Keith

8. KAPITEL

„Sie verabscheut mich.“ Eric blickte von dem Mikroskop auf, als er hörte, wie sein Freund das Labor betrat, in dem er sich nun schon die dritte Nacht in Folge verschanzte.

„Sie mag Angst vor dir haben, Eric, aber es verhält sich so, wie du gesagt hast. Sie wurde von einem Mann großgezogen, der uns für Ungeheuer hält. Lass ihr Zeit, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.“

„Sie ist angewidert von diesem Gedanken.“ Eric presste vier Fingerspitzen gegen den dumpfen Schmerz in der Mitte seiner Stirn. „Und ich kann nichts tun, um daran etwas zu ändern. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass sie in Schwierigkeiten steckt.“

Roland runzelte die Stirn. „Sind die Albträume etwa zurückgekehrt?“

„Nein, und sie ruft auch nicht länger nach mir. Aber seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie nicht mehr geschlafen. Ich spüre ihre Erschöpfung so deutlich, dass es an meiner eigenen Kraft zehrt. Sie kann so nicht weitermachen.“

„Seit du sie das letzte Mal gesehen hast? Eric, das sind eben drei Nächte …“

„Vier, heute mitgerechnet. Sie steht am Rande eines Zusammenbruchs. Ich möchte zu ihr gehen. Aber ich glaube, wenn ich ihr jetzt meine Gegenwart aufzwinge, solange sie nicht imstande ist, damit umzugehen, würde das mehr schaden als nützen. Vor allem bei ihrem gegenwärtigen Gemütszustand.“

Roland nickte. „Ich muss dir zustimmen. Allerdings setzt es dir gehörig zu, nicht zu ihr zu gehen, nicht wahr, Eric?“

Er seufzte. Sein Blick schweifte zur Decke empor, als er den Kopf zurücklegte. „So ist es. Das Schlimmste ist, dass ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob ich ihr wirklich helfen könnte, falls sie bereit wäre, meine Hilfe anzunehmen. Warum schläft sie nicht? Ist es bloß die verdrängte Erinnerung an unsere Treffen, die sie vom Schlafen abhält, oder steckt mehr dahinter? Ist es möglich, dass mein Blut sie irgendwie verändert hat – dass seine Wirkung selbst jetzt, nach all dieser Zeit, noch anhält? Oder leidet sie nur so, weil ich in der Nähe bin? Ginge es ihr besser, wenn ich einmal mehr das Land verließe?“

„Komm zu Sinnen, Eric! Würdest du sie hilflos in den Händen dieses Schlächters zurücklassen, der sich selbst einen Wissenschaftler schimpft?“

Eric schüttelte den Kopf. „Nein. Das könnte ich niemals. Wenn mir die Veränderungen an ihr aufgefallen sind, dann müssen sie ihm ebenfalls aufgefallen sein. Es würde mich nicht wundern, wenn er beschließen würde, sie für seine Experimente zu missbrauchen.“

„Bist du sicher, dass er das noch nicht getan hat?“

„Ich wüsste zumindest, wenn sie Schmerzen hätte oder leiden würde.“

„Vielleicht hat er sie betäubt, und sie ist bewusstlos“, mutmaßte Roland.

„Nein. Sie ruft mich nicht, aber ich spüre sie. Ich fühle die Mauer, die sie errichtet hat, um sich von mir fernzuhalten. Sie wehrt sich schon allein gegen den Gedanken an mich.“ Ein eigenartiger Klumpen saß in seiner Kehle, der ihn zu erstricken drohte, und eine unsichtbare Faust quetschte sein Herz.

Die Nächte waren am schlimmsten. Tamara hatte sich angewöhnt, abends lange im DPI-Gebäude in White Plains zu bleiben. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer war, dass sie nach Sonnenuntergang wesentlich mehr Arbeit erledigt bekam. Gleichgültig, wie ausgelaugt sie körperlich und emotional auch sein mochte, sobald es dunkel wurde, kehrte ihre Energie zurück.

Sie weigerte sich, dem Drängen ihres Körpers nachzugeben, tagsüber zu schlafen. Sie hatte Daniel davon überzeugt, dass es ihr besser ging, und fürs Erste schien er ihr Glauben zu schenken. Zumindest spionierte er ihr nicht in einem fort nach. Abgesehen davon hatte sie das Haus seit Tagen lediglich verlassen, um zur Arbeit zu gehen.

Curtis war ein ganz und gar anderes Problem. Wenn sie im Büro war, schaute er drei- bis viermal täglich bei ihr vorbei, und es bereitete ihr einige Mühe, bei seinen Überraschungsbesuchen wach und ausgeruht zu wirken. Seinen lächerlichen Vorschlag, sie möge ihn heiraten, hatte er nicht noch einmal zur Sprache gebracht. Sie war dankbar dafür, wusste sie doch, dass er sie nicht liebte; zudem wohnte nach wie vor genügend Scharfsinn in ihrem umnebelten Hirn, um zu begreifen, was ihn dazu gebracht hatte, ihr dieses Ansinnen zu unterbreiten.

Er wollte sie vor der vermeintlichen Bedrohung durch Eric Marquand schützen. Er wollte sie vierundzwanzig Stunden am Tag unter seinen Fittichen haben, vor allem nach Einbruch der Dunkelheit. Er erkannte, dass sie sich zunehmend seiner und Daniels Kontrolle entzog. Er nahm an, dass es ihm als ihr Gatte möglich wäre, sie bei der Stange zu halten. Sie konnte ihn dafür nicht hassen, schließlich hatte er es nur getan, weil er sie so mochte, und allein seine Sorge um sie hatte ihn dazu gebracht, diese Angelegenheit anzusprechen.

Sie sammelte die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zusammen und trug sie zum Aktenschrank, um sie dorthin zurückzulegen, wohin sie gehörten. Die Sonne war untergegangen. Sie fühlte sich hellwach, und das ängstigte sie. Wie viel länger konnte sie ohne Schlaf noch durchhalten?

Eine weitere Frage drängte in ihrem Hinterkopf, eine, die ihr noch mehr Sorgen bereitete als die erste. Sie verdrängte sie, wann immer sie konnte, was sich des Nachts freilich als unmöglich erwies. Warum fühlte sie sich innerlich so leer? Warum vermisste sie Eric so sehr? Das war lächerlich, immerhin kannte sie den Mann kaum. Oder tat sie es doch? Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass ihr das Gefühl, ihn in der Vergangenheit gekannt zu haben, lediglich durch eine Art Hypnose eingepflanzt worden sein sollte.

Das vertraute Gefühl, das er in ihr weckte, schien seinen Ursprung weniger in ihrem Kopf als vielmehr in ihrem Herzen zu haben, in ihrer Seele. Genau wie das schmerzhafte Verlangen, ihn wiederzusehen. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass es wehtat. Wie konnten diese Gefühle falsch sein, bloß die Folge eines Banns, unter dem sie stand?

„Tamara?“

Aufgeschreckt durch die leise Stimme, die in ihre Gedanken drang, schaute sie hastig auf. Sie blinzelte die brennende Feuchtigkeit hinfort, die sich in ihren Augen sammelte, erhob sich und schenkte Hilary Garner ein gezwungenes Lächeln.

Hilary lächelte zurück, auch wenn sich ihre schokoladenbraunen Augen verengten. „Du siehst aus wie ein Schluck Wasser in der Kurve“, scherzte sie. „Und du hast dich in letzter Zeit ziemlich rargemacht, Tam. Du warst nicht einmal zum Mittagessen draußen. Ich habe dich vermisst.“

Tamara seufzte, außerstande, dem anderen Mädchen in die Augen zu schauen. Hilary war die engste Vertraute, die sie abgesehen von Daniel und Curtis hatte. Früher hatten sie häufig etwas miteinander unternommen. Tamara wurde bewusst, dass sie in letzter Zeit an niemanden anderes gedacht hatte als an Eric. „Das war gewiss keine Absicht“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich habe viel um die Ohren.“

Eine zärtliche Hand, von der Farbe eines Rehs und ebenso grazil, legte sich auf Tamaras Schulter. „Willst du darüber reden?“

Neue Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Kehle verengte sich schmerzhaft. „Ich kann nicht.“

Hilary nickte. „Wenn du nicht kannst, dann eben nicht. Allerdings gehst du heute Abend nicht nach Hause in dieses Mausoleum, um die ganze Nacht vor dich hin zu brüten, es sei denn über meine Leiche.“

Die leichte Häme in ihrer Stimme war tröstlich. Tamara sah ihr in die Augen und war dankbar, dass sie nicht weiter nachhakte. „Was hast du denn im Sinn?“

„Nichts Großartiges. Du siehst nicht aus, als hättest du Lust auf so was. Wie wäre es mit einem netten, ruhigen Abendessen irgendwo? Das wird dich auf andere Gedanken bringen, ganz gleich, was dich beschäftigt.“

Tamara nickte, während sie mit einem Seufzer alle Luft aus ihren Lungen entließ. Es war eine Erleichterung, ihre Heimkehr hinauszögern zu können, ebenso wie das damit verbundene Umherwandern in dem leeren Haus, während Daniel und Curtis entweder im für sie gesperrten Kellerlabor über ihrem neuesten „Durchbruch“ brüteten oder unterwegs waren, um die Nacht über Eric nachzuspionieren.

Daniel erschien in der Tür, und Tamara warf ihm ein Lächeln zu, das dieses Mal sogar echt war. „Ich gehe mit Hilary einen Happen essen“, verkündete sie. „Ich komme später nach Hause, und falls du deine Zeit damit verplemperst, dir Sorgen um mich zu machen, werde ich verdammt wütend auf dich sein.“

Er runzelte die Stirn, bat sie jedoch nicht, nicht zu gehen. „Versprichst du mir, dass du danach sofort nach Hause kommst?“

„Ja, Daniel“, sagte sie mit übertriebener Unterwürfigkeit.

Er kramte in seiner Tasche und holte einen Schlüsselbund daraus hervor. „Nimm den Cadillac. Ich will nicht, dass du mit deiner alten Karre irgendwo liegen bleibst.“

„Und wenn du mit dem Käfer irgendwo am Straßenrand liegen bleibst?“

„Ich sorge dafür, dass Curtis hinter mir herfährt.“ Er hielt die Schlüssel in der ausgestreckten Hand, und sie trat vor, um sie an sich zu nehmen. Sie ließ sie in ihre Handtasche fallen, holte ihre eigenen hervor und reichte sie Daniel.

Er warf ihr einen langen Blick zu, und es hatte den Anschein, als wollte er etwas sagen, was er dann aber doch nicht tat. Stattdessen verabschiedete er sich mit einem Seufzer, der ihr verriet, dass es ihm ganz und gar nicht gefiel, dass sie heute Nacht noch ausging.

Gleichwohl, es war die Sache wert. Drei wundervolle Stunden lang ließen sie und Hilary sich jeden Gang schmecken, vom riesigen Salat und der heißen Suppe bis hin zu den köstlichen Steaks und den gebackenen Kartoffeln mit jungen Karotten als Beilage; es gab sogar Nachtisch – Kirschkäsekuchen.

Tamara bestellte Wein zum Essen. Für gewöhnlich trank sie keinen Alkohol, doch sie hegte die Hoffnung, dass ein paar Drinks ihr vielleicht dabei helfen könnten, Schlaf zu finden, wenn sie nach Hause kam. Sie erlaubte dem Kellner, ihr Weinglas dreimal nachzufüllen.

Als das Essen schließlich vorüber war und Hilary als Digestif einen Seagram’s 7 mit Zitronenlimonade orderte, sagte Tamara: „Machen Sie zwei draus.“

Die Unterhaltung sprudelte wie in alten Zeiten, vor den Albträumen und den schlaflosen Nächten. Für kurze Zeit fühlte sie sich wie eine ganz gewöhnliche Frau mit einem intakten, gesunden Verstand. Der Abend ging viel zu früh zu Ende. Draußen auf dem Parkplatz verabschiedete Tamara sich widerwillig und eilte zu Daniels Wagen. Sie versuchte sich über ihren Zustand klar zu werden, bevor sie sich hinter das Steuer setzte.

Sie zählte die Drinks, die sie sich gegönnt hatte, und dann die Anzahl der Stunden. Vier und vier. Sie fühlte sich gut. Nachdem sie sichergestellt hatte, dass ihre Fahrtüchtigkeit nicht beeinträchtig war, ließ sie das Auto an, schaltete die Scheinwerfer ein und rollte vorsichtig aus der Parklücke.

Sie nahm an, dass sie sich mit dem Nachhausefahren Zeit lassen konnte. Sie würde Radio hören und nicht an die Dinge denken, die in ihrem Leben verquer liefen. Wenn sie zu Hause ankam, würde sie sich ein gutes Buch aus einem von Daniels Regalen schnappen und sich beim Lesen darin verlieren. Sie würde sich keine Sorgen wegen Vampiren oder Gehirnwäschen oder Irrenanstalten machen.

Gleichwohl, der platte Reifen machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie dankte ihrem Schutzengel dafür, dass sie sich in der Nähe einer Ausfahrt befand, und fuhr ab, während der Wagen über den Seitenstreifen dahinhumpelte. Sobald sie zu einer halbwegs geeigneten Stelle gelangte, brachte sie das schlachtschiffgroße Fahrzeug zum Stehen.

Dann saß sie einen Moment lang da und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Ich habe den Ersatzreifen nicht erneuert, rief sie sich selbst ins Gedächtnis.

Sie blickte auf und entdeckte weiter vorn ein großes erleuchtetes Tankstellenschild, keine hundert Meter entfernt. Mit einem resignierten Seufzen öffnete sie die Wagentür und hängte mit dem Daumen den Gurt ihrer Handtasche über ihre Schulter. Sie hielt einen Moment lang inne und hoffte, der Tankwart möge so zuvorkommend sein, sie zurück zu ihrem Auto zu fahren … und vielleicht sogar den Reifen für sie zu wechseln.

Bei diesem Gedanken lachte sie beinahe laut auf. Sie wusste sehr wohl, dass sie in wenigen Minuten zu Fuß zu ihrem Wagen zurückkehren würde, einen neuen Reifen vor sich herrollend. Zum Glück war sie im Reifenwechseln nicht unerfahren.

Sie spazierte am Seitenstreifen entlang, froh darüber, dass der Asphalt vor ihr zusätzlich zum Mondlicht auch noch von Straßenlaternen erhellt wurde. Trotzdem schwand ihre gute Laune dahin, als eine Wagenladung lachender Jugendlicher an ihr vorbeifuhr; ungeachtet der nahe des Gefrierpunkts liegenden Temperaturen dröhnte aus den offenen Autofenstern Heavy-Metal-Musik, untermalt von quietschenden Reifen, als das Fahrzeug unvermittelt zum Stillstand kam.

Zwei Männer – Jungen, um genau zu sein – stiegen aus und standen schwankend da; der Grund hierfür befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach in den Flaschen, die sie in den Händen hielten.

Tamara kam zu dem Schluss, dass es besser war, zur Tankstelle zu fahren, selbst auf die Gefahr hin, dass sie sich dabei die Felge ruinierte, und machte auf dem Absatz kehrt. Sobald sie das tat, legte der rostige Mustang den Rückwärtsgang ein und schoss an ihr vorüber. Diesmal hielt der Wagen auf dem Seitenstreifen, und der Fahrer stieg aus. Langsam kam er auf sie zu. Der Gegenstand in seiner Hand, in dem sich reflektierend das Licht brach, war keine Flasche. Es war ein Messer.

Sie versteifte sich, als sie sie umzingelten; zwei kamen von hinten, einer von vorn. In diesen schier endlosen Sekunden kam nicht ein einziges Auto vorbei. Sie überlegte, ob sie zur Seite sprinten sollte, doch auf diesem Wege würde sie lediglich in einer Sackgasse aus Buschwerk enden, in der sie sie ohne Schwierigkeiten erwischen würden.

Sie kam zu dem Schluss, dass es am besten war, es hier zu versuchen. Jeden Augenblick würde ein Auto vorbeikommen; sie würde mit den Armen winken … und sich dem Wagen in den Weg stellen, falls nötig.

Tamara warf den beiden Jugendlichen über die Schulter einen Blick zu. Einer trug eine zerfetzte Jeans und ein schlichtes, nicht zugeknöpftes Hemd, das im eisigen Wind um seinen nackten dürren Oberkörper flatterte. Der andere trug Jogginghosen und eine Lederjacke. Beide sahen aus, als bräuchten sie dringend ein Bad und einen Haarschnitt; auch fiel es ihr schwer, zu glauben, dass sie ihr etwas zuleide tun würden. Sie hatte nicht den Eindruck, dass einer von ihnen alt genug war, um das Bier kaufen zu können, das sie in sich hineinschütteten.

Sie hielt den Atem an, als jemand sie am Arm packte, und schwang ihren Kopf wieder nach vorn. Der, der sie festhielt, war kein Jugendlicher. Seine langen fettigen Haare, die sich rings um eine halbkreisförmige, schimmernde Glatze gruppierten, hingen bis auf seine Schultern herab. Er war kleiner als sie und besaß gut und gerne fünfzig Pfund Übergewicht. Er grinste sie an; zwischen seinen gelblich-bräunlichen Zähnen gähnten Lücken.

Wortlos griff er nach ihrer Handtasche und ließ dabei ihren Arm los; gleichwohl, er hielt noch immer das Messer in der anderen Hand. Sie trat einen Schritt zurück. Rasch hob er die Klinge und drückte die Spitze unmittelbar unter eine ihrer Brüste. „Eine Bewegung, und du bist sie los, Lady.“ Er warf die Handtasche über ihren Kopf zu den beiden Jungs, die jetzt dicht hinter ihr standen. „Ihr Caddy hat einen Platten. Ihr zwei wechselt ihn, und wir machen eine kleine Spritztour.“

„Ich habe keinen Ersatzreifen.“ Es bereitete ihr einige Genugtuung, ihm das zu sagen, in der Annahme, dass dies sein Vorhaben, Daniels Auto zu stehlen, vereiteln würde.

„Aber du warst dabei, einen neuen zu kaufen, nicht wahr, Süße?“

Sie antwortete nicht, als der Junge mit der Lederjacke in ihrer Handtasche wühlte. „Hier drin sind fünfundneunzig Mücken und Klimpergeld.“

Der Mann mit dem Messer grinste noch breiter. „Steck’s ein, und ab zur Tankstelle mit euch. Nehmt den Mustang. Bringt den Ersatzreifen her, und macht den Caddy wieder flott.“ Er fuhr mit der Messerspitze über ihre Brust, nicht fest genug, um sie zu schneiden, dennoch zuckte sie vor Schmerz und Angst zusammen. „Ich werde der Lady Gesellschaft leisten, während ihr weg seid.“

Sie vernahm das Geräusch ihrer Füße auf dem Asphalt, dann waren die beiden Jungen an ihr vorbei, auf dem Weg zu dem laufenden Fahrzeug. Sie ließen die Räder durchdrehen, als sie zur Tankstelle fuhren. Der Mann schubste sie abrupt herum und drehte ihr einen Arm auf den Rücken. Er drückte sie die sanfte Böschung hinab in Richtung Gebüsch. „Wir werden da unten auf die Jungs warten, schön außer Sicht.“

„Den Teufel werden wir.“ Sie trat mit einem Fuß hinter sich, doch er fing den Tritt mit einem flinken Heben seines eigenen Beines ab, und sie landete mit dem Gesicht nach unten im Schnee, während er auf ihrem Rücken hockte.

„Du willst es also gleich hier besorgt haben?“, knurrte er ihr ins Ohr. „Soll mir recht sein!“ Sie schrie auf und spürte sogleich die eisige Klinge an ihrem Hals. Ihr Gesicht wurde brutal in den Schnee gedrückt, dann fuhrwerkte seine Hand unter ihr herum, schob sich in ihre Bluse und riss wütend an ihrem BH. Als er sie berührte, drehte sich ihr der Magen um.

Lieber Himmel, dachte sie, aus dieser Sache komme ich nicht wieder raus. Daniel würde sich keine Sorgen machen, wo sie blieb, weil er annahm, sie sei mit Hilary unterwegs. Selbst wenn er sich irgendwann auf die Suche nach ihr machte, würde er sie hier niemals vermuten. Sie hatte diese Ausfahrt nur wegen des platten Reifens genommen. Ihre reguläre Abfahrt auf dem Weg nach Hause befand sich drei Ausfahrten weiter den Highway entlang.

Der Atem des Mannes wehte ihr ins Gesicht. Mit einem letzten schmerzvollen Zwicken zog er seine heiße Hand von ihrer Brust fort und versuchte sie vorn in ihre Jeans zu schieben, während seine Hüften gegen ihren Hintern rieben.

Er wird es tun, dachte sie. Blinde Panik ließ ihre Gedanken durcheinanderwirbeln wie Herbstlaub, und sie kämpfte darum, ruhig zu bleiben. Sie durfte nicht aufgeben. Sie würde nicht zulassen, dass er sie mit seiner Hand missbrauchte. Sie weigerte sich, sich zu übergeben, denn wenn sie es tat, würde sie vermutlich ersticken. Sie brauchte Hilfe.

Ruhe befiel sie, als Erics Gesicht ihren Verstand ausfüllte. Seine Worte hallten ihr in den Ohren, um sie mit dem tiefen Tenor seiner Stimme zu beruhigen. Ich würde dir niemals Schaden zufügen. Ich würde jeden umbringen, der das versucht. Sie schloss die Augen. War es ihm ernst mit dem gewesen, was er gesagt hatte? Hast du noch nicht begriffen, schien seine Stimme in ihrem Kopf zu flüstern, um das Keuchen des Mistkerls auf ihr zu übertönen, dass ich dich über Meilen hinweg hören kann, selbst wenn du nur in Gedanken nach mir rufst?

Konnte sie das wirklich? Würde er ihr antworten, wenn sie es tat?

Wenn du mich brauchst, ruf nach mir, Tamara. Ich werde zu dir kommen.

Es war dem Mann gelungen, ihre Jeans aufzuknöpfen. Der Reißverschluss stand offen. Er erhob sich leicht von ihr und nahm seine dreckige, widerwärtige Hand fort, um sich an seinem eigenen Hosenschlitz zu schaffen zu machen. Sie schloss ganz fest die Augen und versuchte verständliche Gedanken zu formen.

Hilf mir, Eric. Bitte, wenn es dir mit deinen Worten ernst war, dann hilf mir.

Beim Geräusch des nach unten ratschenden Reißverschlusses war ihr, als dringe der gellende Schrei ihres Geistes buchstäblich durch Zeit und Raum. Es war ein erschreckendes Gefühl, wenn auch nicht ungewohnt. Sie hatte es schon früher … in ihren Träumen. Die Dringlichkeit ihrer Gedanken durchbohrte ihren Verstand mit gebündeltem Schmerz.

Ich brauche dich, Eric! Um Himmels willen, hilf mir!

Eric hielt mit dem Schütteln der Flüssigkeit in dem Teströhrchen inne und legte den Kopf zu einer Seite. Er runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf und fuhr mit seinem Werk fort.

„Also, was ist das für Hokuspokus?“

Er sah Roland mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Ich versuche, jenen Bestandteil des menschlichen Blutes zu isolieren, der uns am Leben hält.“

„Und was tust du, wenn dir das gelungen ist? Ihn zu einer winzigen Pille verarbeiten und erwarten, dass wir uns davon ernähren?“

„Das wäre zumindest bequemer, als Blutbanken auszurauben, mein Freund.“ Er lächelte; gleichwohl, das Lächeln verschwand fast sofort wieder. Sein Kopf schoss hoch. Das Glasröhrchen fiel zu Boden und zerbrach.

Roland zuckte überrascht zusammen. „Was ist los, Eric?“

„Tamara.“ Während er den Raum durchquerte, streifte er die Gummihandschuhe von seinen Händen. Der weiße Kittel folgte. Dann hastete er durch die Gänge des riesigen Hauses; er verharrte bloß, um auf dem Weg nach draußen seinen Mantel vom Haken zu nehmen. Als er beim Tor anlangte, bewegte er sich in einer übernatürlichen Geschwindigkeit, die seine Gestalt für das menschliche Auge zu nichts weiter als einem undeutlichen Schemen werden ließ.

Er machte sich das Tempo und den Schwung zunutze, um das Hindernis ohne Schwierigkeiten zu überwinden, und spürte Roland neben sich. Er richtete seine Gedanken auf Tamaras aus und fühlte einen Ansturm Übelkeit erregender Furcht und eisiger Kälte.

Minuten. Es dauerte bloß Minuten, um zu ihr zu gelangen, doch Eric kam es vor wie Stunden. Einen Lidschlag lang stand er unbeweglich da, als er sah, wie der Mistkerl sie auf den Rücken drehte und versuchte, ihr die Jeans über die Hüften zu ziehen, während er seinen Mund auf ihren presste, und unbändiger Zorn stieg in ihm auf.

Tamara hatte die Augen fest geschlossen; sie drehte ihr Gesicht weg und schluchzte seinen Namen. „Eric … oh Gott, Eric, bitte …“

Eric packte den Hemdkragen des Schurken und riss ihn von ihr weg, um ihn in hohem Bogen in den Schnee zu befördern. Er beugte sich über den benommenen Mann, zog ihn an seinem Hemd ein Stückchen nach oben und donnerte ihm die geballte Rechte ins Gesicht. Er holte erneut aus und verpasste ihm einen weiteren Hieb, und er hätte damit weitergemacht, wäre die mörderische Wut, die ihn erfüllte, nicht von einem leisen Schrei Tamaras durchdrungen worden. Er drehte sich um, sah sie im Schnee liegen und ließ den bewusstlosen Mann mit dem blutigen Gesicht achtlos zu Boden fallen.

Er ging zu ihr, sank auf die Knie und zog ihren zitternden Körper in seine Arme. Eric hob sie ein wenig hoch, umarmte sie, wiegte sie. „Es ist vorbei. Ich bin hier. Er kann dir nichts mehr tun.“ Er drückte sein Gesicht in ihr Haar und schloss die Augen. „Er kann dir nicht wehtun. Das kann niemand. Ich lasse das nicht zu.“

Sie atmete langsam und zitternd ein, dann noch einmal und noch einmal. Mit einem Mal schlang sie die Arme um seinen Hals. Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge und schluchzte – heftige, quälende Schluchzer, von denen er annahm, sie würden Tamara entzweireißen. Sie klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsanker, und er drückte sie an sich. Eine ganze Weile hielt er sie einfach fest und ließ sie weinen. Er flüsterte tröstende, beruhigende Worte in ihr Haar. Es war jetzt vorüber. Sie war in Sicherheit.

Mit einem gequälten, verkrampften Schluchzen hob sie den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. Ihre vor Staunen geweiteten Augen quollen schier vor Tränen über. „Du bist zu mir gekommen. Du bist wirklich zu mir gekommen. Ich habe dich gerufen …“

Er kämpfte gegen die Tränen an, die seine Sicht zu trüben drohten, und strich das zersauste Haar aus ihrem Antlitz. „Ich konnte nicht anders. Und du solltest nicht so überrascht darüber sein. Ich habe dir gesagt, dass ich kommen würde, nicht wahr?“

Sie nickte.

„Ich würde dich nie belügen. Das habe ich nie getan, und ich schwöre dir jetzt und hier, dass ich das auch künftig niemals tun werde.“ Er betrachtete sie in dem Wissen, dass sie ihm Glauben schenkte. Ihre Bluse war zerrissen und hing in Fetzen von einer ihrer Schultern herab. Der Reißverschluss ihrer Jeans stand weit offen. Sie war nass vom Schnee und zitterte sowohl vor Kälte als auch als Reaktion auf die Ereignisse, daran hegte er keinerlei Zweifel.

Er trug sie die Böschung hinauf zur Fahrbahn. Roland, der die ganze Zeit über auf der Straße gewesen war, ging um das Fahrzeug herum, und Eric sah den Reifen auf der Straße liegen. Roland hielt den Wagenheber nebst Handgriff in den Händen und warf beides in den offenen Kofferraum.

Als Eric das Auto erreichte, blickte er erneut auf Tamara herab. Noch immer klammerte sie sich fest an ihn. „Bist du verletzt? Kannst du stehen?“

Sie hob ihren Kopf von seiner Schulter. „Ich bin in Ordnung, außer dass mir ein bisschen zittrig zumute ist.“

Vorsichtig ließ Eric sie auf die Fahrbahn sinken und öffnete die Beifahrertür des Wagens. Er stützte sie an der Schulter, als sie einstieg. Roland warf gerade den platten Reifen in den Kofferraum und schlug die Klappe zu. „Wo sind die anderen?“, rief Eric zu ihm hinüber.

Roland antwortete im Geiste, ohne die Worte auszusprechen. Die sind gerannt wie die Karnickel, mein Freund.

Du hast sie einfach so gehen lassen? Du hättest sie dafür verprügeln sollen, Roland, antwortete Eric lautlos und verfiel unbewusst in seine alte Angewohnheit, auf diese Art und Weise mit seinem Freund zu sprechen.

Was ist mit dem Angreifer? Hast du ihn umgebracht?

Noch nicht. Erics Wut kehrte zurück, als er daran dachte, dass es dem Mistkerl beinahe gelungen wäre, Tamara zu vergewaltigen. Aber ich habe die Absicht, es zu tun, und dann nehme ich mir diese armseligen Hundesöhne zur Brust, die ihm dabei geholfen haben.

Du bist kein Mörder, Eric. Und die anderen beiden waren kaum mehr als Jungs. Lass die Angelegenheit auf sich beruhen. Das wird das Beste sein.

Tamara erhob sich von ihrem Sitz im Wagen, und Eric fiel auf, dass er den Verschlag nicht geschlossen hatte. Ihre Hand kam auf seiner Schulter zu liegen, und überraschend ruhig sagte sie: „Roland hat recht, Eric. Das waren bloß Kinder. Wenn sie sehen, was du mit ihrem Kumpel angestellt hast, werden sie begreifen, welches Glück sie heute Nacht hatten. Und wir beide wissen, dass du nicht einfach zurückgehen und den Mann kaltblütig ermorden kannst. Das ist nicht deine Art.“

Beide Männer sahen sie an, und Rolands Blick drückte Erstaunen aus. Er hob die Augenbrauen und sprach laut: „Ich schätze, daran werde ich mich erst gewöhnen müssen. Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass ein Mensch meine Gedanken hören kann. Obwohl ich annehme, dass das bloß dann möglich ist, wenn ich mich mit dir unterhalte, Eric. Sie hört, was du hörst.“

Eric nickte. Er ließ den Mantel von seinen Schultern gleiten und legte ihn wie eine Decke um sie. „Sie hört, was ich höre“, wiederholte er. „Sie kann fühlen, was ich fühle, wenn sie sich nur ausreichend darauf konzentriert. Sie kann meine Gedanken und meine Gefühle lesen. Ich kann nichts vor ihr verheimlichen.“

Er sprach mit Roland, doch seine Worte waren für Tamaras Ohren bestimmt. Er sehnte sich danach, ihr Vertrauen zu besitzen. „Ich werde sie nach Hause fahren. Lust, mitzukommen?“

Roland trat einen Schritt von dem Fahrzeug zurück, als fürchtete er, es könne ihn beißen. „Da drin?“

Tamara lächelte. Ihr Blick wanderte zu Eric, und auch er lächelte. Mit ihr würde alles wieder in Ordnung kommen.

„Es freut mich, dass ihr beide meine Abneigung gegen diese Maschinen so amüsant findet. Ich ziehe es jedoch vor, aus eigener Kraft zu reisen, vielen Dank auch.“ Mit einem dramatischen Wirbeln seines schwarzen Umhangs verschwand er in der Dunkelheit.

Eric schloss Tamaras Tür, ging um das Auto herum und stieg neben ihr ein. Einen Moment lang schaute er sie einfach bloß an und nahm die vertraute Schönheit ihres Gesichts in sich auf. Ihre Augen wanderten derweil gleichermaßen über sein Antlitz, als hätte sie sich nicht minder nach ihm gesehnt.

Er riss seinen Blick von ihr los und betrachtete das Armaturenbrett. „Ist schon eine Weile her“, erklärte er ihr stirnrunzelnd. „Aber ich schätze, man braucht noch immer einen Zündschlüssel.“

Ihr Lächeln ließ wohlige Wärme durch ihn branden. Sie sah sich um und deutete auf den Rücksitz. „Er ist in meiner Handtasche.“

Er folgte ihrer Geste mit den Augen und entdeckte ihre Handtasche, deren kompletter Inhalt über den Rücksitz verteilt war. Er beugte sich vor, fischte die Schlüssel aus dem Durcheinander und nahm wieder Platz. Es dauerte einen Moment, bis er das Zündschloss fand. Beim letzten Mal, als er ein Auto gefahren hatte, befand sich die Zündung auf dem Armaturenbrett, nicht neben dem Lenkrad.

Er steckte den Schlüssel hinein, drehte ihn und zuckte bei den Lauten zusammen, die das Fahrzeug von sich gab. Sie lachte laut auf, und das Geräusch war wie Musik in seinen Ohren. Er spürte, wie ihre Anspannung mit diesem Lachen nachließ.

„Wie lange ist es schon her?“, fragte sie ihn mit amüsierter Stimme.

Lächelnd schaute er sie an. „Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Aber keine Angst, ich lerne schnell. Also, dann …“ Seine Füße vollführten einen kleinen Stepptanz auf dem Bodenblech. „Wo ist die Kupplung?“

„Der Wagen hat eine Automatikschaltung.“ Sie glitt über den Sitz näher zu ihm und deutete auf die Pedale auf dem Boden. „Das ist die Bremse, und dort ist das Gaspedal. Tritt jetzt auf die Bremse.“

Eric legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie näher zu sich. Er stellte seinen Fuß auf das Pedal, das sie ihm gezeigt hatte. Sie legte ihren Finger auf die Anzeige. „Schau her: Parken, Rückwärts, Neutral, Fahren. Stell den Hebel auf Fahren.“ Er tat wie geheißen, sog den Duft ihres Haars ein und wandte den Kopf, als sich der Wagen in Bewegung setzte.

Er lenkte das Auto auf die Straße und fuhr langsam, bis er ein Gefühl für das Fahrzeug entwickelt hatte. Schon bald steuerte er den Wagen ohne Probleme, fand die richtige Auffahrt und brachte sie auf den Highway.

„Du sagtest, dass du mich niemals belügen würdest“, sagte sie leise und lehnte sich dicht an ihn. „Stimmt das?“

„Ich könnte versuchen, dich anzulügen, aber wenn ich das täte und du auf der Hut bist, würdest du es merken.“ Er nahm sie fester in den Arm. „Ich habe allerdings gar keinen Grund, dich zu belügen, Tamara. Niemals.“

Sie nickte. „Ich will noch nicht nach Hause. Können wir vielleicht irgendwo anhalten? Um uns eine Weile miteinander zu unterhalten?“