Keith
10. KAPITEL
Zwei Uhr nachts. Sie lag da, starrte auf die weiße Unterseite ihres Betthimmels und wünschte bei Gott, sie hätte ihre Augen schließen können. Eric hatte darauf bestanden, sie nach Hause zu bringen, nachdem sie damit herausgeplatzt war, dass sie ihn liebte. Einige Minuten lang schien er deswegen sprachlos gewesen zu sein. Danach wirkte er so unbeholfen, als wüsste er nicht recht, was er ihr darauf erwidern sollte. Sie war verwirrt.
Was wollte er von ihr, eine körperliche Beziehung ohne Gefühle? Gleichwohl, da waren bereits Gefühle zwischen ihnen, tief gehende, herzergreifende Gefühle, die sie gerade erst zu verstehen begann. Und sie hatte geglaubt, er würde sie lieben. Zumindest hatte er das angedeutet. Er hatte gesagt, dass er Liebe für sie empfand. War das dasselbe?
Sie wälzte sich ruhelos auf die Seite und knuffte ihr Kissen. Von Neuem fiel ihr Blick auf den Cognac, der auf dem Nachttisch stand. Eric hatte darauf bestanden, dass sie ihn mitnahm, da sie erwähnt hatte, wie großartig er schmeckte. Kein Wunder, dachte sie jetzt. Das Zeug war im Jahre 1910 abgefüllt worden. Vermutlich war der Cognac ein Vermögen wert.
Nichtsdestotrotz kippte sie ungeniert ein weiteres randvolles Glas hinunter, in der Hoffnung, es würde ihr beim Einschlafen helfen. Wenn sie nicht bald ein wenig Schlaf fand, würde sie auf der Arbeit vermutlich vor allen Leuten zusammenbrechen, und wie würde Daniel darauf wohl reagieren? Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er sie in ein Erholungsheim einweisen lassen.
Als sie nach einer halben Stunde immer noch hellwach dalag, ging sie hinüber ins Badezimmer. Wie sollte sie sich in Bezug auf Eric verhalten? Wüsste er die Wahrheit, würde das Daniel umbringen. Sie liebte den alten Kauz, und sie hasste es, ihm wehzutun. Himmel, ihr spukte heute Nacht einfach zu viel im Kopf herum. Sie öffnete den Medizinschrank und kramte darin herum, bis sie die braune Plastikdose mit dem Apothekenetikett fand.
Sie hatte die verfluchten Schlaftabletten schon ausprobiert. Einzeldosen, doppelte Dosen, einmal sogar eine dreifache. Nichts davon hatte ihr auch nur ein herzhaftes Gähnen entlockt. Sie schraubte den Deckel ab und schüttete vier der winzigen weißen Kapseln in ihre Handfläche. Mit einem zynischen Blick auf ihr Spiegelbild warf sie die Tabletten ein. Wem wollte sie etwas vormachen? Bis Sonnenaufgang würde sie kein Auge zutun.
Mit einem Glas Wasser spülte sie die Kapseln herunter. Sie ging zurück ins Bett, bemerkte, dass sie die unnütze Dose Beruhigungsmittel noch immer in der Hand hielt, und ließ sie achtlos auf den Nachttisch fallen.
„Dafür bringe ich ihn um.“
Daniel? War das Daniels Stimme, die da durch die dichten nebelartigen Schleier ihres Bewusstseins drang? Er klang wütend und angespannt.
„Ich wollte es dir sagen.“ Curtis’ Stimme war lauter, gefasster. „Sie hätte unter ständiger Beobachtung stehen müssen. Wären wir ihr gefolgt, hätten wir den Mistkerl jetzt.“
„Aber nur, wenn dein Betäubungsmittel wirkt. Es wurde noch nie getestet, Curtis. Wir können nicht hundertprozentig sicher sein, dass es ihn wirklich außer Gefecht setzt.“
„Wie, zum Teufel, sollen wir es deiner Meinung nach testen? Sollen wir einen Rundbrief rausschicken, dass wir Freiwillige suchen? Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, in Ordnung? Alles deutet darauf hin, dass das Mittel wirkt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als es auszuprobieren.“
Was auszuprobieren? An wem? Und warum waren die beiden so wütend?
„Er hat sie vergewaltigt, Curtis.“ Daniels Stimme klang schrill bei diesen Worten. „Es hat ihm nicht genügt, ihr Blut zu nehmen, er musste auch noch ihren Körper haben. Der Hurensohn hat sie vergewaltigt … blaue Flecke auf ihr hinterlassen. Mein Gott, kein Wunder, dass sie es nicht ertragen konnte, uns heute Morgen unter die Augen zu treten.“
„Ich hätte nie für möglich gehalten, dass Tammy zu denen gehört, die diesen Ausweg wählen würden. Tabletten und Brandy!“ Curtis’ Stimme drang schroff an ihr Ohr. „Warum, zum Teufel, hat sie nichts gesagt und uns die Sache regeln lassen?“
Vergewaltigt? Tamara erinnerte sich an das Schwein bei der Highwayabfahrt … an seine Hände auf ihr, an seinen widerwärtigen Atem auf ihrem Gesicht. Doch er hatte sie nicht vergewaltigt. Eric war gekommen und … Eric, lieber Himmel, sie waren der Meinung, sie hätte diese blauen Flecke Eric zu verdanken! Sie mühte sich, die Augen zu öffnen. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam darüber. Sie musste es ihnen sagen!
„Sie wacht auf.“ Sie spürte, wie Daniel näher trat. Sie zwang sich, ihre bleiernen Augenlider zu heben. Alles verschwamm, und der Versuch, klarer zu sehen, verschaffte ihr nichts als Schwindel und bohrende Kopfschmerzen. Sie fühlte seine Hand auf ihrer Stirn, doch es hatte den Anschein, als gehöre ihre Stirn überhaupt nicht zu ihr. Alles wirkte seltsam verzerrt.
„Tamara? Es ist alles in Ordnung, Liebes. Curtis und ich sind jetzt bei dir. Marquand kann dir nicht mehr wehtun.“
Sie warf den Kopf auf dem Kissen ungestüm hin und her. Kissen, die zu dick und zu steif waren, mit gestärkten weißen Bezügen. Das waren nicht ihre eigenen Kissen. „Nein … Eric … nicht … er …“ Verflucht, warum gelang es ihr nicht, ihren Mund dazu zu bringen, einen zusammenhängenden Satz zu bilden?
„Eric“, spottete Curtis. „Ich habe dir gesagt, dass sie sich daran erinnert. Das alles war bloß Theater. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie freiwillig zu ihm gegangen ist, Daniel. Wir haben immer gewusst, dass er ihretwegen kommen würde, oder nicht? Und ich habe immer gesagt, dass sie niemals eine von uns sein wird. Du hast sie geradewegs ins DPI geholt. Lieber Himmel, ich frage mich, wie viele Geheimnisse sie bereits ausgeplaudert hat.“
„Sie würde uns nicht an ihn verraten, Curtis“, sagte Daniel, aber seine Stimme war voller Zweifel.
„Warum sollte sie dann mit dem Fusel die Tabletten schlucken? Ich sage dir, das ist das schlechte Gewissen! Sie hat uns ans Messer geliefert und konnte nicht damit umgehen.“
„Was soll sie ihm schon gesagt haben? Sie weiß nichts über die Forschungen!“
„Soweit wir wissen“, fügte Curtis vielsagend hinzu. „Er täte nichts lieber, als uns beide umzubringen, Daniel. Wir sind die führenden Köpfe in der Vampirforschung. Wenn er uns loswird, wirft er das gesamte Gebiet damit um zwanzig oder mehr Jahre zurück.“
„Du denkst, ich wüsste das nicht?“
Sie kämpfte gegen die Dunkelheit an, die nach ihr griff, doch es war ein aussichtsloser Kampf. Noch einmal flüsterte sie seinen Namen, bevor sie in dem warmen Abgrund versank. Die Stimmen der Männer, denen ihre Liebe galt, wurden leiser.
„Er wird ihretwegen kommen … genau wie damals.“
„Wir werden bereit sein. Hol das Betäubungsmittel, und dann treffen wir uns hier wieder.“
Ein weiteres Mal schritt Eric im Raum auf und ab, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und trug so nur noch mehr dazu bei, dass es zunehmend in Unordnung geriet. „Wo steckt sie? Ich versuche mich auf ihre Gedanken zu konzentrieren, und doch spüre ich nicht das Geringste!“
„Wahrscheinlich ist es ihr gelungen einzuschlafen. Du solltest sie nicht stören.“
Eric schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, irgendetwas stimmt nicht. Ich spüre es.“
Trotz seines demonstrativen frustrierten Seufzers zogen sich Rolands Augenbrauen besorgt zusammen. „Deine Holde wird allmählich zur Plage. Was glaubst du, in was für Schwierigkeiten sie sich dieses Mal gebracht hat?“
„Himmel, ich wünschte, ich wüsste es.“ Er wandte sich um, ging hinüber zum Kamin, machte auf dem Absatz kehrt und kam zurück. Er blieb stehen und suchte Rolands Blick. „Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass es dazu kommt. Sie war geistig bereits in angeschlagener Verfassung. Wenn sie beim kalten Licht des Tages erkannt hat, was sie getan hat, hat sie sich vermutlich schmutzig gefühlt, besudelt durch meine Berührung, zur …“
„Sofern du nichts halbwegs Intelligentes zu sagen hast, solltest du den Mund halten, Eric. Wenn es ihr gestern Abend nichts ausgemacht hat, dann wird es ihr jetzt auch nichts ausmachen. Glaubst du ernsthaft, dass dieses Mädchen nicht selbst weiß, was es will? Ich sehe die Angelegenheit folgendermaßen: Dein Blut, das du ihr vor so vielen Jahren verabreicht hat, hat sie auf gewisse Weise verändert. Es hat das Band zwischen euch gefestigt und zur Folge gehabt, dass sie eine natürliche Abneigung gegen Sonnenlicht entwickelte, ebenso wie es sie des Nachts vor Lebensenergie schier übersprudeln lässt. In Anbetracht dessen ist es nur logisch, dass sie auf die Entnahme von ein paar Tropfen in einem Moment der Leidenschaft nicht mit der Abneigung reagieren würde, wie es ein gewöhnlicher Mensch vielleicht täte.“
Eric seufzte lang und laut. „Sie glaubt, dass sie in mich verliebt ist. Habe ich dir das schon erzählt?“
„Seit wir uns vor nicht einmal einer Stunde erhoben haben, bloß annähernd einhundert Mal, Eric … Nicht, dass ich weiter mitzählen würde. Warum überrascht dich das so? Du bildest dir doch auch ein, sie zu lieben, oder nicht?“
„Ich bilde mir nichts ein. Ich liebe sie. Von ganzem Herzen.“
„Wer sagt denn, dass sie nicht dasselbe empfindet?“
Eric schloss langsam die Augen und behielt sie zu. „Ich bete zu Gott, dass sie es nicht tut. Es genügt, dass ich den Schmerz unserer unvermeidlichen Trennung ertragen muss. Ich will nicht, dass ihr solcher Kummer zuteilwird.“ Er öffnete die Augen und suchte Rolands stirnrunzelnden Blick. „Es ist unvermeidlich.“
„Es ist alles andere als das. Sie könnte eine …“
„Denk nicht einmal daran, das vorzuschlagen.“ Eric wandte sich von seinem Freund ab; sein Blick schweifte durch den Raum, ins Nichts gerichtet. „Dieses Dasein ist mein Fluch. Ich will nicht, dass es auch ihrer wird.“
Rolands Stimme war leise, wenngleich schroffer. „Wenn es Einsamkeit ist, wovon du sprichst, dann versteht dich niemand besser als ich, Eric.“
„Du hast deine Einsamkeit selbst gewählt. Du willst es so. Meine kommt einer Einzelhaft gleich, die ich bis ans Ende aller Tage absitzen muss. Ich halte mich von anderen fern, weil ich niemandem trauen kann – nicht solange das DPI nach Mitteln und Wegen sucht, mich zu vernichten.“
„Meine Einsamkeit …“ Roland brach ab und schottete seinen Verstand zugleich gegen Erics Neugierde ab. Als er fortfuhr, klang seine Stimme ruhiger, gefasster. „Meine Einsamkeit steht hier nicht zur Debatte. Auch du müsstest nicht einsam sein, wenn du jemanden hättest, mit dem du dein Leben teilen könntest.“
Eric schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich habe bereits darüber nachgedacht, Roland. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“
„Diese Entscheidung zu treffen steht dir nicht zu, mein Freund.“
Wut loderte in Eric auf. Sein Kopf ruckte in die Höhe, und er drehte sich langsam um, um Roland im Detail mitzuteilen, wohin er sich seine Bemerkung stecken konnte, als der Geruch allmählich in seinen Verstand sickerte. Er griff danach, wie ein Ertrinkender nach einem Rettungsring greifen würde, und konzentrierte sich mit seinem ganzen Selbst auf diese Empfindung, die von Tamara zu ihm drang.
Dieser Geruch … Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich. Sauber … steril. So grässlich vertraut.
Mit aufgerissenen Augen sah er Roland an. „Mein Gott, sie liegt im Krankenhaus!“
Eric eilte zur Tür, doch Roland versperrte ihm den Weg. „Warte, Eric. Wenn es um Tamara geht, lässt du jegliche Vorsicht vermissen.“ Er griff nach seinem Satinumhang und warf ihn sich mit einer lange geübten Armbewegung über die Schultern. „Ich wage kaum, mir auszumalen, in was für einen Schlamassel du ohne mich geraten würdest.“
„Gut.“ Eric hielt inne, als er die Tür erreichte. „Du kannst diesen Aufzug nicht in einem Krankenhaus tragen, Roland. Du siehst aus, als wärst du geradewegs den Seiten des Romans von diesem Stoker-Heini entstiegen.“
„Ich hege nicht die Absicht hineinzugehen. Ich kann solche Orte nicht leiden.“
Wie er es gesagt hatte, hielt sich Roland draußen im Schatten verborgen, während Eric der stetig deutlicher werdenden Spur von Tamara ins richtige Stockwerk folgte. Er nahm die Treppe und sandte die forschenden Fühler seines Geistes voraus, stets auf der Hut vor St. Claire und Rogers. Es dauerte nicht lange, bis er in unmittelbarer Nähe von Tamara einen Hinweis auf ihre Gegenwart auffing, selbst wenn er sie bei Weitem nicht so stark spürte, wie Tamara es tat.
Eric ließ seinen Blick den Korridor in der vierten Etage auf und ab wandern und hatte keine Mühe, das Zimmer zu finden. Er hätte es auch ohne Hilfe gewusst, obwohl der stämmige Bursche in dem dunkelgrauen Anzug, der vor ihrer Tür postiert war, keinen Zweifel zuließ. Obzwar Eric ihn nicht wiedererkannte, war ihm sofort klar, dass er zum DPI gehörte.
Wenn er Tamara sehen wollte, musste er einen anderen Weg finden. Schon beruhigte er sich ein wenig. Obwohl er fühlte, dass sie immer noch reichlich mitgenommen war, gewahrte er ihre Lebenskraft. Sie war wohlauf, das konnte er spüren.
Seine Erleichterung darüber war so gewaltig, dass er beinahe den metallenen einhängbaren Aktenordner übersehen hätte, der auf dem Tresen lag und um den sich die Krankenschwestern drängten. Auf einem weißen Klebestreifen auf der Vorderseite prangten Worte in schwarzer Tinte.
Dey, Tamara.
Eric erstarrte. Er musste einen Blick in diesen Ordner werfen! Nur so würde er das Ausmaß ihrer Verletzungen in Erfahrung bringen können, ebenso wie er Informationen darüber erhalten würde, was genau dazu geführt hatte, dass es sie hierher verschlagen hatte. Er schloss die Augen.
Roland? Bist du immer noch da draußen?
Wo sollte ich sonst sein?, kam die gelangweilte Antwort.
Ich könnte hier drinnen ein Ablenkungsmanöver brauchen, erklärte Eric ihm.
Wird erledigt.
Eric wartete ungefähr dreißig Sekunden, in denen er unbehaglich beide Seiten des Korridors im Auge behielt, halb von der Erwartung erfüllt, dass St. Claire jeden Moment auftauchen würde. Dann drang ein entsetzlicher Schrei aus einem der Räume in dem anderen Gang, und sämtliche Schwestern setzten sich eilends in Bewegung.
Eine Männerstimme scholl durch die Flure: „Es hat mich angegrinst – geradewegs durch mein Fenster! Ich schwöre es! Und es … es hatte Fangzähne … und die Augen …“
Unwillkürlich musste Eric grinsen, obwohl ihm keineswegs danach zumute war. Er eilte zum Schreibtisch hinüber und schlug Tamaras Akte auf. Er musste nicht lange suchen. Laut dem Arzt, der sie behandelt hatte, war Tamara am frühen Morgen bewusstlos und mit kaum messbaren Vitalwerten eingeliefert worden. Sie hatte eine große Menge Beruhigungsmittel zusammen mit Alkohol eingenommen.
Die Untersuchung des Mediziners ergab, dass sie vor Kurzem Geschlechtsverkehr hatte. Des Weiteren gab er die blauen Flecke auf ihrem Oberkörper zu Protokoll und gelangte zu dem Schluss, dass sie irgendwann letzte Nacht vergewaltigt worden sei. Seiner Meinung nach war der Grund für die Tabletten und den Alkohol ein Selbstmordversuch.
Das Blatt verschwamm vor seinen Augen. Sein Magen rebellierte. Wäre er allein gewesen, hätte er aufgebrüllt wie ein verwundeter Löwe. Gleichwohl, so wie die Dinge lagen, blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Qual unter Kontrolle zu bekommen. Er allein wusste, dass es keine Vergewaltigung gewesen war, die sie zu dieser Tat verleitet hatte. Der Anlass dafür war etwas gewesen, das der Seele noch weit mehr Schaden zufügte.
Sie hatte sich voller Leidenschaft einem Monster hingegeben. War ihm nicht schon davor klar gewesen, dass dies alles zu viel für sie sein würde, sobald die erste Euphorie nachließ? Fast blind vor Kummer schloss er den Ordner und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war.
Roland war gerade von dem Fenstersims heruntergesprungen „Hast du diesen Schwachkopf brüllen gehört?“ Er lachte. „So viel Spaß hatte ich schon seit Jahren nicht mehr.“ Sein lautes Gelächter verstummte, und er räusperte sich. „Also, wie hast du unser Mädchen aufgespürt? Hast du sie gesehen? Eric – meine Güte, du siehst grauenvoll aus. Was ist los?“
Eric schluckte schwer und zwang sich, die Worte auszusprechen. Es fiel ihm nicht leicht. Seine Kehle war derart zugeschnürt, dass er kaum imstande war, einzuatmen, und als er es tat, brannte sie. „Ich … konnte nicht zu ihr. Vor ihrem Zimmer war eine Wache postiert. Vom DPI.“ Er entdeckte in der Nähe eine Bank und ging hinüber. Er musste sich setzen. Ihm war, als hätte ihn ein Zug überrollt. „Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen, Roland.“
„Wie bitte?“ Sofort saß Roland neben ihm, einen Arm um Erics Schultern gelegt. Eric nahm es kaum wahr.
„Ich sagte dir doch, sobald sie wieder bei klarem Verstand ist, wird sie bereuen, was wir – was ich ihr angetan habe. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass das Ganze sie so anwidern würde, dass sie damit nicht weiterleben kann!“
„Du irrst dich!“
Trotz der Eindringlichkeit in Rolands Stimme drangen seine Worte nicht durch die Mauer aus Schmerz, die Eric umgab. „Schlaftabletten in Verbindung mit Alkohol. Es steht alles in ihrer Akte.“
Roland packte Erics Schultern und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. „Nein. Das würde sie nicht tun.“
Eric schüttelte den Kopf. „Du kennst sie kaum.“
„Das ist wahr, aber ich weiß um die Verzweiflung, die es braucht, um jemanden zu einer solchen Tat zu treiben! Ich kenne derlei aus erster Hand, Eric. Ich kenne die Anzeichen dafür.“ Seine Stimme wurde sanfter. „Ich wünschte nur, sie wären mir damals schon vertraut gewesen.“ Er schüttelte den Gedanken ab. „Nimm nichts als gegeben hin, das du nicht aus ihrem eigenen Mund gehört hast, Eric. Ich weiß, dass der Fall anders liegt. Geh zu ihr. Sprich mit ihr.“
Zum hundertsten Mal schüttelte Eric den Kopf. „Ich bin der Letzte, den sie jetzt sehen möchte.“
„Wenn dem so ist, wird sie dir das sagen, und dann hast du deine Antwort. Falls nicht, würdest du ihr großes Unrecht tun, wenn du sie mit einem Wachmann vom DPI in diesem Raum zurücklässt, der sie daran hindert zu gehen.“
Erics Schultern spannten sich. „Ich nehme an, ich könnte durchs Fenster hineingelangen. Aber ich fürchte, St. Claire und Rogers könnten bei ihr im Zimmer sein.“
„Gib mir einen Moment Zeit“, sagte Roland, entließ Erics Schultern aus seinem eisenharten Griff und erhob sich, um davonzueilen. „Ich lasse mir etwas einfallen.“
Langsam blinzelte Tamara den Nebel fort, der ihren Blick trübte, und stellte fest, dass Daniel neben ihr saß und ihre Hand hielt. Sie fragte sich, warum sie sich allem Anschein nach in einem Krankenhauszimmer befand, und Bruchstücke der Unterhaltung, deren Zeugin sie zuvor geworden war, kamen ihr in den Sinn.
„Du bist wach.“ Daniel beugte sich vor. „Sie haben gesagt, dass du bald aufwachen würdest. Eigentlich solltest du nicht so lange bewusstlos sein, wie du es warst. Aber wir waren alle der Ansicht, dass etwas Ruhe dir guttun würde, deshalb haben wir dich schlafen lassen.“
Die Ruhe hatte ihr tatsächlich gutgetan, überlegte sie, während ihr Kopf sich zunehmend mehr klärte. Sie fühlte, wie Energie sie durchströmte, und wünschte sich, die Bettdecke beiseitezuwerfen und aufzustehen. Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen. „Wir haben Nacht, oder? Liebe Güte, wie lange habe ich geschlafen?“
„Ich habe dich heute Morgen in deinem Bett gefunden.“ Daniel schluckte. „Im ersten Moment dachte ich, du würdest schlafen; dann jedoch sah ich die Tabletten und den Brandy.“ Zum wiederholten Male drückte er seine kühle Handfläche gegen ihre Stirn. „Du hättest es mir sagen sollen, Kleines. Ich hätte dir dafür keine Schuld gegeben. Es war nicht dein Fehler.“
Sie setzte sich so hastig im Bett auf, dass seine Hand herabfiel. Wieder ganz bei Bewusstsein, erinnerte sie sich an die Worte, an die sie sich zuvor nur undeutlich zu entsinnen vermocht hatte. Sie alle waren der Meinung, dass sie versucht hatte, sich umzubringen. Schlimmer noch, sie vertraten die Ansicht, dass sie von niemand anderem als Eric geschlagen und vergewaltigt worden war. Sie hatten die Male gesehen, die seine ungezügelte Leidenschaft an ihrem Hals hinterlassen hatte.
„Daniel, ich muss dir erzählen, was letzte Nacht geschehen ist.“
„Quäle dich nicht, Liebes. Ich weiß bereits Bescheid. Ich …“ Ein Schluchzen stieg in seiner Kehle auf, doch er schluckte es herunter. „Für das, was er dir angetan hat, werde ich ihn umbringen, Tam. Ich schwöre bei Gott, dass ich das tue.“
„Nein!“ Sie sprang unvermittelt auf die Füße. „Daniel, du musst mir zuhören! Hör mir …“ Eine Woge des Schwindels schwappte über sie hinweg, und wenn Daniel nicht gewesen wäre, um sie zu stützen, wäre sie zu Boden gesunken. „Hör mir bitte einfach zu.“
„In Ordnung. In Ordnung, Liebes, wenn du das Gefühl hast, darüber reden zu müssen, höre ich dir zu. Leg dich aber erst wieder ins Bett, okay?“
Sie nickte, klammerte sich an seine weichen Schultern und nahm wieder Platz. Als sie schließlich erneut in ihren Kissen lag, bemühte sie sich, Ruhe zu bewahren. „Wo ist Curtis?“
„Draußen. Einmal in der Stunde überprüft er das Gelände. Wir werden verhindern, dass Marquand dir noch einmal zu nahekommt, Schatz. Mach dir darüber keine Gedanken.“
Sie rollte mit den Augen. „Curtis sollte das, was ich zu sagen habe, ebenfalls hören, aber ich fürchte, ich kann nicht warten. Du musst ihm alles erzählen, was ich dir jetzt sage. Versprochen?“
Er nickte. Tamara räusperte sich und versuchte genug Mut aufzubringen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Das hätte sie von Anfang an tun sollen.
„Seit jener Nacht auf der Eisbahn habe ich mich mehrere Male mit Eric Marquand getroffen“, platzte sie schließlich heraus. Daniel öffnete den Mund, aber sie hob beide Hände. „Bitte, lass mich ausreden, bevor du irgendetwas sagst.“
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Er hat mich auf eine Schlittenfahrt mitgenommen und bot mir heißen Kakao und vorzüglichen Cognac an – tatsächlich war auch der Cognac, den ich letzte Nacht getrunken habe, ein Geschenk von ihm. Ich war außerdem bei ihm zu Hause. Wir saßen vor dem Kamin und haben uns stundenlang unterhalten. Er ist kein Monster, Daniel. Er ist ein wundervoller, fürsorglicher Mann.“
„Mein Gott …“
„Nachdem Hilary und ich gestern Abend auseinandergegangen sind, hatte ich einen Platten. Ich musste vom Highway abfahren und war gerade zu Fuß auf dem Weg zu einer Tankstelle, als ich“, die Erinnerung daran ließ sie die Augen schließen, „angegriffen wurde. Ich habe mich gegen den Mistkerl zur Wehr gesetzt, aber es hatte keinen Sinn. Er war sehr stark. Ich glaube, er hätte mich umgebracht, sobald er mit mir fertig gewesen wäre. Zum Glück kam Eric gerade noch rechtzeitig.“
Jetzt, da die fürchterlichste Erinnerung an die vergangene Nacht hinter ihr lag, hoben sich ihre Lider wieder. „Er riss den Mann von mir herunter und schlug ihn bewusstlos. Er trug mich zum Auto, legte seinen Mantel um mich, und dann fuhr er los. Er hätte mich auf direktem Wege nach Hause gebracht, aber ich habe ihn darum gebeten, es nicht zu tun. Ich brauchte Zeit, um mich zu beruhigen.“ Sie ergriff seine Hand. „Daniel, Eric hat mir letzte Nacht das Leben gerettet.“
Daniel starrte sie einen endlosen Moment an. „Aber wie konnte … ich verstehe nicht …“
„Er ist nicht das Ungeheuer, als das ihr ihn mir gegenüber die ganze Zeit über hingestellt habt“, erklärte sie ihm. „Er ist menschlicher als die meisten Männer, die ich kenne.“
Einen Moment lang wirkte Daniel unsicher, dann jedoch verengten sich seine Augen. „Denk doch bloß an die Male, die er auf deinem Hals zurückgelassen hat; die kannst du nicht verleugnen! Sie sind Beweis genug dafür, was er ist!“
Sie senkte den Blick. „Ich werde sie nicht verleugnen, aber ich habe auch nicht die Absicht, ihretwegen zu lügen. Ich habe nicht vor, dir Dinge zu erzählen, die dich nicht das Geringste angehen, Daniel. Aber du musst wissen, dass alles, was letzte Nacht zwischen Eric und mir geschehen ist, allein deshalb stattgefunden hat, weil ich es so wollte. Ich wollte es, obwohl ich wusste, was er ist. Er hat mir nicht wehgetan, und das wird er auch niemals tun.“
„Weißt du, was du da sagst, Tamara? Du gibst zu, dass er ein Vampir ist, und dennoch verteidigst du ihn?“
Sie hielt seinem Blick unbeirrt stand. Sie würde sich nicht für die Gefühle schämen, die sie Eric entgegenbrachte. Gleichwohl war sie der Meinung, dass sie ihrem Vormund für einen Abend bereits genügend Schocks versetzt hatte.
„Ich sage, dass du dir meinetwegen keine Sorgen zu machen brauchst. Solange Eric in meiner Nähe ist, wird mir kein Unheil widerfahren.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und drückte ihn. „Ich möchte, dass du über eine Sache nachdenkst, Daniel. Lange Zeit hast du angenommen, dass seine Art von Natur aus böse sein müsse, weil sie anders ist. Doch du irrst. Du musst dich hinsetzen und erkennen, dass diese Einstellung völlig verkehrt ist.“
Er schüttelte den Kopf und erhob sich. In seinen Augen schien ein stummer Vorwurf zu liegen. „Haben Curtis und ich dich nicht davor gewarnt, dass er versuchen könnte, deinen Verstand unter seine Kontrolle zu bringen? Habe ich dich nicht gebeten, mir zu sagen, wenn er den Versuch unternimmt, dich wiederzusehen? Du kannst seinen Lügen keinen Glauben schenken, Tamara! Er würde mich umbringen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte, und du bist diejenige, die sie ihm verschafft! Er benutzt dich, um an mich heranzukommen, Tamara. Du musst blind sein, um das nicht zu erkennen!“
Angesichts der Wut in seiner Stimme und in seinen Zügen sog sie scharf die Luft ein. Er schien der Meinung zu sein, sie habe ihn verraten. Noch nie zuvor hatte sie ihn so zornig gesehen. „Daniel, du irrst dich …“
Sie wurde durch ein Piepsen an Daniels Gürtel unterbrochen. Er drückte einen Knopf, und das Piepsen brach augenblicklich ab. „Ich muss gehen. Curtis …“ Er biss sich auf die Unterlippe.
„Curtis was?“ Tamara spürte, wie ein Schauder ihr Rückgrat emporkroch. Es hatte etwas mit Eric zu tun, dessen war sie gewiss. Daniel hatte vorhin gesagt, dass Curtis das Gelände absuchte oder etwas in der Art. Hatte er Eric entdeckt? Was würden sie mit ihm anstellen, wenn es ihnen gelang, seiner habhaft zu werden?
Statt ihr zu antworten, trat Daniel rasch durch die schwere Holztür hinaus. Als er das tat, entdeckte sie die draußen postierte Wache, und ihr Herz begann noch schneller zu schlagen. Sie konnte nicht hinaus, um Eric davor zu warnen, dass Curtis und Daniel Blut sehen wollten. Lieber Himmel, was, wenn sie ihn in die Finger bekamen?
Die Tür glitt ins Schloss, und Tamara eilte durchs Zimmer, während sie gegen das Schwindelgefühl anfocht, das sich immer wieder von Neuem bemerkbar machte. Sie schloss die Augen und versuchte Eric auf dieselbe Art und Weise zu rufen, wie sie es schon zuvor in Gedanken getan hatte.
Eric, falls du da draußen bist, sei vorsichtig! Daniel und Curtis …
Ihre Gedanken brachen abrupt ab, als eine kühle Brise über ihren Körper strich und eine wohlvertraute Stimme leise zu ihr sprach: „… werden just in diesem Moment von Roland zum Narren gehalten, in der Absicht, sie von hier wegzulocken.“ Als sie die Augen aufriss, schwang Eric seine Beine über den Fenstersims und landete elegant auf dem Boden. Einen Moment lang verharrte er reglos, als würde er auf ihre Erlaubnis warten, näher kommen zu dürfen.
Tamara eilte zu ihm und warf sich in seine Arme. „Eric!“ Seine Umarmung wirkte zögerlich; dann schob er sie von sich und beförderte sie zurück ins Bett. Sein Gesicht, bemerkte sie nun, bot ein Bild des Elends. Tiefe Falten hatten sich zwischen seine Augenbrauen gegraben und zogen sich an seinen Mundwinkeln hinunter. Seine Augen waren tränenfeucht und suchten ihren Blick.
Neben dem Bett sank er auf ein Knie, und mit jedem Wort, das er hervorbrachte, wurde seine Stimme rauer. „Liebste Tamara, es lag nie in meiner Absicht, dass … Herr im Himmel, es lag nie in meiner Absicht, dich so weit zu bringen. Das schwöre ich dir. Wenn ich gewusst hätte … aber ich hätte es wissen müssen, nicht wahr? Ich hätte niemals tun dürfen, was ich getan habe.“ Er erstickte an den eigenen Worten, und eine einzelne Träne rollte langsam sein Gesicht hinunter.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie ihre Hand ausstreckte, um sein Antlitz zu berühren und die Träne mit ihren Fingerspitzen aufzunehmen. „Denk nicht einmal daran, dass du irgendeine Schuld hieran trägst, Eric. Nicht für eine Sekunde. Dies war ein Unfall, nichts weiter.“
Ihre Blicke trafen sich, und sie sah den Zweifel in seinen Augen. „Schau in meinen Verstand, wenn du schon in solcherlei Dingen so ein großes Talent besitzt. Noch besser, schau in mein Herz. Wie konntest du je denken, ich würde dich verlassen wollen?“
Sie spürte, wie er eben das tat, was sie ihm geraten hatte, und während er ihre Gedanken durchforstete, berichtete sie ihm, was vorgefallen war. „Mir war klar, dass ich die ganze Nacht über kein Auge zutun würde, aber ich war überzeugt, wenn ich am Morgen nicht zur Arbeit ginge, würde Daniel wissen, dass etwas nicht stimmte. Ich trank den Cognac, doch er half nichts. Eine kleine Weile später versuchte ich es dann mit den Schlaftabletten, die bereits seit über einem Monat in meinem Schrank liegen. Ich hatte sie schon vorher mehrmals eingenommen, ohne dass sich irgendwelche Nebenwirkungen eingestellt hätten. Das Problem war, dass ich nicht darüber nachgedacht hatte, was für Folgen es haben würde, die Tabletten mit Alkohol zu mischen. Das ist alles, Eric. Ich verspreche dir, mehr hat es damit nicht auf sich.“
Er schloss sie in seine Arme, und sie fühlte den zitternden Atemzug, den er ausstieß, auf ihrem Hals. „Ich dachte, du seist aufgewacht und hättest bereut, dich mir hingegeben zu haben. Solltest du das jemals tun, Tamara, dann musst du es mir sagen. Ich will dir keinen Grund für Kummer geben. Wenn du mir jetzt sagst, dass ich gehen soll, werde ich aus deinem Leben verschwinden.“
Ihre Arme umklammerten ihn fester, und sie flüsterte: „Nein. Verlass mich nicht, Eric. Geh nicht …“ Ein Gefühl von Déjà vu erfasste sie, so stark, dass ihr schwindelte, und stirnrunzelnd wich sie von ihm zurück. „Mein Gott, genau diese Worte habe ich schon einmal zu dir gesagt. In einem Krankenzimmer wie diesem. Ich flehte dich an, mich nicht zu verlassen … aber du tatest es dennoch.“
Er nickte, und seine Augen musterten sie sorgsam. „Ich war ehrlich der Meinung, dass es das Beste für dich sei. Ich habe mich geirrt. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal begehen. Wenn du von mir verlangst, mich von dir fernzuhalten, würde ich niemals so weit fortgehen, wie ich es damals tat. Du wirst immer unter meinem Schutz stehen. Ich würde über dich wachen, wie ich es schon davor hätte tun sollen. Wäre ich seinerzeit vorausschauender gewesen, hätte St. Claire dich niemals in seine Finger bekommen.“
„Dann ist es also damals passiert, als ich den Unfall hatte. Kenne ich dich daher? Die ganzen Erinnerungen und diese Vertrautheit stammen aus der Zeit, als ich sechs Jahre alt war?“
„Ja. Allmählich erinnerst du dich wieder daran. Bald kehren auch die übrigen Erinnerungen zurück, und du wirst all dies besser verstehen.“
Sie nickte, erfüllt von dem Wunsch, schon jetzt alles zu verstehen. Gleichwohl, sie würde ihn nicht weiter drängen. Er sollte nicht hier sein. Hier war es nicht sicher für ihn. „Eric, ich musste Daniel sagen, dass nicht du es warst, der mich angegriffen und verletzt hat, aber es war mir nicht möglich, die Male an meinem Hals zu verbergen.“ Seine Augen glitten zu jener Stelle, und sie fühlte die Hitze darin. Wie als Antwort darauf breitete sich in ihr eine wohlige Wärme aus, doch sie zwang sich dazu, sie zu ignorieren. „Ich habe ihm gesagt, dass ich freiwillig mit dir gegangen bin, dass du mich zu nichts gezwungen hast. Trotzdem beharrt er nach wie vor darauf, ich würde unter irgendeiner Art Bann von dir stehen. Er ist außer sich, Eric. Es ist nicht besonders klug, dass du hier bist.“
Seine Lippen wurden zu einem Strich, und er musterte sie einen Moment lang. „Du liebst diesen Mann, und um deinetwillen habe ich mich bislang bemüht, nichts gegen ihn zu sagen, Tamara. Heute Nacht jedoch muss ich mein Schweigen brechen. Lieber gehe ich das Risiko ein, mir deinen Zorn zuzuziehen, als dass ich zulassen könnte, dass du ihm weiterhin blindes Vertrauen entgegenbringst. Hier zu verweilen ist für dich genauso gefährlich wie für mich. Besonders jetzt, wo er über unsere Beziehung Bescheid weiß.“
Sie streichelte liebevoll sein Gesicht. „Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Er ist so daran gewöhnt, nur das Schlechteste von dir anzunehmen, dass er nicht anders kann, und ich glaube, dass du dasselbe Problem hast. Daniel liebt mich, Eric.“
Er legte seine Hand auf ihre, schloss die Augen und drehte sein Gesicht, um seine Lippen auf ihre Handfläche zu pressen. „Es zerreißt mich, dir wehtun zu müssen, Tamara. Die Merkmale, von denen ich dir berichtet habe, die dich von anderen Menschen unterscheiden …“
„Das Belladonna-Antigen und der gemeinsame Vorfahr?“
Er nickte. „St. Claire wusste auch schon damals darüber Bescheid.“
Sie blinzelte mit gerunzelter Stirn. „Er wusste Bescheid? Aber warum hat er mir nie davon erzählt?“
Eric hielt ihre Hand in seiner. „Tamara, es besteht die Möglichkeit, dass er dich nur deshalb bei sich aufgenommen hat, weil er wusste, dass du eine der Auserwählten bist. Er wusste von deiner Verbindung zwischen uns, und er wusste, solange du bei ihm bist, kommt er vielleicht nah genug an einen von uns heran, um ihn einzufangen.“
„Ihn einzufangen?“ Als er sprach, forschte sie in seinem Gesicht und seinem Verstand gleichermaßen nach Hinweisen darauf, dass er sie belog, doch es gab keine. „Zu welchem … Zweck, um Himmels Willen?“
Seine Lippen teilten sich, schlossen sich dann jedoch wieder. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst um dich“, sagte er zu ihr. „Glaub mir, das ist der einzige Grund, warum ich dir diese Dinge erzähle.“
Sie schüttelte den Kopf und blinzelte, als sich heiße Tränen in ihren Augen sammelten. „Ich weiß, dass es dir ernst ist. Du glaubst all diese Dinge wirklich … aber es stimmt nicht. Du irrst dich. Daniel liebt mich wie seine eigene Tochter.“ Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Das muss er tun. Er ist die einzige Familie, die ich all diese Jahre über hatte. Wenn all das eine Lüge war … Nein, du irrst dich.“
Eric seufzte, nickte aber. „Ich werde dieses Thema nicht weiter vertiefen. Von nun an ist er jedoch nicht mehr deine einzige Familie, Tamara. Du hast jetzt mich. Ganz gleich, was noch geschehen mag, ich werde immer für dich da sein. Glaubst du mir das?“
Sie nickte als Antwort, doch ihre Augen blickten ins Leere. Sie dachte nach und kam zu dem Schluss, dass Daniel gewusst haben musste, dass Eric sie vor all diesen Jahren im Krankenhaus aufgesucht hatte. Das war die einzig logische Erklärung für den übertriebenen Beschützerinstinkt, den er jetzt an den Tag legte.
Irgendetwas machte ihr unterbewusst zu schaffen, und sie kniff angestrengt die Augen zusammen, in dem Versuch, sich daran zu entsinnen. „Eric, als ich vorhin aufgewacht bin, sagten sie etwas von einem … einem Betäubungsmittel …“ Sie hörte ihre Stimmen in ihrem Kopf widerhallen und erhielt genau die Bestätigung, die sie gefürchtet hatte, zunächst Curtis’. Er wird ihretwegen kommen … genau wie damals. Und dann Daniels. Wir werden bereit sein. Hol das Betäubungsmittel, und dann treffen wir uns hier wieder. Ihr Magen verkrampfte sich.
„Kein mir bekanntes Betäubungsmittel hat auf Vampire irgendeine Wirkung, Tamara.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe das Gefühl, dass es sich hierbei um ein neues Präparat handelt, um etwas, an dem Curtis arbeitet.“ Sie schaute ihm in die Augen, und ihre Sorge um ihn überschattete ihre dräuenden Zweifel. „Ich weiß, dass ich von ihnen nichts zu befürchten habe, Eric, aber so wie die Dinge liegen, gilt das nicht für dich. Bitte geh, bevor sie zurückkommen.“
„Ich werde mich nicht aus Furcht vor ihnen verkriechen.“
„Aber Roland könnte ebenfalls in Gefahr schweben. Wenn sie irgendein Mittel haben, und er lässt sie zu nah an sich herankommen …“
Daraufhin runzelte er die Stirn und nickte. „Dann werde ich gehen … fürs Erste zumindest.“ Wieder zog er ihren Oberkörper zu sich heran, küsste ihren Hals, dann die Vertiefung unmittelbar unter ihrem Ohrläppchen und schließlich das Ohr selbst. „Obgleich es mir schier unerträglich ist, dich allein zu lassen.“
Sie schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken, um seinem Mund leichteren Zugang zu gewähren. Die Gefühle, die er durch ihren Körper sandte, würden ihren gesunden Menschenverstand innerhalb weniger Sekunden überwältigt haben. Ihre Finger vergruben sich in seinem Haar, und der Atem stockte ihr in der Kehle. Seine Lippen bahnten sich küssend einen Pfad zu den ihren, ehe er sich an ihrem Mund und ihrer Zunge gütlich tat, als wären sie seine Henkersmahlzeit. Als er sich schließlich von ihr löste, klammerte sie sich an ihm fest.
Sie presste ihre feuchten Lippen gegen sein Ohr. „Ich wünschte, du könntest bleiben. Ich begehre dich so sehr, dass es wehtut.“ Sie spürte, wie er als Reaktion auf ihre Worte und ihre Berührung erzitterte.
„Es ist zu früh dafür – du hast schon so viel durchgemacht.“ Sanft drückte er sie in die Kissen zurück. „Ich werde dich jetzt allein lassen, aber ich bleibe in deiner Nähe. Falls irgendjemand versucht, dir etwas anzutun, ruf nach mir. Du weißt, dass ich dich hören werde.“
„Ich weiß.“
Er verließ sie auf demselben Weg, den er gekommen war, und Tamara schien es, als habe er einen Teil von ihr mitgenommen.