanden. Heute Abend würden sich Daniel und Eric treffen. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass die beiden mit der Zeit Freunde werden würden. Und auch Curtis würde zur Vernunft kommen. Selbst wenn er vorübergehend den Kopf verloren hatte, war er dennoch ein intelligenter Mensch. Er würde die Wahrheit erkennen, wenn sie ihm geradewegs ins Gesicht blickte.

Einen Moment lang zeichnete sich die Zukunft vor ihr ab, während sie bei einem dampfenden, duftenden Schaumbad entspannte. Wie ein gigantisches schwarzes Loch mit einem Fragezeichen darin schwebte die Vision in ihrem Verstand. Indes, sie achtete nicht darauf. Im Augenblick hatte sie genug damit zu tun, die Gegenwart auf die Reihe zu bekommen.

Über die Zukunft konnte sie sich später Gedanken machen, wenn sich die Lage wieder beruhigt hatte.

Sie beabsichtigte, zunächst zu baden, sich dann frische Kleider anzuziehen und schließlich zu Eric zurückzufahren, um sich zu vergewissern, ob die Arbeiter wie angekündigt eingetroffen waren. Mit der gleißenden Sonne, deren Strahlen draußen vom Schnee reflektiert wurden, kam die körperliche und emotionale Erschöpfung.

Gänzlich gegen ihren Willen schlief sie in der Badewanne ein, gleichwohl, sie schlief nicht sonderlich gut. Ihre Träume waren beängstigend, ihr Schlummer unruhig. Sie sah sich selbst in hohem Alter, mit weißem Haar und tiefen Falten im Gesicht. Dann veränderte sich der Traum, und sie stand vor einem kalten Grabstein, in den ihr Name eingraviert war. Sie sah Eric, der danebenstand – zusammengekrümmt vor Trauer und umgeben von der bitteren Kälte jener trüben Winternacht.

Sie fuhr aus dem Schlaf auf und stellte fest, dass wohl auch das inzwischen kalte Wasser, in dem ihr Körper ruhte, einen Anteil an der scheinbaren Lebendigkeit ihres Traums gehabt haben mochte. Gleichwohl gelang es ihr nicht, die in ihrem Verstand nachhallenden Bilder abzuschütteln.

„So muss es nicht kommen“, sagte sie laut und vernehmlich. Und sie wusste, dass das nichts als die Wahrheit war. Eric hatte ihr erklärt, was es bedeutete, zu jenen zu gehören, die er die Auserwählten nannte. Der Gedanke durchtoste sie, um sie gleich einem Blatt im Sturm erzittern zu lassen. Sie hatte die Möglichkeit, zu dem zu werden, was er war …

Tamara presste eine Handfläche auf ihre Stirn und schüttelte sich. Später. Sie würde später über dies alles nachdenken. All das war mehr, als sie im Moment zu verarbeiten vermochte. Sie trocknete sich übertrieben gründlich ab, um die Gänsehaut loszuwerden, die ihr das kalte Wasser beschert hatte, und kleidete sich hastig an. Ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett verscheuchte jeden anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Mittag! Inzwischen müsste Curtis …

Sie nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinabeilte, und hielt am Fuß der Stiegen erschrocken inne, als sie Curtis gemütlich in einem der Polstersessel sitzen sah, in aller Ruhe an einer Tasse Kaffee nippend und Zeitung lesend. Daniel, der inzwischen wach war und neben Curtis saß, erhob sich, und sie spürte, wie sein blutunterlaufener Blick über ihr immer noch feuchtes Haar und ihre hastig übergeworfenen Kleider glitt.

Seine Augen kamen auf den blauen Flecken auf ihrem Gesicht zu liegen, und er wirbelte herum, um Curtis anzustarren. „Du hast ihr das angetan?“

Er schaute zu Boden. „Du hast keine Ahnung, wie schlecht ich mich deswegen fühle, Tammy. Es tut mir leid … es tut mir mehr leid, dir wehgetan zu haben, als irgendetwas anderes in meinem Leben. Ich war gestern nicht ich selbst. Ich … kannst du mir je verzeihen?“

Tamara stieg die letzte Stufe hinab und näherte sich ihm mit Bedacht, ohne sein Gesicht aus den Augen zu lassen. Sie sah dort nichts als aufrichtige Reue. Er begegnete ihrem Blick, und seine Augen schienen um Verständnis zu flehen. „Ich habe immer noch Angst um dich“, sagte er. „Ich habe Angst um uns alle, aber …“

„Ich weiß, dass du Angst hast, Curtis, doch dazu gibt es keinerlei Anlass. Hätte Eric die Absicht, dir Schaden zuzufügen, hätte er es längst getan. Begreifst du das nicht? In all den Monaten, in denen ihr beide ihm nachgestellt habt, hat er niemals auch nur die Hand gegen einen von euch erhoben.“

Daniel räusperte sich und trat näher zu den beiden, um mit ihnen einen engen Kreis zu bilden. Ihr fiel auf, dass er sich rasiert und zudem die Mühe auf sich genommen hatte, sich ordentlich zu kleiden; er trug ein makelloses weißes Hemd, Hosen mit rasiermesserscharfen Bügelfalten, einen braunen Ledergürtel nebst passenden auf Hochglanz polierten Schuhen sowie eine dunkelblaue Krawatte, die von einer goldenen Nadel an ihrem Platz gehalten wurde. Beabsichtigte er womöglich, seinen übermäßigen Alkoholkonsum mit seinem gepflegten Äußeren zu überspielen? Wie konnte er annehmen, sie wüsste nichts davon?

„Ich muss zugeben“, begann er, „dass es mir nach allem, was ich auf mich genommen habe, verdammt schwer fällt, einzugestehen, dass ich mich womöglich die ganze Zeit über geirrt habe.“

Sie sah, dass er krampfhaft schluckte und rasch blinzelte, bevor er fortfuhr: „Als Wissenschaftler müssen wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen, Curtis. Aus diesem Grund und weil ich Tamara liebe, bin ich bereit, diesem Mann zuzugestehen, dass er im Zweifelsfall tatsächlich unschuldig ist.“

„Ich kann nicht glauben, dass du dich mit ihm treffen willst, Daniel“, platzte Curtis kopfschüttelnd heraus. „Aber ich nehme an, wenn du deine Entscheidung getroffen hast …“

„War er einverstanden, Tam?“, unterbrach Daniel ihn.

Sie nickte und warf Curtis einen argwöhnischen Blick zu.

„Heute Abend? Hier, kurz nach Sonnenuntergang? Er war mit allem einverstanden? Ungeachtet all deiner Beteuerungen bin ich nicht bereit, mich irgendwo anders mit ihm zu treffen.“

„Ich musste ihm nicht sagen, dass du es vorziehst, dich hier mit ihm zu treffen.“ Bevor sie sich darüber selbst so recht im Klaren war, stellte sie fest, dass sie sich in die Enge gedrängt fühlte. „Er hat es von sich aus vorgeschlagen.“

Daniel nickte, während Curtis seinen Kopf nach hinten fallen ließ und zur Decke emporstarrte. Einen Seufzer ausstoßend, wandte er sich wieder ihnen zu. „In Ordnung, wenn es unvermeidlich ist, dann will ich ebenfalls dabei sein.“

„Nein!“ Tamara stieß das Wort so laut hervor, dass beide Männer zusammenzuckten. Sie zwang sich, ihre Stimme zu senken. „Nach dem, was gestern Nacht passiert ist, möchte ich nicht, dass du ihm zu nahekommst, Curtis.“

Curtis blinzelte sie an und verdrehte vor augenscheinlichem Kummer die Augen. „Du traust mir nicht?“ Er betrachtete einen langen Moment ihr Gesicht, ehe er erneut seufzte. „Ich nehme an, das habe ich mir selbst zuzuschreiben, aber …“ Er ließ seinen Blick zu Daniel schweifen, auch wenn seine Worte für Tamara bestimmt waren. „Ich bete zu Gott, dass du in Bezug auf Marquand recht hast.“

„Ich habe recht“, beharrte sie. „Ich weiß, dass ich recht habe.“ Sie sah zur Tür hinüber, und ihr fiel ein, dass sie es eigentlich recht eilig hatte aufzubrechen. Auch wenn es den Anschein hatte, als wäre Curtis zur Vernunft gekommen, wollte sie noch immer schauen, wie die Reparaturarbeiten in Erics Haus vorangingen. „Ich werde eine Weile fort sein.“

Als sie sich umdrehte, ergriff Curtis ihren Arm. „Du hast mir noch nicht gesagt, dass du mir verzeihst, weil ich mich gestern wie ein Idiot aufgeführt habe.“ Sein Blick glitt über ihren blauen Fleck, ehe er ihr von Neuem in die Augen sah. „Wenn ich daran denke, was ich dir angetan habe, dreht sich mir der Magen um.“

Tamara schloss langsam die Augen. Sie wollte keinen weiteren Ärger und Streit. Alles, wonach es sie verlangte, war, dass nichts ihre Freude trübte. „Es war eine anstrengende Woche, Curtis. Ich weiß, dass du mir nicht wehtun wolltest. Ich habe dir praktisch schon im selben Moment verziehen, als es passiert ist.“

„Du bist einmalig, Tam.“

Sie verabschiedete sich hastig und war froh, allein hinter dem Lenkrad ihres Käfers zu sitzen, während sie sich auf den Weg zu Erics Haus machte.

Sie entdeckte zwei Pick-ups und einen Lieferwagen am Straßenrand. Trotz des Schnees auf dem Boden arbeiteten die jungen muskelbepackten Männer in T-Shirts. Sie brachte ihren Wagen direkt hinter dem Lieferwagen zum Stehen und machte es sich auf dem Sitz bequem. Sie hatte nicht vor, hineinzugehen, bevor sie sicher sein konnte, dass das Anwesen wieder geschützt war. Trotz Erics Drohung wusste sie, dass er nicht lange auf sie wütend sein würde.

Zweimal während ihrer Wache merkte sie, wie ihr die Augenlider zufielen, und zwang sich, sie offen zu halten. Sie stieg aus und spazierte in der beißend kalten Winterluft auf und ab, um wach zu bleiben. Es war bereits nach halb fünf, als die Handwerkerteams schließlich zusammenpackten, um Feierabend zu machen. In einer Stunde würde die Sonne untergehen und Eric erwachen. Dennoch wartete sie, bis der letzte Mann aufgebrochen war, erleichtert, als sie sah, wie er ihren Wagen argwöhnisch in Augenschein nahm, bevor er wegfuhr.

Sie war sicher, dass er sich ihr Nummernschild notiert hatte. Eric hatte gesagt, dass die Burschen zuverlässig waren. Er hatte recht. Dann fuhr auch sie davon. Sie wollte sich die Zeit nehmen, sich etwas Hübsches anzuziehen und vielleicht irgendetwas Neues mit ihrem Haar anzustellen, bevor Eric zu seinem Gespräch mit Daniel eintraf.

Sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, als sie in Daniels besorgtes Gesicht blickte. „Was ist los?“ Sie eilte ihm entgegen, ohne ihre Jacke auszuziehen oder den Schnee abzuklopfen, der an ihren Stiefeln klebte. „Sag’s mir. Was ist geschehen?“

„Ich bin mir sicher, es ist alles in Ordnung, Tam. Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst, bevor wir etwas Genaues wissen.“

„Sag’s mir!“

Daniel schaute zu Boden. „Kathy Bryant hat vor etwa einer Stunde angerufen.“

„Kathy B…“ Mit einem Mal war Tamaras Kehle wie ausgetrocknet, und sie hatte das Gefühl, jemand hätte ihr seine Faust in den Magen gedonnert. „Es geht um Jamey, nicht wahr?“

Daniel nickte. „Die Schulleitung sagt, dass er nach dem Unterricht wie gewohnt nach Hause gegangen ist, aber dort … ist er nie angekommen.“

„Jamey? Er ist verschwunden?“

Jamey saß ganz ruhig da, weil es wehtat, wenn er versuchte, sich zu bewegen. Man hatte ihm die Arme unbarmherzig auf den Rücken gezogen und dort gefesselt. Eine Binde bedeckte seine Augen, und man hatte ihm irgendetwas über den Mund geklebt. Es fühlte sich an wie Klebeband, aber dessen konnte er sich nicht sicher sein.

Er hatte die Schule verlassen, um zu Fuß nach Hause zu gehen, wie er es immer tat. Er nahm die Abkürzung über den verwaisten Platz hinter dem Drugstore. Jemand hatte ihn von hinten gepackt. Man presste ihm einen feuchten Stofffetzen auf Mund und Nase, und Jamey wusste sofort, dass es sich um Chloroform handelte. Er wusste nicht, wie dieses Zeug roch, noch irgendetwas anderes darüber, doch er hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, dass es das war, was man einem auf Mund und Nase drückte, wenn man jemanden hinterrücks packte. Chloroform wirkte immer. Und es stank. Er hatte gespürt, wie er in ein schwarzes Loch fiel.

Nun war er hier, obwohl er keine Ahnung hatte, wo hier war. Er konnte nichts sehen, und er war kaum imstande, sich zu regen. Aufgrund der ebenen harten Fläche, auf der er saß, und der in seinem Rücken nahm er an, dass er sich irgendwo drinnen befand. Der Fußboden und eine Mauer, mutmaßte er.

Er hielt sich in einem vergleichsweise alten Gebäude auf, da er alte, muffige Gerüche wahrnahm. Doch egal, ob drinnen oder draußen, es war kalt hier. Hin und wieder spürte er einen Luftzug, ohne jedoch irgendeine Art von Wärme wahrzunehmen. Er war froh, dass er seinen Mantel zugemacht und seine Mütze aufgezogen hatte, als er die Schule verließ. Jetzt wäre er dazu fraglos nicht mehr imstande gewesen. Tatsächlich war er jetzt kaum in der Lage, irgendetwas zu tun. Abgesehen von nachdenken.

Seit er wieder zu Bewusstsein gekommen war und sich hier wiedergefunden hatte, hatte er eine Menge nachgedacht. Am meisten hatte er darüber nachgegrübelt, wer ihn gefangen genommen hatte. In dem Augenblick, als ihn der Kerl – und er war sicher, dass es sich um einen Kerl handelte – gepackt hatte, war ein deutliches Gefühl des Wiedererkennens durch seinen Verstand geschossen. Er stand unmittelbar davor, sich vollständig zu erinnern, als das Chloroform ihn aus dem Verkehr zog.

Hätte er bloß ein paar Sekunden mehr Zeit gehabt … Aber vielleicht würde er sich später erinnern. Im Augenblick waren seine beiden größten Sorgen sein knurrender Magen und die fallende Temperatur.

Starr vor Sorge hörte Tamara zu, als Daniel sie über die Einzelheiten von Jameys Verschwinden in Kenntnis setzte. Er hatte die Schule um halb vier verlassen, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Seine Mutter war seinen Heimweg abgefahren, genau wie die Polizei, jeweils ohne Erfolg. Man hatte seine Freunde befragt, dabei jedoch nichts Hilfreiches in Erfahrung gebracht.

Sie wusste, dass sie hierbleiben und auf Eric warten sollte. Er konnte sich mit Daniel unterhalten, wenn er ankam; dann würde sie erklären, was vorgefallen war, und ihn darum bitten, das Gespräch ein andermal zum Abschluss zu bringen. Er würde ihr dabei helfen, Jamey zu finden. Sie war sich darüber im Klaren, dass dies die vernünftigste Vorgehensweise war. Gleichwohl, ihre Gefühle machten dem einen Strich durch die Rechnung.

Im Gegensatz zu der angespannten Gelassenheit, die Kathy Bryant an den Tag legte, als Tamara sie anrief, spürte sie, wie die Panik in ihr wuchs. Die Polizei, die dergleichen ständig erlebte, hatte Kathy zugesichert, dass Jamey innerhalb weniger Stunden gesund und munter wieder auftauchen würde. Allerdings beschlich Tamara instinktiv die unheilvolle Ahnung, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

Als sie ihre Augen schloss und versuchte, sich auf Jamey zu konzentrieren, spürte sie nichts als Angst und Kälte. Sie musste ihn finden, und zwar sofort. Ihm war kalt, er hatte Angst, er war allein und …

„Ich weiß, dass du gehen willst, Tam“, sagte Daniel und legte ihr zärtlich eine Hand auf den Arm.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Eric kommt in Kürze vorbei, und mir ist klar, wie nervös du bist.“

Er schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein, dachte ich mir, dass es für uns beide möglicherweise besser ist, uns unter vier Augen zu unterhalten. Geh du nur, geh, und kümmere dich um den Jungen. Ich werde es Marquand erklären, wenn er hier ist.“

Sie zögerte. „Bist du sicher?“

„Geh schon“, wiederholte er.

Tamara legte ihre Arme um seinen Hals. „Danke, Daniel.“ Sie drückte ihre bebenden Lippen auf seine ledrige Wange. „Du weißt, dass ich dich liebe.“

Sie ließ von ihm ab und eilte zu ihrem Wagen; dann überlegte sie es sich anders und nahm stattdessen Daniels Auto, in dem Wissen, dass er nichts dagegen haben würde. Sein Wagen war schneller.

Als ihr Kathy von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, erzählte sie Tamara dieselbe Geschichte. Mit jedem Blick auf die Uhr schien die Sorge der armen Frau größer zu werden. Anscheinend ließ ihre Zuversicht in die offizielle Ankündigung, dass Jamey bald wohlbehalten nach Hause kommen würde, zusehends nach, ging es Tamara durch den Kopf.

Sie ignorierte die zunehmende Dunkelheit in dem Bewusstsein, dass sich Eric in Kürze mit Daniel treffen und sich höchstwahrscheinlich auf die Suche nach ihr machen würde, sobald er den Grund für ihre Abwesenheit erfuhr. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob es ihm gelingen würde, sie zu finden.

Er würde wissen, wo sie war, ohne zweimal darüber nachdenken zu müssen. Sie wünschte, die geistige Verbindung zwischen Jamey und ihr wäre genauso stark gewesen. Wenn sie bloß die Augen schließen könnte, um zu wissen …Sie schüttelte den Kopf. Sie war nicht dazu in der Lage, also warum Zeit mit Wunschdenken vergeuden?

Sie verbrachte eine Weile in seinem Schlafzimmer und durchforstete seine Sachen auf der Suche nach einem Hinweis oder einer Spur … obwohl sie die ganze Zeit über wusste, dass sie nichts finden würde. Er war nicht freiwillig verschwunden. Das Band zwischen ihnen war stark genug, um ihr zumindest so viel zu verraten.

Sie ließ Kathy eine Karte des Weges zeichnen, den er für gewöhnlich nach Hause nahm. Dann fuhr sie zur Schule, stellte den Wagen ab und schritt den Weg ab, jeden ihrer Sinne darauf ausgerichtet, eine Spur von ihm zu entdecken. Die Polizei hatte den Weg abgesucht, den er aller Wahrscheinlichkeit nach genommen hatte, und nichts gefunden. Kathy hatte dasselbe getan, und doch war Tamara überzeugt davon, dass sie auf etwas stoßen würde, das sie übersehen hatten … Sie irrte sich nicht.

Als sie den Bürgersteig hinter dem Drugstore entlangzugehen begann, weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie hielt inne, hob den Kopf hoch und wartete. Ihr Blick schweifte wie von selbst zu dem Platz hinter dem Geschäft hinüber, eine mit Unkraut und Abfällen übersäte Fläche, dessen Überquerung alle Eltern ihrem Kind verbieten würden, so wie Kathy es höchstwahrscheinlich Jamey verboten hatte.

Gleichwohl entdeckte sie einen gewundenen Pfad, der sich zwischen schneebedecktem braunen Unkraut, zerbrochenen Flaschen und Müll dahinzog. Sie nahm die Taschenlampe aus ihrer Tasche, die sie sich von Kathy ausgeliehen hatte, und überprüfte die handgezeichnete Karte.

Den Platz zu überqueren würde seinen Heimweg um einige Minuten verkürzen. Sie faltete die Karte zusammen, steckte sie ein, richtete den Lampenstrahl auf den Boden und folgte dem beinahe unsichtbaren Pfad. Hier lag nur wenig Schnee, und den wenigen, den es gab, verwehte der Wind, der über die freie Fläche strich, fortwährend von Neuem.

Papierfetzen und Abfall wirbelten über den Pfad, als sie dem Strahl der Taschenlampe folgte. Zerknüllte Zeitungsseiten jagten dahin, und ein einzelner Notizzettel trieb an ihr vorüber. Sie suchte nach Fußspuren, sah jedoch keine und kam zu dem Schluss, dass sie ohnehin längst vom Wind weggeweht worden wären, hätte es welche gegeben. Pastellfarbenes Toilettenpapier tanzte an ihr vorbei und dann ein weißes Etwas, das wie Stoff aussah. Sie runzelte die Stirn und folgte dem Weg des Fetzens mit dem Strahl der Lampe. Es war kein Stoff, sondern Mull. Ein zerknülltes Stück Mull.

Die Brise wurde stärker, und der Fetzen flog davon. Sie jagte ihm einige Meter hinterher, verlor ihn aus den Augen und fand ihn schließlich wieder. Sie hob ihn mit spitzen Fingern auf, sorgsam darauf bedacht, lediglich eine Ecke des Gewebes zu berühren. Sie hielt den Mull in den Lichtschein; man hatte damit keine Verletzung behandelt. Nirgends zeigte sich ein Hinweis auf Blut. Langsam wie ein sich anschleichendes Phantom bahnte sich der Geruch seinen Weg in ihre Sinne. Sie rümpfte die Nase. War das …?

„Chloroform“, flüsterte sie entsetzt.

Eric stieg die Vorderstufen zu St. Claires Haus empor und drückte auf die Klingel, um seine Ankunft anzukündigen. Während er wartete, trat er von einem Fuß auf den anderen und runzelte die Stirn, als niemand an die Tür kam, um zu öffnen. Mehrfach hatte er sich gesagt, dass er mit allem fertig werden würde, ganz gleich, was für Überraschungen St. Claire für ihn bereithalten mochte. Und doch schwirrte sein Kopf vor Warnungen. Er drückte noch einmal auf den Klingelknopf.

„Ich sage dir, irgendwas stimmt hier nicht!“ Roland trat aus seinem Versteck zwischen den Sträuchern und blieb neben Eric vor der Tür stehen.

„Und ich habe dir gesagt, du sollst außer Sicht bleiben. Wenn er dich entdeckt, wird er überzeugt sein, dass wir gekommen sind, um ihn umzubringen.“

„Mein scharfsinniger Freund, ist dir nicht aufgefallen, dass niemand die Tür öffnet?“

Eric nickte. „Geduld, Roland. Ich rufe Tamara.“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er seine Sinne auf sie ausrichtete; gleichwohl, er spürte keinen Hinweis darauf, dass sie sich in dem Haus aufhielt. Dann änderte der Wind seine Richtung, und beide bemerkten sie den schweren, unverwechselbaren Geruch von Blut, der zu ihnen drang. Eric warf Roland einen überraschten Blick zu; dann liefen die beiden Männer um das Haus herum zur Quelle des Geruchs.

Hinter dem Haus hielten sie inne, in der Nähe eines offenen Fensters mit nach innen wehendem Vorhang. Ohne zu zögern, sprang Eric auf das Fensterbrett und dann durch die Fensteröffnung, um drinnen leichtfüßig auf dem Boden zu landen. Der Geruch war jetzt allumfassend, und als er sich in dem Raum umschaute, musste er sein aufkommendes Entsetzen unterdrücken.

St. Claire lag hingestreckt auf dem Boden in einer riesigen Lache seines eigenen Bluts, das noch immer aus einem gezackten Riss in seiner Kehle floss; gleichwohl hatte es den Anschein, als wäre kaum noch etwas übrig, das fließen konnte.

„Schön, dass du dich entschieden hast, meiner kleinen Feier beizuwohnen, Marquand. Du bist spät dran. Wie du siehst, wurden die Erfrischungen bereits serviert.“

Eric blickte auf und sah Curtis Rogers in einer dunklen Ecke stehen. „Du“, murmelte er. Er stürzte sich auf den Mann, doch Curtis wich seiner ersten Attacke aus und schleuderte Eric etwas Warmes, Klebriges ins Gesicht. Blut. Er hatte es in einem Glas gesammelt. Automatisch wischte Eric mit dem Ärmel über sein Gesicht, und einen Moment später hatte er den lachenden kleinen Mistkerl bei der Gurgel gepackt. Mit einem Mal spürte er einen scharfen Stich in seiner Brust. Kein Messer, dachte er. Es war … oh, verdammt, eine Spritzennadel!

Er zuckte vor Schmerz zusammen, fing sich wieder und löste eine Hand von Curtis’ Kehle, um sie zur Faust zu ballen und sie ihm ins Gesicht zu schlagen. Rogers ging zu Boden, warf einen Tisch um und zertrümmerte eine Lampe. Eric näherte sich ihm, in dem Bewusstsein, dass jetzt auch Roland hereingekommen war. Er spürte, wie sich die Hand seines Freundes von hinten auf seine Schulter legte.

„Ich sagte dir, es ist eine Falle. Wir müssen sofort verschwinden, bevor …“

„Nein!“ Eric schüttelte Rolands Hand ab und trat einen weiteren Schritt auf den am Boden liegenden Mann zu, der keinerlei Anstalten unternahm zu fliehen. Plötzlich begriff Eric, warum. Eine Welle des Schwindels überfiel ihn. Er brach auf ein Knie, während Rogers wie eine Krabbe vor ihm zurückwich. Er gewahrte, wie sich sein Verstand zunehmend umwölkte, und mit einem Mal schien sein Kopf zu schwer, um ihn oben zu halten.

Vage nahm er wahr, wie Roland ihm unter die Arme griff. Er sah, wie Rogers auf die Füße kam und von irgendwo eine zweite Spritze hervorholte. Eric versuchte eine Warnung auszustoßen, doch er war außerstande, seine eigene lallende Stimme zu hören. Als Rogers näher kam, ließ Roland ihn mit nur einer Hand los. Er ohrfeigte den Mistkerl fast beiläufig. Curtis segelte durch die Luft und krachte gegen ein Regal, bevor er inmitten einer Bücherlawine zu Boden ging. Selbst in seinem benommenen Zustand bewunderte Eric Rolands Stärke.

„Er hat dich betäubt, Eric!“ Rolands Stimme kam von weit her. „Kämpf dagegen an, Mann! Hoch mit dir.“

Eric versuchte es, doch seine Beine schienen taub und nutzlos. Roland hob seinen Oberkörper an und zog ihn halb zum Fenster. Eric kannte seine Gedanken. Er vermutete, dass Rogers über eine Armee von DPI-Agenten verfügte, die womöglich alle mit Spritzen mit dieser neuen Droge bewaffnet waren und jeden Moment hier auftauchen konnten. Gleichwohl, selbst mit seinen vernebelten Sinnen war das Einzige, woran Eric denken konnte, Tamara. Warum war sie nicht hier? Konnte sie den Kummer ertragen, St. Claire auf diese Weise verloren zu haben? Lieber Himmel, sie vergötterte diesen Mann.

Aber sie war hier! Mit einem Mal fingen seine Gedanken mit aller Macht ihre Aura auf. Er versuchte nach ihr zu rufen, doch Roland zog ihn bereits durch das Fenster nach draußen. „N…ein“, mühte er sich zu sagen, nicht sicher, ob er überhaupt einen Laut von sich gegeben hatte.

Als Eric spürte, wie er zu Boden glitt, vernahm er Schritte und das Öffnen einer Tür. Er hob den Kopf und versuchte sie zu sehen. Da war sie. Sie war unscharf, ein verschwommener Umriss, doch seine Augen fanden die ihren, wenn auch nur für einen Moment. Dann glitt ihr Blick tiefer, und er hörte ihre gequälten Schreie.

„Muss … zu … ihr … gehen.“

Als Roland ihn forttrug, verlor er das Bewusstsein.