Keith
3. KAPITEL
Ihre Seelenschreie weckten ihn in dieser Nacht früher als in den vorangegangenen. Nach vorn gebeugt stand Eric da und kniff die Augen fest zusammen, als würde ihm das dabei helfen, den Kopf freizubekommen.
Vor Sonnenuntergang aufzustehen hatte stets eine ähnliche Wirkung auf ihn wie eine durchzechte Nacht auf einen Menschen. Mit einer Hand gegen das glatte Mahagoniholz drückend, strich er mit den Fingerspitzen über die Satinfütterung im Inneren und konzentrierte sich auf Tamara.
Er wollte sie lediglich beruhigen. Wenn es ihm gelang, die Qualen ihres Unterbewusstseins zu lindern, würde es ihr besser gehen, auch wenn sie sich selbst darüber vielleicht nicht ganz im Klaren war. Womöglich fand sie dann sogar ein wenig mehr Schlaf. In dieser Hinsicht konnte er sich jedoch nicht sicher sein, schließlich befand sich Tamara in einer noch nie da gewesenen Situation.
Er konzentrierte sich auf ihre Gedanken, während ihre geflüsterten Bitten noch in ihm nachhallten. Eric, wo bist du? Warum kommst du nicht zu mir? Ich bin verloren. Ich brauche dich.
Er schluckte einmal und wandte jede Unze seiner Kraft für einen einzigen unsichtbaren Gedankenstrahl auf, der durch Zeit und Raum geradewegs zu ihr schoss. Ich bin hier, Tamara.
Ich kann dich nicht sehen!
Diese unmittelbare Reaktion ihrerseits überraschte ihn. Er war nicht sicher gewesen, ob er imstande war, seine Gedanken für sie hörbar zu machen. Erneut konzentrierte er sich. Ich bin in deiner Nähe. Ich komme bald zu dir, Liebste. Jetzt musst du dich ausruhen. Es ist nicht mehr nötig, dass du in deinen Träumen nach mir rufst. Ich habe deinen Ruf vernommen – ich werde kommen.
Er wartete auf eine Antwort, die jedoch ausblieb. Die Gefühle, die zu ihm durchgedrungen waren, wirkten angespannt und unsicher. Er wollte ihr die Bürde ihrer Gedanken erleichtern, aber für den Augenblick hatte er alles getan, was in seiner Macht stand.
Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und obgleich er sie nicht sah, spürte er sie. Sie schwächte ihn. Er wartete einen Moment, bis er sicher war, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dann ging er langsam zum Kamin hinüber, um die Glut des Morgenfeuers wieder zu entfachen. Als das erledigt war, benutzte er ein langes Streichholz, um die drei Öllampen zu entzünden, die im Raum verteilt standen.
Dank der aromatischen Wärme des duftenden Kirschholzes und des goldenen Lampenscheins sowie der Perserteppiche auf dem Betonboden und der Gemälde, die er aufgehängt hatte, wirkte der Raum ein bisschen weniger wie ein Grab in den Eingeweiden der Erde.
Er ließ sich behutsam in den übergroßen Eichenschaukelstuhl sinken und versuchte sich zu entspannen. Sein Kopf fiel schwer gegen das Polster, während er, ohne hinzuschauen, nach der Fernbedienung auf dem Beistelltischchen neben sich griff. Er drückte einen Knopf. Seine schweren Augenlider schlossen sich, als rings um ihn her Musik aufklang.
Ein Lächeln kräuselte seine Lippen, als die bittersüßen Klänge eine Erinnerung in ihm wachriefen. Er hatte den jungen Amadeus in Paris spielen sehen. War es anno 1775? Vor so langer Zeit. Er war wie verzaubert gewesen – ein gewöhnlicher Knabe von siebzehn, von Ehrfurcht ergriffen angesichts der Gabe eines Jungen, der allenfalls zwei Jahre älter war.
Wenn er sich recht entsann, hatte ihn dieses wunderbare Gefühl auch noch Tage nach jener Darbietung erfüllt. Er hatte darüber gesprochen, bis seiner armen Mutter die Ohren schmerzten. Er hatte Jacqueline so weit gebracht, zu behaupten, sie habe sich in diesen Mann verliebt, den sie noch nie getroffen hatte; dann hatte sie ihn so lange bekniet und beschwatzt, bis er sich schließlich bereit erklärte, ihr bei der Vorstellung am nächsten Abend einen Platz neben sich zu beschaffen.
Gleichwohl, seine Schwester war nicht imstande, nachzuvollziehen, was ihn dermaßen beeindruckt hatte.
„Er ist gut“, sagte sie, während sie sich in der heißen überfüllten Halle Luft zufächelte. „Aber ich habe schon bessere gesehen.“
Er lächelte, als er sich daran erinnerte. Ihre Bemerkung bezog sich weniger auf das Talent des jungen Mannes als vielmehr auf sein Aussehen. Er hatte sie dabei ertappt, wie sie über den spitzenbesetzten Rand ihres Fächers hinweg einen hageren Dandy beobachtete, den sie offenbar als „besser“ erachtete.
Er seufzte. Damals hatte er es als Tragödie empfunden, dass ein Mann von solchem Genie mit fünfunddreißig aus dem Leben scheiden musste. In letzter Zeit jedoch fragte er sich, ob das tatsächlich so tragisch war.
Eric war ebenfalls mit fünfunddreißig gestorben, wenn auch auf gänzlich andere Weise. Sein Tod war ein lebendiger. Bei genauerer Betrachtung war er nicht unbedingt davon überzeugt, dass Mozart das weniger wünschenswerte Schicksal zuteilgeworden war. Von ihnen beiden war Mozart im Grunde besser dran. Er war gewiss nicht so einsam wie Eric. Manchmal wünschte er sich, dass die Guillotine ihn vor Roland erwischt hätte.
Solch rührselige Gedanken in einer so entzückenden Schneenacht? Ich kann mich nicht entsinnen, dass du damals ebenso begierig darauf gewesen bist, der Klinge zu begegnen.
Roland! Eric hob den Kopf, schwirrend vor Lebenskraft, nun, da die Sonne untergegangen war. Er stand auf und öffnete rasch die Schlösser, ehe er durch den Flur eilte und – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauflief. Er riss die Eingangstür auf, als sein bester Freund die Verandastiege hinaufkam. Die beiden Männer umarmten einander ungestüm, bevor Eric Roland hereinzog.
In der Mitte des Raums blieb Roland stehen, neigte den Kopf zur Seite und lauschte den Klängen Mozarts. „Was ist das? Gewiss keine Schallplatte. Es klingt, als befände sich hier ein Orchester, geradewegs in diesem Zimmer!“
Eric schüttelte den Kopf; er hatte ganz vergessen, dass er die moderne Stereoanlage mit Lautsprechern in jedem Raum erst nach Rolands letztem Besuch installiert hatte. „Komm, ich zeig’s dir.“ Er zog seinen Freund hinüber zu der Anlage, die vor der gegenüberliegenden Wand aufgebaut stand, und holte eine CD aus ihrer Hülle. Roland drehte die Scheibe in seiner Hand und beobachtete, wie das Licht in leuchtenden Regenbögen aus Grün, Blau und Gelb darauf tanzte.
„Dort, wo ich mich aufgehalten habe, gab es derlei Neuerungen nicht.“ Er legte die Disc in die Hülle zurück und stellte sie wieder ins Regal.
„Wo hast du dich denn aufgehalten, du Einsiedler? Es ist zwanzig Jahre her.“ Dennoch war Roland seitdem keinen Tag älter geworden. Noch immer waren ihm das auf dunkle Weise gute Aussehen eines zweiunddreißigjährigen Sterblichen und der Körper eines Athleten zu eigen.
„Aah, im Paradies. Eine winzige Insel im Südpazifik, Eric. Keine sich in alles einmischenden Menschen, mit denen man sich herumschlagen muss. Lediglich einfache Einheimische, die einfach akzeptieren, was sie sehen, statt das Verlangen zu haben, es irgendwie erklären zu müssen. Ich sage dir, Eric, für jemanden von unserer Art ist das dort der Himmel. Die Palmen, der süße Duft der Nacht …“
„Wie hast du gelebt?“ Eric war sich darüber im Klaren, dass er zweifelnd klang. Er hatte die Einsamkeit dieses Daseins stets verabscheut, indes Roland sie begrüßte. „Sag mir nicht, dass du die unschuldigen Eingeborenen zur Ader gelassen hast.“
Rolands Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du solltest mich besser kennen. Die Tiere dort haben mich mit allem Nötigen versorgt. Besonders die Wildschweine …“
„Schweineblut!“, stieß Eric hervor. „Ich glaube, die Sonne hat ein Loch in deinen Sarg gebrannt! Schweineblut! Igitt!“
„Wildschweine, keine Schweine.“
„Ich schätze, das ist ein großer Unterschied.“ Eric drängte Roland in Richtung des antiken samtbezogenen Sofas. „Nimm Platz. Ich hole dir eine Erfrischung, damit du wieder zu Sinnen kommst.“
Argwöhnisch verfolgte Roland, wie Eric zu dem eingebauten Kühlschrank hinter die Bar ging. „Was hast du da? Lagerst du vielleicht ein halbes Dutzend unlängst gemeuchelter Jungfrauen in dem Ding?“
Eric warf den Kopf zurück und lachte; ihm fiel auf, dass es schon eine ganze Weile her war, seit er das das letzte Mal getan hatte. Er holte einen Plastikbeutel aus dem Kühlschrank und kramte unter der Bar nach Gläsern. Als er Roland den Drink reichte, fühlte er sich genauestens beobachtet.
„Sind es die nächtlichen Schreie des Mädchens, die dich so beunruhigen?“
Eric blinzelte. „Du hast sie auch gehört?“
„Ich höre ihre Schreie, wenn ich deine Gedanken lese, Eric. Deshalb bin ich hergekommen. Sag mir, was hier vor sich geht.“
Eric seufzte und nahm in einem krallenfüßigen, brokatbezogenen Stuhl nahe des Kamins Platz, in dem nur noch eine Handvoll Kohlen glomm. Er sollte das Feuer wirklich wieder entfachen. Falls es irgendwelchen neugierigen Menschen gelang, das Tor zu überwinden und das Sicherheitssystem zu umgehen, sahen sie vielleicht den aus dem Schornstein aufsteigenden Rauch.
Als er seine Gedanken las, setzte Roland sein Glas ab. „Ich kümmere mich darum. Erzähl du nur.“
Eric seufzte wieder. Wo sollte er beginnen? „Unmittelbar nachdem du das letzte Mal gegangen bist, habe ich die Bekanntschaft eines Kindes gemacht. Ein wunderschönes Mädchen mit rabenschwarzen Locken, hohen Wangenknochen und Augen wie glänzende Kohlestücke.“
„Eine der Auserwählten?“ Roland richtete sich auf.
„Ja. Sie war einer jener seltenen Menschen, die eine gewisse geistige Verbindung zu den Untoten besitzen, auch wenn sie sich, so wie die meisten anderen auch, dessen nicht bewusst war. Ich habe festgestellt, dass es Möglichkeiten gibt, die Auserwählten aufzuspüren – das heißt, einmal abgesehen von unserer natürlichen Fähigkeit, sie zu erkennen.“
Vor dem Kamin hockend, wandte sich Roland zu ihm um. „Tatsächlich?“
Eric nickte. „All jene Menschen, die wir verwandeln können, die wir die Auserwählten nennen, haben einen gemeinsamen Vorfahren. Prinz Vlad den Pfähler.“ Er sah Roland aufmerksam an. „War er der Erste?“
Roland schüttelte den Kopf. „Ich weiß um deine Leidenschaft für die Wissenschaft, Eric, aber einige Dinge sollte man besser ruhen lassen. Erzähl bitte weiter.“
Angesichts von Rolands wortkarger Stellungnahme zu diesem Thema spürte Eric, wie eine Woge der Frustration über ihn hinwegbrandete. Er schluckte seine Irritation herunter und fuhr fort: „Sie alle besitzen außerdem ein seltenes Antigen im Blut; als Menschen hatten wir das ebenfalls. Man kennt es als Belladonna. Nur diejenigen, die diese beiden ungewöhnlichen Merkmale aufweisen, sind imstande, zu Vampiren zu werden. Sie sind die Auserwählten.“
„Das scheint mir keine sonderlich weltbewegende Entdeckung zu sein, Eric. Wir sind seit alters her instinktiv in der Lage, die Auserwählten zu spüren.“
„Aber andere Menschen nicht. Einige von ihnen haben jetzt dieselbe Entdeckung gemacht wie ich. Das DPI weiß darüber Bescheid. Sie sind imstande, auserwählte Menschen exakt zu bestimmen; dann beobachten sie sie und warten darauf, dass einer von uns sich ihnen nähert. Ich glaube, genau das ist Tamara widerfahren.“
„Vielleicht solltest du dich ein wenig mehr im Hintergrund halten, alter Freund“, sagte Roland behutsam.
Eric fuhr sich mit einer Hand durch sein schwarzes Haar, ließ es von seinen Schultern gleiten und grub die Finger in den Wust. „Ich kann sie nicht sich selbst überlassen, Roland. Lieber Himmel, ich habe es versucht, aber es geht nicht. Irgendetwas an ihr lässt mich nicht los. Ich habe bei ihr vorbeigeschaut, während sie schlief. Du hättest sie sehen sollen. Schwarze Wimpern auf rosigen Wangen; Lippen, kleinen pinkfarbenen Bögen gleich.“
Er blickte auf und hielt es seltsamerweise für nötig, sich zu rechtfertigen. „Ich wollte ihr nie ein Leid zufügen, weißt du? Wie könnte ich auch? Ich habe dieses Kind angebetet.“
Roland runzelte die Stirn. „Du solltest dir darüber keine Gedanken machen. Dass dieses unsichtbare Band zwischen denen von unserer Art und den Auserwählten existiert, ist keine Neuigkeit. In wie vielen Nächten habe ich nach dir gesehen, als du noch ein Junge warst? Meistens hast du allerdings nicht geschlafen. Für gewöhnlich warst du wach und hast deine arme Schwester geneckt.“
Eric nahm diese Information mit allmählichem Begreifen auf. „Das hast du mir nie erzählt. Ich war der Ansicht, du wärst nur gekommen, wenn ich mich in Gefahr befand.“
„Es tut mir leid, dass wir noch nie darüber gesprochen haben, Eric. Es ist einfach nie zur Sprache gekommen. Du hast mich bloß dann gesehen, wenn du in Gefahr warst. Es war kaum die rechte Zeit für derlei Aussprachen, wenn du kurz davor standest, von einer Kutsche überrollt zu werden, oder als ich dich prustend aus dem Kanal zog.“
„Dann hast du dieselbe Verbindung zu mir gehabt wie ich zu ihr?“
„Ja, ich habe eine Verbindung gespürt. Den Drang, dich zu beschützen. Ich kann nicht sagen, ob es dieselbe ist, da ich nicht weiß, was du für dieses Kind empfunden hast. Allerdings hatten im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Kinder einen Vampir als Beschützer, ohne sich jemals darüber im Klaren zu sein, Eric. Schließlich suchen wir ihre Nähe nicht, um ihnen zu schaden, sie zu verwandeln oder auch nur Kontakt aufzunehmen. Wir sind nur da, um über sie zu wachen und sie zu beschützen.“
Erics Schultern sackten nach vorn, so groß war seine Erleichterung. Er schüttelte unmerklich den Kopf und fuhr dann mit seiner Geschichte fort: „Eines Nachts wurde ich wach, weil ich spürte, wie ihr Lebenshauch nachließ. Ihre Kraft schwand so rasch, dass ich es nicht schaffte, rechtzeitig bei ihr zu sein.“
Derselbe Schmerz, den er damals empfunden hatte, brandete bei der Erinnerung daran erneut über hin hinweg, und seine Stimme wurde leiser. „Schließlich fand ich sie im Krankenhaus. Ihr winziges Antlitz war blasser als die Laken um sie herum. Ihre Lippen … waren blau. Zufällig bekam ich mit, wie ein Arzt den Eltern erklärte, dass sie zu viel Blut verloren hätte, um zu überleben, und dass ihre Blutgruppe so selten sei, dass man bislang keine Spender habe ausfindig machen können. Er sagte ihnen, sie sollten sich darauf einstellen. Sie lag im Sterben, Roland.“
Roland fluchte leise.
„Begreifst du jetzt, in was für einer Zwickmühle ich steckte? Ein Kind, dem ich meine Liebe geschenkt hatte, lag im Sterben, und ich wusste, dass ich der Einzige war, der die Macht besaß, sie zu retten.“
„Du hast sie hoffentlich nicht verwandelt! Nicht ein kleines Mädchen, Eric! Tot wäre sie besser dran, als ein Dasein zu führen, wie wir es müssen. Ihr junger Geist wäre niemals imstande zu begreifen …“
„Ich habe sie nicht verwandelt. Und selbst wenn ich es versucht hätte, wäre es mir wahrscheinlich nicht gelungen. Sie hatte nicht mehr genug Blut im Körper, als dass es sich mit meinem hätte verbinden können. Allerdings kam mir dann eine andere Möglichkeit in den Sinn. Ich habe einfach meine Vene geöffnet und …“
„Sie hat von dir getrunken?“
Eric schloss die Augen. „Wie eine Verdurstende. Ich nehme an, auf gewisse Weise war sie das sogar. Ihre Lebenskraft kehrte sogleich zurück. Ich war außer mir vor Erleichterung.“
„Du hattest allen Grund dazu.“ Jetzt grinste Roland. „Du hast das Kind gerettet. Ich habe noch nie gehört, dass so etwas jemals zuvor passiert wäre, Eric, aber offensichtlich hat es geklappt.“ Er hielt inne und musterte Eric eingehend. „Es hat doch geklappt, oder? Das Kind ist am Leben?“
Eric nickte. „Bevor ich von ihrer Seite wich, öffnete sie ihre Augen, sah mich an, und ich schwöre dir, Roland, ich spürte, wie sie meine Gedanken durchforschte. Als ich mich umwandte, um zu gehen, ergriff sie meine Hand mit ihren Puppenfingern und flüsterte meinen Namen. ‚Eric‘, sagte sie. ‚Geh noch nicht fort. Lass mich nicht allein.‘“
„Mein Gott.“ Roland sank auf das Sofa zurück und blinzelte, als wäre er vom Blitz getroffen worden. „Bist du geblieben?“
„Ich konnte es ihr nicht abschlagen. Ich verbrachte die Nacht an ihrem Bett, auch wenn ich mich jedes Mal auf dem Fenstersims verstecken musste, wenn jemand hereinkam. Als sie die wundersame Verbesserung ihres Zustands schließlich bemerkten, wurde das Zimmer eine Zeit lang zum Tollhaus. Bald jedoch kamen sie zu dem Schluss, dass sie wieder gesund werden würde, und beschlossen, dem armen Kind ein wenig Ruhe zu gönnen.“
„Und dann?“
Eric lächelte sanft. „Ich hielt sie auf meinem Schoß. Sie blieb wach, obwohl sie ein wenig Schlaf dringend nötig hatte, und drängte mich dazu, ihre eine Geschichte nach der anderen zu erzählen. Sie brachte mich sogar dazu, ihr etwas vorzusingen, Roland. Solange ich lebe, habe ich noch keiner Seele etwas vorgesungen! Und die ganze Zeit über war sie in meinem Kopf und las jeden einzelnen meiner Gedanken. Es schien mir unbegreiflich, wie stark die Verbindung zwischen uns war; sie war sogar noch stärker als die zwischen dir und mir.“
Roland nickte. „Unser Blut hat sich lediglich vermischt. Deins floss annähernd rein durch ihren kleinen Körper. Da ist derlei nicht weiter verwunderlich … Was geschah dann?“
„Gegen Sonnenaufgang schlief sie schließlich ein, und ich verschwand. Ich hatte das Gefühl, dass es das liebe Kind bloß verwirren würde, Kontakt mit einem von uns zu haben. Ich ging so weit fort wie möglich und brach jede Verbindung zu ihr ab. Ich habe mich bis jetzt sogar geweigert, auch nur daran zu denken, sie wiederzusehen. Ich dachte, dass das geistige Band mit der Zeit und der Entfernung schwächer werden würde. Das ist es aber nicht. Ich war erst ein paar Monate wieder in diesem Teil der Welt, als sie mich zu rufen begann – jede Nacht. Irgendetwas ist ihren Eltern zugestoßen, nachdem ich ihr den Rücken gekehrt hatte, Roland. Ich weiß nicht, was, aber letztlich ist sie in der Obhut von Daniel St. Claire gelandet.“
„Er ist beim DPI!“ Roland sprang verblüfft auf.
„Genauso wie sie“, murmelte Eric und vergrub seinen Kopf in den Händen.
„Du kannst nicht zu ihr gehen, Eric! Du darfst ihr nicht trauen; das könnte dein Ende sein!“
„Ich traue ihr nicht. Und was das Zu-ihr-Gehen betrifft … da habe ich keine andere Wahl.“
Selbst als Tamara sich mit Daniel und Curtis gestritten hatte, war er ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Den ganzen Tag über war sie außerstande gewesen, den geheimnisvollen Fremden – von dem sie nur seinen Namen kannte, der ihr aber trotzdem überhaupt nicht fremd zu sein schien – aus ihren Gedanken zu verbannen. Es war ihr lediglich gelungen, ihn ein bisschen nach hinten zu drängen, damit sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren konnte.
Nun, da sie zu Hause war, im sicheren Hafen ihres Zimmers, und sie ihr Feierabendschläfchen hinter sich hatte, fühlte sie sich ausgeruht, energiegeladen und bereit, die Ereignisse der vergangenen Nacht noch einmal im Geiste Revue passieren zu lassen.
Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Seit wann fühlte sie sich nach dem Erwachen ausgeruht? Für gewöhnlich wachte sie zitternd auf, atemlos und verängstigt. Warum war das heute Nacht anders? Sie blickte hinaus zum schneeverhangenen Himmel und erkannte, dass es bereits vollkommen dunkel war. Normalerweise erwachte sie kurz vor Sonnenuntergang aus ihrem Albtraum.
Sie versuchte sich zu erinnern. Es schien ihr, als hätte sie den Traum gehabt – oder sie hatte begonnen, ihn zu träumen. Sie entsann sich des Waldes, des Nebels, der Brombeersträucher und der Finsternis. Sie entsann sich, dass sie jenen unbestimmten Namen rief …
Und daran, dass sie eine Antwort vernommen hatte. Ja. Aus weiter Ferne vernahm sie eine Antwort; eine ruhige tiefe Stimme voller Trost und Stärke hatte ihr versprochen, zu ihr zu kommen. Die Stimme hatte ihr aufgetragen, sich auszuruhen. Sie war aufgewühlt, bis sie die Musik hörte. Leise Klänge, von denen sie annahm, dass es sich dabei um Mozart handelte – etwas aus Elvira Madigan –, beruhigten ihre angespannten Nerven.
Sie gestattete sich ein kleines Lächeln. Vielleicht war sie über diese Sache hinweg, um was auch immer es sich dabei gehandelt haben mochte. Das Lächeln verschwand, als sie sich fragte, ob das stimmte oder ob sie womöglich bloß ein Problem gegen ein anderes ausgetauscht hatte.
Der Mann von der Eislaufbahn kam ihr in den Sinn. Marquand – von dem Daniel steif und fest behauptete, er sei ein Vampir. Er hatte sie geküsst, und so schwer es ihr auch fiel, sich selbst das einzugestehen, sie hatte mit jeder Zelle ihres Körpers auf diesen Kuss reagiert.
Langsam erhob sie sich aus dem Bett und verknotete den Gürtel des roten Satin-Morgenmantels, den sie trug. Sie beugte sich über ihre Frisierkommode und besah sich im Spiegel die verletzte Haut an ihrem Hals. Ihre Finger berührten die Stelle. Sie erinnerte sich an das sonderbare Schwindelgefühl, das sie überkommen hatte, als er ihre Haut zwischen seine Zähne gesaugt hatte, und fragte sich, was es damit auf sich haben mochte.
Schlafmangel und zu viel Stress.
Aber er kannte meinen Namen …
Zumindest das war leicht zu erklären. Er hatte einige Nachforschungen über den Mann angestellt, der ihm ständig nachstellte. Daniel war ihr gesetzlicher Vormund; man musste lediglich einen Blick in die entsprechenden Unterlagen werfen, um das in Erfahrung zu bringen.
Warum schien er dann so überrascht, als ich ihm davon erzählte?
Er ist ein guter Schauspieler. Er muss es gewusst haben. Er ging einfach davon aus, dass es am einfachsten wie auch am wirkungsvollsten wäre, seinen Standpunkt über mich deutlich zu machen.
Stirnrunzelnd betrachtete sie ihr eigenes Spiegelbild, und der enttäuschte Blick, den sie zur Schau stellte, gefiel ihr überhaupt nicht; sie versuchte ihn verschwinden zu lassen. „Er wollte Daniel bloß Angst einjagen, damit sie ihn in Ruhe lassen. Deswegen ist er mir zur Eisbahn gefolgt, um dort seine kleine Show abzuziehen. Stell dir vor, er wäre wirklich so weit gegangen, Curtis zu …“
Tamara legte ihre Handfläche auf das Mal an ihrem Hals und kehrte dem Spiegel den Rücken. Es hatte keinen Sinn, sich einzureden, dass es damit nichts weiter auf sich hatte.
So vieles an dem Mann spottete jeder Erklärung. Warum kam er ihr so vertraut vor? Wie war es ihm gelungen, ihr das Gefühl zu geben, er würde ihre Gedanken lesen? Wie ließ es sich erklären, dass sie offensichtlich hörte, was er sagte, obwohl noch kein Wort über seine Lippen gekommen war? Und was war mit dieser … dieser Sehnsucht?
Blut schoss in ihre Wangen, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Verlangen. Sie erkannte das Gefühl als das, was es war. Ganz gleich, wie töricht es schien, Tamara begehrte einen Mann, den sie nicht kannte – einen Mann, bei dem sie das Gefühl hatte, ihn schon ewig zu kennen. Zumindest sich selbst gegenüber musste sie eingestehen, dass der Mann, den sie Marquand nannten, Dinge in ihr auslöste, wie es kein anderer je vermocht hatte.
Während sie dort stand, wurde sie allmählich gewahr, wie sich in ihrem Kopf eine eigentümliche Leichtigkeit ausbreitete. Kein Schwindel, eher ein Gefühl des Schwebens, obwohl ihre bloßen Füße noch immer den Boden berührten. Ein warmer Wirbelwind streichelte ihre Knöchel, kroch ihre Beine empor und raschelte am Saum ihres Morgenmantels, sodass der Satin über ihre Waden strich.
Sie blinzelte benommen, drückte ihre Handfläche gegen ihre Stirn und wartete darauf, dass das Gefühl vorüberging. Plötzlich flogen die Balkontüren auf, als wären sie von einer heftigen Bö getroffen worden, und der hereinwehende Wind fühlte sich warm und berauschend an … und er trug einen Hauch von Lorbeeralkohol in sich.
Unmöglich. Draußen sind es minus sechs Grad.
Dennoch verweilten die Wärme und der Duft. Sie gewahrte ein Ziehen – von einem geistigen Magneten, dem sie sich nicht zu widersetzen vermochte. Sie hielt das Gesicht dem warmen Windstoß zugewandt, selbst als dieser noch an Stärke zunahm. Der scharlachrote Satin ihres Mantels bauschte sich hinter ihr, um sich wie eine sich windende Schlange um ihre Beine zu legen.
Genau wie der Nebel in meinen Träumen.
Ihre Haare wirbelten um ihr Antlitz. Der Gürtel ihres Morgenmantels schlug gegen ihre Oberschenkel. Sie ging auf die Türen zu, obwohl sie sich selbst ermahnte, es nicht zu tun. Sie kämpfte dagegen an, doch das seltsame Ziehen war stärker als ihr eigener Wille. Ihre Füße schlurften über den weichen Teppich und dann über den kalten, feuchten Holzboden ihres Balkons.
Der Wirbelwind hüllte sie ein, trieb sie zur Brüstung. Sie hörte, wie die Türen hinter ihr zuschlugen, und drehte sich nicht einmal um. Ihre Augen durchforschten die Dunkelheit unter ihr. Würde diese unsichtbare Hand sie gleich über das Geländer ziehen? Sie glaubte nicht, dass sie in der Lage wäre, das zu verhindern, falls es darauf hinauslief.
Mein Gott, was geschieht mit mir?
Sie kämpfte dagegen an, und der Wind gewann weiter an Stärke. Der Gürtel löste sich, und der Morgenmantel flog nach hinten. Kein Teil ihres Körpers blieb unberührt von diesem Sturm. Unsichtbaren Händen gleich wirbelte er um ihre Beine, dazwischen. Ihre Brüste bebten. Ihre Brustwarzen zogen sich zusammen.
Ihre gesteigerte Wahrnehmung ließ ihren Leib pulsieren; ihre Haut reagierte überempfindlich auf die Berührung des Windes, der unbarmherzig über ihren Körper strich. Ihr Herz raste, und bevor sie es verhindern konnte, ließ sie den Kopf in den Nacken fallen, schloss die Augen und stöhnte angesichts der Intensität dieser Empfindungen leise auf.
Mit einem Schlag war es einfach vorüber. Die Wärme und der Duft von Lorbeeralkohol blieben, doch jener anzügliche Wirbelwind ließ allmählich nach, um ihr die Kontrolle über ihren Körper zurückzugeben. Sie vermochte nicht zu sagen, was das gewesen war. Ein Beinahe-Zusammenbruch? Irgendeine Art von geistiger Störung? Worum auch immer es sich gehandelt haben mochte, jetzt war es vorüber.
Zitternd fuhr sie sich mit den Händen durchs Haar; es scherte sie nicht, dass der Morgenmantel noch immer aufklaffte, nach unten gerutscht war und eine ihrer Schultern entblößte. Sie wandte sich um, um wieder hineinzugehen.
Er stand so dicht vor ihr, dass sie beinahe gegen seine muskulöse Brust gelaufen wäre. Ihr Kopf schoss in die Höhe, und unvermittelt war ihre Kehle wie zugeschnürt. Seine schwarzen Augen wirkten wie gegossenes Glas, als sie sie musterten. Der mysteriöse Wind regte sich leicht.
Sie sah silberne Funken hinter diesen Onyxaugen, und sie spürte ihre Hitze so deutlich, wie sie zuvor den Wind gespürt hatte, als sein Blick von ihren bloßen Füßen langsam höherwanderte. Sie fühlte, wie er über ihre Beine hinaufglitt. Der sengende Blick hielt bei dem Hügel schwarzer Locken zwischen ihren Oberschenkeln inne, und ihr kam der Gedanke, dass sie jeden Moment in Flammen aufgehen würde.
Schließlich glitt der Blick weiter, um sich mit vorsätzlicher Gelassenheit über ihren Bauch zu bewegen. Sie befahl ihren Armen, sich zu rühren, um ihren Morgenmantel zuzuknoten. Indes, sie gehorchten ihr nicht. Seine Augen schienen ihre Brüste förmlich zu verschlingen, und sie wusste, dass sich ihre Brustwarzen unter seinem heißen Blick versteift hatten.
Der Mann befeuchtete sich die Lippen, und sie stand kurz davor, laut aufzustöhnen. Sie schloss die Augen, die sich jedoch weigerten, geschlossen zu bleiben. Gegen ihren Willen öffneten sich ihre Lider wieder.
Sie schaute ihm in die Augen, obwohl sie das Verlangen darin nicht sehen wollte. Zuletzt ruhte sein Blick auf ihrem Hals. Der blaue Fleck, den er dort hinterlassen hatte, schien plötzlich zum Leben zu erwachen. Die Stelle kribbelte, und sie spürte, wie die Muskeln unter der Haut krampfhaft zuckten. Sie sah seinen Adamsapfel hüpfen, als er schluckte. Er schloss kurz die Augen, und als sie sich wieder öffneten, suchten sie Tamaras Blick, um sie daran zu hindern, anderswo hinzuschauen.
Sie erlangte das Gefühl in ihren Armen zurück und raffte den Morgenmantel mit einer Geste zusammen, die ihren Ärger deutlich machte.
„Du“, flüsterte sie. Angst und Verwirrung befielen sie. Noch mehr als das spürte sie jedoch die reine Freude darüber, ihn wiederzusehen. Allerdings war sie nicht gewillt, sich dies anmerken zu lassen. „Was machst du hier?“