Keith

6. KAPITEL

Um sieben Uhr früh saß sie Daniel am Tisch gegenüber und versuchte ihre pochenden Kopfschmerzen mit einer Tasse starken Kaffees zu bekämpfen. „Es ist wahrscheinlich nur eine Grippe“, wiederholte sie. „Ich bin müde und habe Gliederschmerzen. Ich werde heute den ganzen Tag im Bett bleiben, und morgen früh bin ich wieder auf dem Damm.“

Seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie, und er schüttelte den Kopf. „Ich rufe im Büro an und vereinbare mit denen, dass ich heute zu Hause arbeiten kann. Auf die Art …“

„Ich brauche keinen Babysitter.“

„Ich habe nicht gesagt, dass du einen brauchst. Ich dachte nur, es wäre gut, wenn ich hier bin, für den Fall, dass …“

Tamara knallte die halb volle Tasse so heftig auf den Tisch, dass der Kaffee über den Rand schwappte, und sprang auf. „Daniel, das muss aufhören!“

„Was meinst du? Tam, ich mache mir einfach nur Sorgen um dich.“

„Ich weiß.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wünschte, sie könnte das Hämmern in ihren Schläfen irgendwie lindern. Sie fühlte sich heute Morgen wie ein ausgelatschter Turnschuh und war ganz und gar nicht in Form für ein Streitgespräch.

„Ich weiß, dass du nur die besten Absichten verfolgst, Daniel – ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber sieh mich an, um Gottes willen. Ich bin kein kleines Waisenmädchen mehr.“ Sie blieb ruhig und ging um den Tisch herum, um ihm die Hände auf die Schultern zu legen. „Curtis und du, ihr erstickt mich mit eurer ganzen Besorgtheit. Du behütest mich so, als wäre ich Rotkäppchen und hinter jedem Baum würde ein Wolf lauern.“

Daniel blickte zu Boden. „Sind wir wirklich so schlimm?“

„Schlimmer.“ Sie drückte sanft seine Schultern. „Aber ich liebe dich trotzdem.“

Er schaute ihr in die Augen und schüttelte langsam den Kopf. „Es tut mir leid, Tam. Es ist ja nicht so, dass ich das Gefühl habe, man müsste ständig auf dich achtgeben wie auf ein Kind. Es ist nur … es ist nur diese Sache mit Marquand, verdammt. Ich habe Angst, dass er versuchen wird, dich wiederzusehen.“

Sie ließ ihre Hände von seinen Schultern gleiten und richtete sich auf. Eric hatte gesagt, dass er glaube, Daniel wisse über die Verbindung zwischen ihnen Bescheid. Lag er damit womöglich richtig? „Wie kommst du darauf?“

Er seufzte, als hielte er sie für schwachsinnig. „Tamara, du bist eine wunderschöne Frau! Curtis sagt, dass dieser Mann sich in jener Nacht auf der Eisbahn zu dir hingezogen gefühlt hat. Er hätte auch blind sein müssen, um anders zu reagieren. Diese Kreaturen besitzen einen Sexualtrieb wie brunftige Tiere, selbst wenn sie so alt sind wie er.“

Sie wandte sich von ihm ab und unterdrückte ein Lachen. Eric war weder eine „Kreatur“ noch alt. Seine Gesichtshaut war glatt und fest. Er bewegte sich mit einer Eleganz, die ihresgleichen suchte, und doch war seine Stärke offensichtlich. Sein Körper strotzte nur so vor harten Muskeln und kinetischer Energie.

Kopfschüttelnd griff sie nach ihrem Kaffee. „Wie alt ist er denn?“

„Zweihundertdreißig und ein paar Zerquetschte. Ich habe seine Spur bis zur Französischen Revolution zurückverfolgt, wo er in Paris im Kerker saß und geköpft werden sollte. Du musst wissen, dass dieses Schicksal seinem Vater zuteil wurde.“

Tamara hatte ihre Tasse an die Lippen geführt; nun verschluckte sie sich an dem Kaffee, den sie soeben getrunken hatte. Eric hatte ihr erzählt, dass sein Vater in Paris ermordet worden war! Er hatte gesagt, dass die Tat „politisch motiviert“ gewesen sei. Lieber Himmel, war es möglich, dass Daniel recht hatte? Nein! Nein, das war vollkommen lächerlich!

Aber ich habe Eric bis jetzt noch nie am Tage gesehen.

Sie schob diesen Gedanken beiseite. Das war Unsinn. Absoluter Unsinn.

„Er ist gefährlich, Tam, und so gerissen wie ein Zauberer. Ich würde nicht ausschließen, dass er dich benutzt, um an mich heranzukommen.“

Und er sagte, dass du mich benutzen würdest, um an ihn heranzukommen, dachte sie. Laut sagte sie lediglich: „Das würde ich niemals zulassen.“

„Das weiß ich, Tam. Aber versprich mir, dass du mir Bescheid gibst, wenn er Kontakt zu dir aufnimmt. Wir müssen vorsichtig sein. Er ist böse …“

„Ja, das hast du mir bereits erzählt. Er ist der Teufel in Person. In Ordnung, ich werde dir Bescheid sagen. Bist du jetzt zufrieden?“ Er betrachtete nachdenklich ihre Züge, bevor er nickte. „Geh zur Arbeit“, forderte sie ihn schelmisch auf. „Tagsüber kann er mir nichts anhaben, richtig?“

Sie versuchte den ganzen Morgen über, sich seine Worte nicht wieder und wieder durch den Kopf gehen zu lassen. Sie wollte einfach bloß zurück ins Bett, um die nötige Ruhe zu bekommen, die ihr fehlte. Natürlich war das unmöglich. Sie nahm an, dass sie nicht derart impulsiv reagieren würde, hätte sie in den vergangenen Wochen ausreichend Schlaf gefunden.

Wäre sie ausgeruht und klaren Verstandes gewesen, hätte nichts auf Erden sie dazu bringen können, das zu tun, wozu sie sich soeben spontan entschlossen hatte. Unglücklicherweise stand ihr Verstand auf dem Spiel, und sie war der Ansicht, wenn sie die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, nicht ein für alle Mal beantwortete, würde sie vollkommen verrückt werden.

Tamara musste sich selbst beweisen, dass Eric Marquand kein Vampir war. Zwar hatte sie das Gefühl, dass das genauso viel Sinn machte, wie zu beweisen, dass die Erde keine Scheibe war oder der Mond nicht aus grünem Käse bestand. Einige Stunden später parkte sie aber dennoch ihr bescheidenes Vehikel, das sie ihr Auto nannte, am Straßenrand vor Eric Marquands Anwesen.

Sie schaute auf die Uhr. Nur noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Ein Teil von ihr wollte die Angelegenheit bis morgen auf sich beruhen lassen. Ein anderer Teil wollte es für immer auf sich beruhen lassen. Nichtsdestotrotz war sie hier, und sie wusste, wenn sie es nicht heute durchzog, würde sie es niemals tun.

Die Adresse herauszufinden war nicht ganz unproblematisch gewesen. Schließlich konnte sie nicht einfach Daniel oder Curtis fragen, ohne dass die beiden einen hysterischen Anfall bekamen. Ebenso wenig konnte sie auf die DPI-Computer im Büro zurückgreifen; ihre Sicherheitsfreigabe war nicht hoch genug, um sich die korrekten Zugangscodes zu beschaffen.

Also hatte sie den Großteil des Tages im Stadtarchiv zugebracht und Akten durchstöbert, die „allgemein zugänglich“ waren. Sie hatte mit den Geburtsurkunden angefangen, doch wie es schien, besaß er weder einen Führerschein noch ein auf seinen Namen zugelassenes Auto. Allerdings gab es eine Übertragungsurkunde für sein Haus. Sie fand die Informationen, die sie benötigte, in den Grundsteuerunterlagen. Dort stand seine Anschrift, und sie runzelte ihre Stirn, als sie bemerkte, dass das Anwesen nur ein paar Meilen südöstlich von Daniels Haus entfernt lag, am nördlichen Ufer des Sunds.

Den gesamten Heimweg über war sie mit sich selbst uneins gewesen. War sie dabei, ihrem wankenden Verstand neuen Halt zu verleihen, oder war er längst unter einer Lawine verschüttet worden? Würde irgendein geistig zurechnungsfähiger Mensch tagsüber das Haus eines Mannes aufsuchen, um zu beweisen, dass er kein Vampir war?

Jetzt ist es zu spät für derlei Grübeleien, dachte sie. Ich bin hier, und ich gehe da jetzt rein. Sie ließ den Zündschlüssel stecken und ging ein Stück zurück zu dem hoch aufragenden schmiedeeisernen Portal. Sie spähte durch die Stäbe und das Gewirr aus Ranken und Blättern, das sich dazwischen spannte, alle aus beschlagenem Metall.

Soweit sie das festzustellen vermochte, bildete Rankengewirr auf beiden Torhälften dasselbe Muster. Jenseits des Zauns führte eine gewundene kopfsteingepflasterte Auffahrt zum Haus. Entlang der Auffahrt reihten sich riesige Bäume aneinander, sodass sie ein wenig zur Seite treten musste, um einen Blick auf das Gebäude dahinter zu erhaschen.

Beim Anblick des Hauses stockte ihr der Atem. Das Bauwerk ragte mindestens drei Stockwerke in die Höhe. Es war aus grob behauenen Steinblöcken erbaut, jeder einzelne davon so groß, dass selbst drei Mann nicht imstande gewesen wären, ihn anzuheben. Die Fenster – zumindest diejenigen, die sie ausmachte – waren tief und mit Bögen versehen; Tamara gemahnten sie an zusammengekniffene Augen, die jemanden beobachteten, ohne selbst gesehen werden zu wollen.

Sie berührte das Tor im selben Moment, in dem sie den kleinen Metallkasten bemerkte, der drinnen an einem Pfosten angebracht war. Ein winziges rotes Licht blinkte synchron zu ihrem Pulsschlag. Dies war kein schlichter alter Zaun, sondern eine hochmoderne Sicherheitsmaßnahme. Rasch zog sie die Hand zurück und fragte sich, wie viele Alarme sie wohl durch ihre simple Berührung ausgelöst haben mochte. Sie wartete und hielt Ausschau. Drinnen schien sich nichts zu rühren.

Als sie sich wieder zu atmen getraute, blickte sie nach oben. Die Spitzen auf jedem der Zaunpfosten wirkten stabil und unüberwindlich; darüberzuklettern kam nicht infrage. Es musste einen anderen Weg hinein geben. Sie richtete sich auf und begann den Rand des Grundstücks abzuschreiten.

Es schien ihr, als würde sie sich eine Meile lang durch das Gestrüpp der Büsche und das dichte Unterholz kämpfen, obwohl es nicht wirklich so weit gewesen sein konnte. Der Zaun beschrieb einen Bogen und lief von hier aus auf die Rückseite des Hauses zu; sie fand keinerlei Lücke darin und biss sich missmutig auf die Lippen, als sie schließlich am Ende anlangte.

Der letzte spitze Zaunpfahl aus schwarzem Eisen ragte am Rande einer felsigen Klippe aus dem Boden; darunter dröhnte der Sund mit weiß gischtendem Getöse. Der Wind gewann an Stärke, und Tamara fröstelte. Sie musste irgendetwas tun. Umkehren? Nach all ihren Bemühungen?

Sie besah sich den letzten Zaunpfahl näher. Der Boden um den Sockel herum sah nicht allzu stabil aus. Dennoch, dachte sie, wenn sie sich dicht an den Zaun klammerte, war sie vielleicht in der Lage, sich darum herum hinüber auf die andere Seite zu schwingen. Oder nicht?

Sie packte mit der Rechten eine der filigranen Ranken und presste die rechte Seite ihres Körpers gegen den Zaun. Sie blickte in Richtung des Sunds und spürte den schneidenden Wind, der von dort kam. Sie musste sich weit vorbeugen, über den Rand hinaus, und ihren Körper verdrehen, um mit der Linken dieselbe Eisenranke auf der anderen Seite des Zauns zu fassen zu bekommen.

In dieser verkrümmten, schmerzhaften Position verharrend, schaute sie hinunter. Hier und da ragten glatte schwarze Felsen aus Wasser von derselben Farbe, um mit jeder Welle von Neuem aufzutauchen und zu verschwinden. Die Felsen zwinkerten ihr zu wie übernatürliche, unsagbar böse Augen.

Ihr Haar flog ihr ins Gesicht, ihre Nase und Wangen brannten vor Kälte, und ihre Augen tränten. Sie schob sich nach vorne, bis ihre Füße in der Luft hingen, dann atmete sie tief durch, schwang ihr linkes Bein vorwärts und herum, bis sie auf der anderen Seite des Zauns wieder sicheren Boden – zumindest unter einem ihrer Füße – hatte.

Tamara konnte nicht verhindern, dass sie ein weiteres Mal nach unten schaute, als sie sich gegen den Eisenzaun presste, mit einem Arm und einem Bein auf jeder Seite, während ihr Hintern in die Luft ragte. Für einen Moment spülte eine Woge des Schwindels durch ihren Verstand, beinahe im Einklang mit den Wellen von Seewasser unter ihr. Sie musste die Augen schließen, um dagegen anzukämpfen. Sie schluckte dreimal schnell hintereinander, bevor sie es wagte, die Lider wieder zu heben.

Vor Anstrengung aufstöhnend, löste sie ihre rechte Hand vom Äußeren des Zauns und zog sie herum, um einen Eisenstab an der Innenseite zu packen. Sie hielt sich mit aller Macht fest. Alles, was sie jetzt noch tun musste, war, ihr rechtes Bein auf diese Seite zu schwingen. Sie hob es an, zog es über den tosenden Abgrund zu sich heran und setzte den Fuß auf den Boden in der Nähe der Klippe. Gleichwohl, die Erde, auf der sie stand, zerkrümelte wie Zucker in heißem Kaffee.

Zu nah am Abgrund, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr rechter Fuß schabte über die glatte Wand der Klippe, bis ihr gesamtes Bein bis zum Oberschenkel in Erwartung des sicheren Todes auf die Felsen unter ihr deutete. Ihr linkes Bein lag flach auf dem Boden, sodass sie beinahe einen Spagat vollführte. Noch immer klammerte sie sich mit ihrer linken Hand am Zaun fest. Ihre Rechte indes hatte den Halt verloren, als sie so schnell und heftig abgerutscht war.

Die filigrane Ranke, an der sie sich festhielt, begann allmählich in ihre Finger zu schneiden; erst brannten sie, um nur Momente später in einem fort zu pochen. Mit jeder Sekunde, die sie sich länger festklammerte, wurde ihr klarer, dass sie sich nicht mehr lange würde halten können. Die Muskeln ihres flach auf den Boden gepressten Oberschenkels waren so fest gespannt wie die Saiten einer Violine.

Verzweifelt grub sie ihre Zehen in die Felswand, wohl wissend, dass das keinen Zweck hatte. Jene Felsen inmitten des aufgewühlten schwarzen Wassers würden ihr zum Verhängnis werden … und das alles nur, um sich selbst zu beweisen, dass Eric Marquand kein Vampir war.

Ihre Finger verloren den Halt. Ihr Oberschenkel pulsierte vor Pein. Sie rutschte ein paar Zentimeter weiter ab. Dann ertasteten ihre Zehen einen kleinen Vorsprung in der Felswand. Sie stellte sich darauf und betete, dass er halten möge; das tat er, und es gelang ihr, sich weiter nach oben zu ziehen, um mit ihrer freien Hand den Zaun zu packen. Sie kletterte empor, schrammte mit ihrem Fuß über den glatten Stein und hievte ihren Körper empor, bis sie schließlich oben auf der festen schneebedeckten Erde zu liegen kam.

Dort ruhte sie sich eine ganze Weile aus; ihre Hände umklammerten noch immer die kalten Eisenstangen, die ebenso gegen ihr Gesicht drückten. Sie zitterte und wünschte sich, niemals zu dieser wahnwitzigen Mission aufgebrochen zu sein.

Genau der richtige Zeitpunkt, um meine Meinung zu ändern, dachte sie. Ich werde mit Sicherheit nicht auf demselben Weg von hier verschwinden, wie ich gekommen bin. Sie seufzte, hob den Kopf und erhob sich. Alles, was sie tun musste, war, hineinzugehen, Eric ihre Verwirrung zu gestehen und zu hoffen, dass er sich nicht über sie kaputtlachen würde. Dann wurde ihr der Ernst der Lage bewusst. Möglicherweise war er über ihr Eindringen nicht im Mindesten erfreut. Vielleicht war es ihm ebenso zuwider, dass sie ihm hinterherschnüffelte, wie es ihm bei Daniel zuwider war.

Sie klopfte sich Schnee und feuchte Erde von den Jeans, ehe sie zusammenzuckte und ihre Hand fortzog. Ein schmales Rinnsal Blut besudelte den Jeansstoff, und als sie die Handfläche nach oben drehte, stellte sie fest, dass scharlachrote Spinnfäden aus ihren Fingerbeugen rannen.

Sie versuchte den kleinen Schauder zu unterdrücken, der ihren Rücken hinablief, ballte ihre Hand zur Faust und schob sie in die Tasche, ehe sie über den verschneiten Boden auf die Rückseite von Erics Haus zumarschierte. Sie klopfte an die Terrassentür, die ihrer eigenen glich. Als niemand darauf reagierte, klopfte sie ein bisschen kräftiger. Immer noch keine Antwort.

Er war nicht zu Hause. Und sie säße so lange hier in seinem Hinterhof fest, bis er schließlich nach Hause käme, dachte sie unglücklich.

Vom Sund her heulte der Wind, um gleichermaßen über das Haus und Tamara herzufallen. Ihre Jeans war klamm vom Schnee und der feuchten Erde. Ihre Hand pochte vor Schmerz. Sie vermochte nicht zu sagen, wann er zurückkehren würde oder ob er heute Nacht überhaupt wiederkam.

Sie fürchtete, wenn sie noch länger hier ausharrte, würde sie Frostbeulen bekommen. Nein, sie musste irgendwie hineingelangen. Ganz gleich, wie wütend Eric sein würde, sie hatte sich selbst kaum eine andere Wahl gelassen. Sie hatte nicht die Absicht, erneut den Sund herauszufordern, indem sie versuchte, auf demselben Weg zu verschwinden, den sie gekommen war.

Die Terrassentür erschien ihr wie ein Omen. Wäre es eine andere Art von Tür gewesen, hätte sie keine Chance gehabt. Aber Terrassentüren bekam sie auf. Sie war bereits ein- oder zweimal gezwungen gewesen, ihre eigene zu knacken, wenn sie ihren Hausschlüssel verlegt hatte.

Sie griff in ihre Manteltasche, in der Hoffnung, dass sie sie dabeihatte – ja! Als sie ihre Faust herauszog und sie öffnete, kam darin eine kleine silberne Nagelfeile zum Vorschein. Sie wandte sich der Terrassentür zu und zögerte. Eine neuerliche Bö drang vom Sund herüber, und plötzlich wirbelte feuchter Schnee empor, um ihr winzigen Glasscherben gleich ins Gesicht zu schneiden. Sie verkroch sich in ihren Mantel und beeilte sich. Geschickt ließ sie die Feile zwischen die beiden Paneele gleiten, bekam den Riegel zu fassen und öffnete.

Tamara trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Ihr ging durch den Kopf, dass es drinnen nicht viel wärmer war als draußen; dann entdeckte sie den riesigen Marmorkamin weiter vorn, in dem immer noch die Glut eines vergessenen Feuers glomm. Sie zog ihre Stiefel aus, streifte den Mantel ab und eilte hinüber zum Kamin. Ein Holzstapel daneben leistete ihrer Hoffnung auf wohlige Wärme Vorschub, und sie beugte sich vor, um mehrere Holzscheite aufs Rost zu schmeißen, ehe sie ihre beinahe gefühllosen Hände über das Feuer hielt.

Einen Moment lang stand sie einfach bloß da und sog die Wärme in sich auf, bis die kalten Schauer aufhörten, ihren Körper zu peinigen. Feuerzungen leckten hungrig an den Holzklötzen, die laut knackten und winzige Funkenschauer den Schornstein emporsandten.

Nach einer Weile ließ sie die Hände sinken und sah sich um. Sie verspürte den Drang, sich die Augen zu reiben und noch einmal hinzuschauen. Ihr war, als wäre sie in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Der Stuhl hinter ihr war das Werk vollendeter Handwerkskunst. Jedes winzige Stück Stoff des Möbelstücks war mit Vögeln, Blumen und Blättern bestickt.

Die hölzernen Arme und Beine wiesen am Ende jeweils eine schneckenähnliche Form auf. Vor ihr stand eine Fußbank mit demselben Muster, und Tamara beugte sich vor, um mit einer Fingerspitze ehrfürchtig über den Bezug zu streichen. Sämtliche Möbel stammten aus derselben Epoche. Sie war zwar keine Expertin, was derlei anbetraf, doch sie nahm an, dass es sich um die Zeit von Louis XV. handelte, und ein Blick genügte, um zu erkennen, dass sich die Möbelstücke in hervorragendem Zustand befanden. Vergoldete Tische mit Marmorplatten und mit Engeln beschnitzten Beinen waren im Raum verteilt.

Überall thronten Stühle von derselben Art wie der erste. Das Sofa … nein, es war mehr ein Kanapee und an heutigen Maßstäben gemessen recht klein. Die dunkelgrüne Samtpolsterung hob sich von den aufwendig geschnitzten Holzarmen und – beinen ab.

Tamara nahm den Raum eingehender in Augenschein und bemerkte hoch über sich einen Messingkristallleuchter. An einem Ende des Zimmers reihten sich Regale, die eine Stereoanlage im Wert von mehreren tausend Dollar beherbergten, ebenso wie Unmengen von CDs, LPs und Kassetten.

In der Nähe davon befand sich eine vergleichsweise gewöhnlich wirkende Theke, die in dem mit Antiquitäten gefüllten, mit Parkettboden versehenen Raum gänzlich fehl am Platze wirkte. Auf jedem Sockel konnte sie Öllampen ausmachen, auch wenn an der Wand ein Lichtschalter zu finden war.

Die Sonne sank tiefer. Sie ging zur Bar hinüber, schaltete das Licht ein und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie konnte einen Drink gebrauchen. Trotz der Wärme, die den Raum erfüllte, befiel sie immer wieder ein Zittern. Wenn Eric ihr verzeihen konnte, dass sie in sein Haus eingebrochen war, überlegte sie, würde er es ihr gewiss auch nachsehen, wenn sie sich ein kleines Gläschen von dem gönnte, was auch immer er anzubieten hatte.

Sie trat hinter die Theke und beugte sich vor, um die fast leeren Regale darunter in Augenschein zu nehmen. Hier fand sich keine einzige Flasche, lediglich Gläser und einige teure, geschliffene Kristallkaraffen. Sie richtete sich mit gerunzelter Stirn auf und drehte sich um, als sie das beinahe unmerkliche Brummen des kleinen Kühlschranks vernahm, der in die Wand hinter ihr eingebaut war.

Über ihr eigenes Versehen lächelnd, packte Tamara den Griff und zog daran …

Ein winziger Eisbrocken setzte sich inmitten ihrer Brust fest und wuchs langsam weiter, bis er schließlich ihren gesamten Körper umschloss.

Ihre Kinnlade fiel hinab. Sie trat einen Schritt zurück, blinzelte, unfähig, zu glauben, was sich ihrem Blick darbot. Blut. Zwei ordentliche Stapel mit blutgefüllten Plastikbeuteln. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie ins tosende Herz eines Wirbelsturms gestürzt. Sie sah nichts außer einem dünnen roten Nebel, hörte nichts außer einem ohrenbetäubenden Getöse.

Benommen drückte Tamara gegen die kleine Tür; sie schwang zu, schloss sich jedoch nicht richtig und öffnete sich wieder, bis sie von Neuem weit aufstand. Sie achtete nicht darauf. Sie wandte sich ab, vergrub das Gesicht in den Händen und presste ihre Fingerspitzen gegen ihre Augenlider, als könnte sie auf diese Weise das auslöschen, was sie soeben gesehen hatte.

„Das kann nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein. Ich drehe mich jetzt um. Ich drehe mich jetzt um, und wenn ich wieder hinschaue, ist es nicht mehr da, weil es nicht wirklich existiert.“

Doch sie drehte sich nicht um. Tamara hob den Kopf, schaute zur Terrassentür hinüber und eilte darauf zu. Sie wollte laufen, konnte es jedoch nicht. Die Schritte ihrer sockenbewehrten Füße auf dem Parkettboden kamen ihr absurd laut vor. Sie hatte das Gefühl, von überall her beobachtet zu werden.

Ihr Blick glitt unstet umher, einem Vogel gleich, der auf einem Baum von Zweig zu Zweig hüpft. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass jemand direkt hinter ihr stand, ganz egal, wohin sie sich wandte. Sie bewegte sich vorwärts, wirbelte herum und trat einige Schritte zurück. Nur noch einen Meter weiter. Sie nahm ihre Stiefel auf.

Beim Hinauslaufen ergriff sie ihren Mantel. Sie hatte nicht vor, innezuhalten, um beides anzuziehen. Noch ein Schritt. Ein unsichtbarer Finger aus Eis strich ihr Rückgrat entlang.

„Das ist vollkommen verrückt“, flüsterte sie, drehte sich hastig um und ging wieder rückwärts. „Das ist alles vollkommen verrückt – dieser Ort, ich. Ich bin verrückt.“ Ihre Gedanken gerieten außer Kontrolle, und sie schwankte, drehte sich erneut um, bereit, aus der Tür zu stürmen. Gleichwohl, ein breiter, muskulöser Oberkörper, in steife weiße Baumwolle gehüllt, versperrte ihr den Weg.

Tamara schreckte unwillkürlich zurück, doch Erics Hände legten sich auf ihre Schultern, bevor sie sich auch nur einen Schritt entfernen konnte. Sie stand da wie angewurzelt und starrte ungläubig zu ihm empor, während ihre Atemzüge zu schnell und zu flach über ihre Lippen kamen. In ihrem Kopf drehte sich alles.

Gegen ihren Willen sah sie ihm ins Gesicht. Seine Augen funkelten, und sie empfand mehr als bloßes Entsetzen vor diesem Mann. Ein widerwärtiges Gefühl von Verlust und Verrat befiel sie. Daniel hatte die ganze Zeit über recht gehabt.

„Was machst du hier, Tamara?“

Sie versuchte zu schlucken, doch ihr Hals war so ausgedörrt wie die Wüste. Sie zog sich aus seinem Griff zurück und war überrascht, als er seine Hände ohne Weiteres von ihren Schultern gleiten ließ. Eine fremde Stimme hinter ihr sorgte dafür, dass sie innerhalb eines Lidschlags herumwirbelte. „Herumschnüffeln natürlich. Ich sagte dir doch, dass du ihr nicht trauen kannst, Eric. Sie gehört zum DPI.“

Der Mann, der neben der Theke stand, wies mit einer Hand auf den offenen Kühlschrank. Allein dieser erste Eindruck von ihm genügte beinahe, um ihr auch den letzten Rest ihres Verstandes zu rauben, der ihr noch geblieben war. Er war ganz in Schwarz gekleidet, mit einem bis zum Boden reichenden Satinmantel, der ihn fast völlig einhüllte. Er bewegte sich mit der unfassbaren Grazie und verborgenen Kraft eines Panters.

Die Anziehungskraft, die von ihm ausging, war beinahe mit Händen zu greifen. Sein auf dunkle Weise attraktives Aussehen strafte die zeitlose Weisheit in den Untiefen seiner glühenden pechschwarzen Augen Lügen, als sie verfolgte, wie er erst eine Karaffe und dann ein passendes Glas auf die Theke stellte. Er griff in den geöffneten Kühlschrank und nahm einen Plastikbeutel heraus.

Tamara war noch nie zuvor in ihrem Leben in Ohnmacht gefallen, doch jetzt wähnte sie sich unmittelbar davor. Ihr Kopf schien annähernd einen Meter über ihren Schultern zu schweben, und ihre Knie gaben nach. Einen flüchtigen Moment lang umhüllte sie schwarzer Samt.

Sie bekam nicht mit, wie sie zu Boden sank. Bevor sie selbst überhaupt recht begriff, was geschah, setzte Eric sich bereits in Bewegung. Er fing sie auf, sobald sie ins Schwanken geriet, trug sie zu dem Kanapee hinüber und legte sie vorsichtig darauf nieder.

„Das war unnötig, Roland!“ Sie vernahm seinen wütenden Ruf, in dem vollen Bewusstsein, dass er die Lippen nicht bewegt hatte. Ihr Verstand ließ sie zunehmend im Stich.

Ihr Rücken lehnte an der hölzernen Lehne. Eric saß neben ihr und umfing sie schützend mit seinen Armen. Seine rechte Hand ruhte auf der Rückenlehne der Sitzbank, seine Linke auf dem Arm, gegen den sie sich presste. Sie drückte sich in den warmen grünen Samt. „Rühr mich nicht an.“ Ihre Worte schienen einander in die Quere zu kommen, während sie aus ihrem Mund sprudelten. „Ich will nach Hause.“

„Du kannst nach Hause, Tamara. Sobald du mir gesagt hast, was du hier tust. Hat Roland recht? Haben dich deine Arbeitgeber hierhergeschickt? Vielleicht sogar St. Claire höchstselbst?“