Keith
12. KAPITEL
Zu rasch vorüber, dachte sie, als ihr bewusst wurde, dass das Morgengrauen nicht mehr fern war. Sie betrachtete sein Profil, als er neben ihr lag, und wieder kam ihr in den Sinn, dass sie noch nie einem so gut aussehenden Mann begegnet war. Kein Bartschatten war auf seinem Kinn zu entdecken. Tatsächlich waren seine Wangen genauso glatt wie zuvor.
Er fing ihren Blick auf und lächelte. „Ich werde dich bald verlassen müssen“, sagte er und fasste ihre Gedanken damit in Worte.
Sie kuschelte sich näher an ihn und wünschte, er müsse nicht fort. „Wohin gehst du? Schläfst du in … in einem Sarg?“
Er nickte, setzte sich ein Stück auf und griff nach seinem Hemd. „Stößt dich diese Vorstellung ab?“
„Nichts an dir könnte mich jemals abstoßen, Eric.“ Sie richtete sich ebenfalls auf, als er seine muskulösen Arme in die weißen Ärmel schob. Sie stieß seine Hände beiseite, als er sein Hemd zuzuknöpfen begann, und beugte sich vor, um es selbst zu tun. „Obwohl ich nicht glaube, dass es mir gefallen würde, dich darin liegen zu sehen. Warum überhaupt ein Sarg? Ist das so eine Art Vampirtradition? Warum, um Himmels willen, kein Bett?“
Er warf lachend den Kopf zurück. Tamara fiel auf, dass ihr Blick auf den Muskeln an seinem Hals ruhte. Sie beugte sich noch weiter vor und drückte ihre Lippen darauf. Er streichelte ihr Haar. „Zum Schutz. Es gibt mehr Menschen, die um unsere Existenz wissen, als du annehmen würdest. Die meisten täten nichts lieber, als uns zu vernichten. Wir könnten vermutlich in Tresorräumen oder hinter verschlossenen Türen schlafen, schätze ich. Doch nichts bietet uns so viel Schutz wie ein Sarg mit Schlössern an der Innenseite und einer Falltür darunter.“
„Eine Falltür?“ Sie schloss den letzten Knopf und schaute interessiert auf. „Bist du bei Bedarf denn genügend bei Bewusstsein, um sie zu benutzen?“
„Der Geruch drohender Gefahr würde mich selbst aus dem tiefsten Schlummer aufschrecken lassen. Und wenn das geschieht, brauche ich lediglich einen einzigen Finger zu bewegen, musst du wissen. Der Knopf befindet sich da, wo meine Hand liegt. Wenn ich ihn betätige, schwingt die eingehängte Matratze nach unten, und ich falle in eine verborgene Kammer hinunter. Dann schnappt der Sargboden von allein in seine ursprüngliche Position zurück. Der einzige Nachteil dabei sind ein paar blaue Flecke durch den Sturz.“
„Dann empfindest du Schmerz?“
„Nicht wenn ich dich festhalte.“ Während er sprach, zog er sie in seine Arme. „Aber das war es nicht, was du wissen wolltest, nicht wahr? Um ehrlich zu sein, spüre ich alles viel intensiver, als es ein Mensch täte. Hitze, Kälte, Schmerz …“ Seine Finger tanzten über ihren Nacken.
„Vergnügen“, flüsterte er nah an ihrem Ohr. „Schmerz kann mich kampfunfähig machen, aber ganz gleich, was für Wunden ich erleiden mag, sie heilen, während ich schlafe. Es ist eine Art Regenerationsschlaf, weißt du?“ Seine Lippen glitten über ihre Schläfe. Er küsste ihre Augenlider, ihre Wangen und dann voller Hingabe ihren Mund. „Ich glaube, nach dieser Nacht kann ich derlei gut gebrauchen.“
Über seinen kleinen Scherz lächelte sie, doch ihr Lächeln verflog, als sie bemerkte, dass der Himmel vor dem Fenster heller zu werden begann. Sie sah ihm in seine schwerer werdenden Augen und spürte seine zunehmende Müdigkeit. „Du musst dich ausruhen.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung, griff nach ihren Kleidern und reichte ihm die seinen. „Beeil dich, es wird gleich hell.“
„Zu früh“, gestand er. Trotzdem nahm er ihr seine Hose ab und glitt aus dem Bett, um sie sich anzuziehen. „Der Gedanke, dass du heute zu St. Claire zurückkehrst, missfällt mir nach wie vor.“
„Ich weiß.“ Sie schloss ihre Jeans und ging um das Bett herum, um neben ihm zu stehen. „Aber ich muss es tun. Und ich liebe dich umso mehr, weil du nicht versuchst, mir zu sagen, was ich tun soll. Mir ist bewusst, dass du keine sonderlich hohe Meinung von Daniel hast, aber genauso, wie er in Bezug auf dich falschliegt, täuschst du dich in ihm, Eric. Er ist keineswegs durch und durch böse.“
In der Ferne begann sich der Himmel von Grau zu Pink zu verfärben. Erics Schultern sanken herab. Er trug sein Kinn nicht mehr so hoch wie zuvor. Sie schlang einen Arm um seine Taille, und er legte einen über ihre Schultern. Nun spürte auch sie einen Anflug von Müdigkeit. Seite an Seite stiegen sie die Treppe hinab, und viel zu schnell standen sie sich in der offenen Haustür gegenüber, wo Eric sie ein letztes Mal küsste.
Tamara kämpfte gegen die Müdigkeit an, als sie zurück nach Hause fuhr. Sie hoffte, vielleicht eine oder zwei Stunden schlafen zu können, ehe sie gezwungen war, wach zu werden und zur Arbeit zu gehen. Sie hatte sich entschieden zu kündigen.
Jetzt, da sie wusste, dass das DPI die ständigen Schikanen gegen Eric über Jahre hinweg unterstützt hatte, konnte sie unmöglich länger für die Abteilung arbeiten. Darüber hinaus war das Ganze nun offensichtlich ein Interessenskonflikt. Sie hatte sich in die Zielperson der am längsten andauernden Ermittlung verliebt.
Sie schloss die Haustür auf und hielt den Atem an. Daniel lag vollständig bekleidet auf dem Sofa. Ein Arm und ein Bein baumelten herab. Eine Decke war über ihn gebreitet, doch er hatte sich lediglich darin verheddert. Sein Haar erweckte den Anschein, als wäre er draußen in einem wütenden Sturm herumspaziert. Als sie sich ihm näherte, gewahrte sie den Geruch von abgestandenem Alkohol und die leere Whiskeyflasche auf dem Boden.
„Na, hast du am Ende doch noch den Heimweg gefunden?“
Sie hielt die Luft an und sah rasch auf. Curtis lehnte mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Rahmen der Tür, die in das riesige Esszimmer führte. „Was machst du hier, Curtis?“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Wanduhr. Es war erst Viertel vor sechs.
„Du warst die ganze Nacht mit ihm zusammen, nicht wahr?“
Da war etwas in seinen Augen, eine gewisse Kälte in seiner Stimme, das ihr Angst machte. „Ich bin erwachsen, Curtis. Was ich mache, ist meine Sache.“
Er richtete sich auf, durchquerte den Raum und knallte die Tasse auf den Tisch. „Begreifst du nicht, wie pervers das ist? Er ist ein gottverfluchtes Tier! Und du bist keinen Deut besser – du benimmst dich wie eine läufige Hündin. Lieber Himmel, Tammy, wenn du es so nötig hattest, hättest du bloß zu fragen brauchen …“
Mit zwei großen Schritten war sie bei ihm und schlug ihm mit der Hand so fest ins Gesicht, dass es ihn zurückwarf. „Raus hier!“
„Ich denke nicht dran.“ Er schaute sie an, und sie sah blanken Hass in seinen Augen. Wie hatte sie diesen Mann jemals als echten Freund betrachten können? Dann blinzelte er, und sein Tonfall veränderte sich. „Du stehst unter einer Art Bann, Tammy.“
„Was ist letzte Nacht hier vorgefallen?“ Sie trat einen Schritt beiseite und ging an ihm vorbei durchs Esszimmer, in dem Wissen, dass er ihr folgen würde. In der Küche schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein, gab Zucker dazu und hoffte, dass der Kaffee ihr einen Energieschub verschaffen würde.
„Wonach sieht’s denn aus? Daniel hat sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken.“ Mit der Tasse in der Hand drehte sie sich um und sah ihn missbilligend an. Curtis fuhr fort: „Er rief mich gegen Mitternacht an und brabbelte etwas über dich und Marquand. Das meiste davon ergab für mich keinen rechten Sinn. Bis ich hier war, hatte er die ganze Flasche geleert. Er lallte irgendetwas davon, die Nachforschungen einzustellen, weil er dich sonst für immer verlieren würde. Ist das dein Plan, Tam? Du erpresst einen Mann, der wie ein Vater zu dir war, mit seinen Gefühlen für dich? Zwingst ihn dazu, vierzig Jahre Arbeit aufzugeben, nur damit du deine abartige Affäre haben kannst?“
Seine Bemerkungen weckten keinen Zorn in ihr. Nur Freude. „Er hat gesagt, dass er seine Forschungen einstellen wird?“
Erneut war Curtis’ Blick voller Abscheu. „Er war zu betrunken, um zu wissen, was er sagte. Aber ich sage dir eins, Tam. Ich habe nicht die Absicht aufzuhören. Daniel hat mich alles gelehrt, was er weiß. Wenn er sich also tatsächlich entschließt, das Handtuch zu werfen, werde ich seine Arbeit einfach fortführen. Mich wirst du nicht so manipulieren wie ihn.“
Sie öffnete den Mund, um ihm eine gepfefferte Erwiderung an den Kopf zu werfen; dann sah sie Daniel einen Augenblick schwankend hinter Curtis stehen, ehe er in die Küche kam.
„Du wirst tun, was ich dir sage, Curtis. Ich habe dich beim DPI so weit nach oben gebracht, und genauso leicht kann ich dafür sorgen, dass man dich feuert.“ Daniel schaffte es zum Küchenstuhl und stützte sich mit gesenktem Kopf einen Moment lang auf die Rückenlehne, bevor er den Stuhl hervorzog und Platz nahm.
„Daniel, bist du in Ordnung?“ Tamara drehte sich um, goss eine Tasse Kaffee ein und stellte sie vor ihn hin. „Kann ich dir irgendetwas holen?“
Er sah sie eine ganze Weile an, als würde er nach etwas suchen. Schließlich schüttelte er den Kopf und starrte in seine Kaffeetasse.
„Ich schulde es ihr, Curtis. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir lassen die Sache fallen.“
„Du fällst auf ihre Spielchen rein? Gezielt, getroffen, versenkt oder wie?“ Curtis ging unruhig im Raum auf und ab, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Begreifst du nicht, dass sie dich verraten hat? Sie ist zum Feind übergelaufen, Daniel. Sie ist diejenige, die wir die ganze Zeit über hätten beobachten sollen. Ich habe dir immer gesagt, dass sie mehr Vampir als Mensch ist!“
„Was soll das heißen?“ Tamara stellte ihren Kaffee ab und verschüttete dabei die Hälfte.
„Willst du mir allen Ernstes weismachen, dass du es noch immer nicht weißt?“
„Dass ich was nicht weiß?“
Daniel mühte sich auf die Beine und massierte mit einer Hand seine Stirn. „Es reicht, Curtis. Ich glaube, du solltest jetzt gehen. Tamara und ich müssen uns unterhalten.“
Curtis sah Tamara mit zusammengekniffenen Augen an. „Denk an meine Worte, Tammy. Wenn du diese kranke Liaison nicht beendest, wird uns das allesamt ins Grab bringen. Mein Blut wird an deinen Händen kleben.“
Er nickte in Daniels Richtung. „Und seins. Denk daran, dass ich dich gewarnt habe.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Eine Sekunde später fiel die Eingangstür so heftig zu, dass die Fenster klirrten.
Daniel nahm von Neuem Platz und schüttelte den Kopf. „Er wird darüber hinwegkommen, Tam. Gib ihm ein bisschen Zeit.“
Sie setzte sich ihm gegenüber und legte ihre Hand auf seine. „Er irrt sich, Daniel. Eric ist der sanftmütigste Mann, den ich je kennengelernt habe. Ich möchte“, sie atmete tief ein und sprach weiter, „ich möchte, dass du dich mit ihm triffst. Mit ihm redest. Ich will, dass du siehst, dass er nicht das ist, wofür du ihn hältst.“
Er nickte. „Ich dachte mir schon, dass du mir diesen Vorschlag unterbreiten würdest, und ich schätze, ich sollte es tun. Es macht mir nichts aus, dir zu sagen, dass ich Angst vor ihm habe, Tam. Obgleich der Wissenschaftler in mir das Ganze sehr aufregend findet. So nah heranzukommen …“
Wieder nickte er und fuhr fort: „Der Großteil in mir weiß, dass das unvermeidlich ist. Ich werde mein Bestes tun, um Frieden mit ihm zu schließen, Tam. Ich habe mir die Angelegenheit eine Million Mal durch den Kopf gehen lassen, die ganze Nacht lang. Es läuft alles auf das eine hinaus.“ Er streckte die Hand aus und hielt ihr Gesicht darin. „Ich will dich nicht verlieren.“
Langsam schloss er die Augen. „Dich in mein Haus zu holen, in mein Leben, hat alles für mich geändert, Tamara. Davor war ich …“ Er öffnete die Augen, und sie war überrascht, Tränen darin zu sehen. Er schüttelte den Kopf.
„Sprich weiter. Was warst du?“
„Ein anderer Mann. Ein Mistkerl, Tamara. Ein größeres Monster, als Marquand es je sein könnte. Und das tut mir leid … mehr leid, als du jemals begreifen wirst.“
Tamara schüttelte den Kopf, nicht sicher, was sie darauf erwidern sollte. Sie hatte das Gefühl, dass dies der ehrlichste Moment war, den sie jemals miteinander geteilt hatten.
Sie trank ihren Kaffee aus und ging ins Bett. Daniel weckte sie nicht. Stattdessen wurde sie vom Läuten des Telefons aus dem Schlaf gerissen und war schockiert, als sie auf den Wecker schaute und sah, wie spät es war. Sie griff nach dem Telefon, als es von Neuem zu schrillen begann, und fragte sich, warum Daniel nicht selbst an den Apparat ging.
„Tam?“
Als sie die vertraute Stimme hörte, schwand ihre Verwirrung. „Jamey?“ Sie runzelte die Stirn und schaute erneut auf die Uhr. „Warum bist du nicht in der Schule?“
„Ich bin abgehauen. Tam …“ Er seufzte, und es hörte sich zittrig an.
Tamara setzte sich im Bett auf.
„Irgendwas stimmt nicht.“
„Bist du krank?“ Ihre losheulenden Alarmsirenen verbannten ihre Benommenheit schlagartig in die hinterste Ecke ihres Kopfes. „Hast du dich verletzt oder so etwas? Soll ich deine Mom anrufen?“
„Nein. Es ist nichts dergleichen, es ist etwas anderes.“ Ein weiterer zittriger Seufzer. „Ich bin mir nicht sicher, was es ist.“
„In Ordnung, Jamey, beruhige dich. Sag mir einfach, wo du bist und …“
„Ich habe mir ein Taxi genommen. Ich bin in einer Telefonzelle in Byram. Ich will nicht zu dem Haus kommen.“
Zumindest das war wie gewöhnlich. Das weitläufige viktorianische Anwesen hatte Jamey seit jeher eine Gänsehaut verursacht. „Ich bin in zehn Minuten da.“
„Beeil dich, Tam, oder es ist zu spät.“
Lähmende Furcht ließ ihre Stimme leiser werden. „Zu spät für was, Jamey?“
„Ich weiß es nicht! Beeil dich einfach, okay?“
„Okay.“ Sie legte den Hörer mit zitternden Händen auf. Irgendetwas lag hier ganz fürchterlich im Argen. Sie hatte das Entsetzen in Jameys Stimme gehört. Und doch war da neben der Sorge um den Jungen, die ihr schier den Magen umdrehte, auch ein Funken Zorn in ihr. Wer auch immer dafür verantwortlich war, Jamey derart zu ängstigen, würde ihr gegenüber Rechenschaft ablegen müssen.
Sie schlüpfte eilig in Jeans und ein Sweatshirt. Sie streifte Socken, Turnschuhe und dann eine Jacke über. Sie nahm die Bürste aus ihrer Handtasche und fuhr sich damit auf dem Weg die Treppe hinab durchs Haar. Daniel kam gerade aus dem Keller herauf.
„Was ist los, Schatz?“
„Jamey. Wegen irgendetwas ist er vollkommen außer sich. Ich werde mich in der Stadt mit ihm treffen, ihm einen Burger spendieren und mit ihm darüber reden.“ Sie umarmte Daniel flüchtig, steckte ihre Haarbürste in die Tasche zurück und holte ihre Schlüssel hervor.
Fünf Minuten später sammelte sie Jamey ein. Er zerrte an der Beifahrertür ihres Käfers, bevor sie ganz zum Stehen gekommen war. Er stieg ein, blass und mit geweiteten Augen. „Ich glaube, ich drehe durch“, verkündete er.
Ihr erster Impuls bestand darin, ihm zu sagen, dass das Unsinn sei; allerdings hatte sie sich erst vor Kurzem noch genauso gefühlt – zu häufig, um seine Ängste auf die leichte Schulter zu nehmen. „Das habe ich auch schon das eine oder andere Mal gedacht, Kumpel.“ Sie nahm sein Gesicht näher in Augenschein. Mit elf Jahren war er viel zu jung, um sich mit derlei ernsten Problemen herumschlagen zu müssen. „Erzähl mir davon.“
„Weißt du noch, dass ich dich gefragt hatte, ob du jemanden kennst, der Eric heißt?“ Sie versteifte sich, nickte aber. „Tja, dann hoffe ich, dass du weißt, wo er wohnt. Wir müssen zu ihm.“
Sie widersprach Jamey nicht. Sie setzte den Wagen in Bewegung und fuhr rasch die Straße entlang. „Weißt du, warum?“
Jamey schloss seine Augen und rieb sich über die Stirn, als täte sie ihm weh. „Ich glaube, dass jemand vorhat, ihn umzubringen.“
„Mein Gott.“ Sie trat das Gaspedal bis zum Boden durch und schaltete höher.
„Es spukt in meinem Kopf herum, seit ich das Telefon aufgelegt habe. Ich werde keine Ruhe davor haben, wenn wir nicht dorthin gehen – aber das ergibt keinen Sinn.“
„Warum?“
„Weil … ich das Gefühl habe, dass er längst tot ist.“
Sie holte alles aus dem Käfer heraus, was ihr möglich war, und der Wagen vibrierte vor Anstrengung. Trotzdem dauerte es zwanzig Minuten, bis sie das große Tor am Ende von Erics Auffahrt erreichten. Tamara schrie fast auf, als sie Curtis’ Auto entdeckte, und fuhr aufs Geratewohl auf den Seitenstreifen. Sie trat auf die Bremse, schaltete den Motor aus und riss den Verschlag auf. Sie rannte zum Tor; Jamey folgte ihr auf dem Fuße.
Das Tor war mit etwas Schwerem zertrümmert worden. Die hübschen filigranen Rankenmuster waren verbogen, einige sogar zerbrochen. Das Portal stand offen, und der elektronische Kasten im Inneren war zertrümmert worden; Bestandteile des Geräts lagen im Schnee verstreut. Eine einzelne Fußspur führte die Auffahrt hinauf zum Haus.
„Eric!“ Tamaras Schrei hallte in der Stille wider, als ihr plötzlich dämmerte, was hier gerade vorging. Eine kleine feste Hand packte die ihre und zog sie durch das Tor.
„Komm schon, Tam. Komm schon, beeil dich!“
Tamara kämpfte gegen die Tränen an, konnte jedoch nicht verhindern, dass sie weiter unkontrolliert über ihr Gesicht rannen. Sie gewahrte kaum, wo sie ihre Füße aufsetzte, als sie ungestüm loslief, nur geleitet von diesem festen Griff. Erics burgartiges Haus lag direkt vor ihnen, ein tränenverschwommener Berg grob behauener Steinquader. Innerhalb von Sekunden hatten sie die gähnend weit offen stehende Eingangstür erreicht.
Sie wischte sich über die Augen und trat hastig durch die Tür. Das Wohnzimmer sah aus, als hätte darin ein Wahnsinniger gewütet. Vielleicht war es ganz genau das, was hier geschehen war. Die kostbaren antiken Möbel lagen umgestürzt da; einige waren zertrümmert worden. Einem der Stühle fehlte ein Bein. Auf dem Parkettboden verteilten sich Vasenscherben. Schwere Tischchen mit Marmorplatten lagen herum wie gefällte Bäume.
Beinahe blind stolperte sie weiter, durchquerte das Esszimmer, wo ein Kandelaber durchs Fenster geworfen worden war, und betrat die Küche, wo jemand mehrere Schranktüren aus ihren Angeln gerissen hatte. Das Geräusch zersplitternden Glases drang an ihr Ohr, und sie wandte sich um, um eine Tür zu entdecken, die ihr vorher nicht aufgefallen war; sie stand weit offen, und dahinter war eine Treppe, die nur hinunter in den Keller führen konnte.
Die Geräusche kamen aus der Dunkelheit dort unten herauf, und eine Hand aus Eis würgte ihr die Luft ab. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich Erics Sarg befand, aber wenn sie eine Vermutung anstellen sollte, hätte sie auf den Keller getippt. Sie näherte sich der Tür.
Als sich mit einem Mal eine Hand auf ihre Schulter legte, zuckte sie so heftig zusammen, dass sie beinahe die Treppe hinuntergefallen wäre. Gleichwohl, Jameys andere Hand gab ihr Halt. „Ich rufe die Polizei“, sagte er leise zu ihr.
„Gut. Bleib bei der Haustür, und warte dort auf die Cops, okay?“
Er schaute zu ihr auf, ohne ihr jedoch zuzustimmen. Stattdessen verharrte er am oberen Ende der Treppe, als sie langsam die Stufen hinabstieg. Als ihre Füße kurz darauf auf eine andere Oberfläche traten, erkannte sie, dass sie unten angelangt war. Die Luft dräute vor Schwärze und dem durchdringenden Aroma verschütteten Weins. Glas zersplitterte, und sie zwang sich, in Richtung des Lärms zu gehen.
„Curtis!“ Sie schrie seinen Namen, und der Krach brach unvermittelt ab. Sie stand reglos da. „Hör auf damit, Curtis. Hör einfach auf damit – das ist Wahnsinn.“
Sie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Endlich gelang es ihr, seine Umrisse auszumachen, die zunehmend schärfer wurden. Er stand neben einem demolierten Weinregal, eine zweischneidige Axt in den Händen. Rings um ihn lagen zerbrochene Flaschen auf dem Boden verstreut. Er stand in einer Pfütze aus Wein. Die Holzbretter des Regals hingen in Trümmern.
„Verschwinde gefälligst von hier, Tammy. Das geht dich nichts an. Diese Sache betrifft bloß Marquand und mich!“ Wieder hob er die Axt.
Tamara stürzte auf Curtis zu und klammerte sich von hinten an seinen Schultern fest, um ihn davon abzuhalten, noch mehr Schaden anzurichten. Er ließ die Axt zu Boden fallen und griff nach hinten, um sie an den Haaren zu packen und nach vorn zu reißen. Sie strauchelte, fiel auf den weingetränkten Boden und mühte sich sogleich wieder auf die Füße.
Sie sah ihn an und keuchte, mehr aus Anstrengung, denn aus Furcht. „Die Polizei ist auf dem Weg hierher, Curtis. Wenn du nicht umgehend von hier verschwindest, landest du im Gefängnis.“
Er packte sie so schnell, dass sie keine Chance hatte, sich zu ducken. Er ergriff die Vorderseite ihres Mantels und hielt den Stoff in seinen Fäusten. Er wirbelte sie herum und schleuderte sie gegen die Überreste des Weinregals. Ihr Hinterkopf traf auf ein zerbrochenes Regalbrett, und rotglühender Schmerz durchtoste ihr Hirn. „Wo ist er, Tammy?“
Sie blinzelte und spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie drückte die Hände gegen die Wand hinter sich, um Halt zu finden, doch dann erstarrte sie. Unter ihrer Handfläche fühlte sie ein Scharnier. Dies war kein Weinregal, sondern eine Tür! Was, zum Teufel, wollte ein Vampir überhaupt mit Wein? Warum war ihr das nicht schon eher aufgefallen? Und wann würde Curtis dahinterkommen?
Sie atmete durch die Zähne ein. „Er ist nicht … hier.“
Sein Handrücken traf auf ihr Kinn, seine Fingerknöchel hart wie Felsen. „Ich habe gefragt, wo ist er? Du weißt verdammt genau, wo er steckt, und du wirst es mir verdammt noch mal sagen!“
Unwillkürlich entwich ihr ein Schluchzen. Brennende Tränen rannen über ihr Gesicht. Curtis ließ ihren Mantel los, jedoch nur, um sie an der Schulter zu packen. „Lieber Himmel, Tammy, ich habe nicht die Absicht, dir wehzutun. Aber du stehst unter seiner Kontrolle, verflucht. Du wirst nicht eher erkennen, was er wirklich ist, bis er nicht mehr unter uns weilt. Wenn ich es nicht tue, wird er uns alle umbringen.“
Sie starrte ihn unverwandt an und schüttelte den Kopf. „Du irrst dich!“
„Er ist noch nicht einmal menschlich“, erinnerte er sie.
„Er ist menschlicher, als du es je sein wirst!“
Curtis’ Hand glitt von Neuem in die Höhe, wurde jedoch von hinten festgehalten. „Lass sie in Ruhe!“, schrie Jamey.
„Was, zum Teufel …“ Curtis blickte hinter sich und schüttelte Jameys Griff ohne jede Schwierigkeit ab. Dann drehte er sich zu ihm um. „Du kleiner …“
„Curtis, nicht!“ Gleichwohl, bevor er den Jungen schlagen konnte, senkte Jamey den Kopf und rammte ihn wie einen Rammbock in Curtis’ Magen. In einem Wirrwarr von Armen, Beinen und zerbrochenen Flaschen gingen die beiden zu Boden. Tamara packte Curtis’ Arm und versuchte ihn fortzuziehen.
„Keine Bewegung!“ Ein grelles Licht schien die Treppe hinunter, und das Geräusch von Schritten drang in die Tiefe. Ein Polizist packte Tamaras Arm und zog sie weg, während ein anderer Beamter Curtis unsanft auf die Füße riss und sich dann über Jamey beugte. „Bist du in Ordnung, Junge?“
„Alles okay. Ich bin der, der Sie angerufen hat.“ Er deutete auf Curtis. „Er ist hier eingebrochen … mit dem hier.“ Er wies auf die am Boden liegende Axt.
Der Cop stieß einen Pfiff aus, half Jamey auf die Beine und drehte sich zu Curtis um. „Stimmt das?“ Er packte Curtis’ Arm und drängte ihn die Treppe hinauf, während der zweite Polizist Tamara und Jamey vor sich herschob. Am oberen Ende der Stiege angelangt, wo das Licht besser war, dirigierte der Beamte sie ins Wohnzimmer und stellte sich ihnen als Sumner vor.
„Wohnen Sie hier?“
„Nein. Ich … der Eigentümer ist momentan nicht in der Stadt, und ich gebe für ihn auf das Haus acht“, log sie kurzerhand. Jamey stand daneben und sagte kein Wort.
„Ich brauche seinen Namen und eine Telefonnummer, unter der ich ihn erreichen kann.“ Er zog den obligatorischen eselsohrigen Notizblock aus seiner Tasche.
„Er ist unterwegs“, sagte sie. „Aber er sollte heute Abend zurück sein.“
Der Beamte nickte und notierte sich Tamaras Namen, ihre Adresse und ihre Telefonnummer. Dann neigte er den Kopf und runzelte die Stirn, den Blick auf ihr Kinn gerichtet. „War er das?“
Tamaras Finger berührten die verletzte Stelle. Sie nickte und sah, wie Wut in den grünen Augen des Polizisten aufloderte.
„Ich muss Jamey nach Hause bringen und … mich beruhigen. Mir ist klar, dass Sie eine vollständige Aussage benötigen, aber wäre es vielleicht möglich, dass ich später vorbeikomme und sie dann mache?“
Er musterte ihr Gesicht und nickte. „Wollen Sie ihn wegen Körperverletzung anzeigen?“
„Muss er dann die Nacht im Gefängnis verbringen?“
Er zwinkerte ihr zu. „Darauf können Sie sich verlassen.“
„Dann tue ich das vermutlich.“ Der Polizist nickte, notierte sich Erics Namen und riet ihr, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Dann ging er hinüber ins Esszimmer und sprach mit seinem Partner. Kurz darauf wurde Curtis, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt, zur Haustür geführt.
„Das werden Sie bereuen“, wiederholte er immer wieder. „Ich bin Bundesagent!“
„Einer ohne Haftbefehl, was Sie in unseren Augen lediglich zu einem weiteren Einbruchs-, Körperverletzungs- und Vandalismusfall macht.“ Sumner belehrte ihn weiter über seine Rechte, als sie zur Tür hinaus- und die Auffahrt entlanggingen.
Jamey wirkte geschockt. Tamara ging zu ihm und strich mit einer Hand durch sein dunkles lockiges Haar. „Du hast verdammt viel Mumm, Bürschchen.“ Er blickte zu ihr auf, freilich ohne zu lächeln. Anerkennend fügte Tamara hinzu: „Es fällt mir schwer, das zuzugeben, Jamey, aber ich bin fürchterlich froh, dass du hier bist.“
Unter seinen tief liegenden Augen breitete sich ein kleines Lächeln aus. „Was geht hier vor? Warum, um alles in der Welt, will Curtis Eric umbringen?“
Sie sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. „Dafür gibt es jede Menge Gründe. Einer davon dürfte Eifersucht sein, genauso wie Angst. Curtis hat definitiv Angst vor Eric.“ Sie hatte nicht die Absicht, Jamey zu belügen.
Sie vermochte nicht zu sagen, warum, aber sie war überzeugt, dass er ein Teil von alldem war. „Eric ist anders – anders als alle anderen. Einige Menschen fürchten sich vor Dingen, die sie nicht verstehen. Manche würden lieber alles Andersartige zerstören, als sich damit vertraut zu machen.“
Er wirkte immer noch verwirrt. „Hast du schon einmal von den Salemer Hexenprozessen gehört?“ Er nickte. „Das hier ist im Grunde genau dasselbe.“
Jamey seufzte und schüttelte den Kopf. Dann beruhigte er sich, und seine Miene nahm jenen Ausdruck eines Erwachsenen an, der ihr verriet, dass er wie einer dachte. „Fürchte, was anders ist, vernichte, was dir Furcht einflößt.“
Sie seufzte, beeindruckt von der Weitsicht des Kindes. „Manchmal verblüffst du mich.“ Sie trat mit ihm aus der Tür und zog sie hinter sich zu. Sie stützte das Tor mit einem Stein ab, sodass es zumindest einigermaßen nach einem Hindernis aussah. „Meinst du, das genügt, bis ich zurückkomme?“
Jamey blickte sie stirnrunzelnd an. „Im Moment spuken keine weiteren komischen Gefühle in meinem Kopf herum, falls du das meinst.“ Zum ersten Mal lächelte er richtig.
„Weißt du, Jamey, da drinnen hast du mir vermutlich das Leben gerettet. Hättest du nicht die Polizei gerufen …“ Sie schüttelte den Kopf. „Und wahrscheinlich hast du auch Eric das Leben gerettet, ebenso wie seinem Freund Roland.“
Eine Hand an der Autotür, schaute er zum Haus zurück. „Sie sind da drin, nicht wahr?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Sie hätten uns geholfen, aber sie konnten nicht. Hätte Curtis sie gefunden, hätte er sie getötet.“
Er bat Tamara nicht darum, irgendetwas davon zu bestätigen oder abzustreiten. Er stieg einfach in den Wagen und schwieg, während sie ihn nach Hause fuhr.
Tamara erzählte Kathy in groben Zügen, was sich zugetragen hatte, versuchte jedoch, das Schlimmste zu beschönigen. Jamey hatte die Vision eines Einbruchs in das Haus eines Freundes gehabt. Er und Tamara kamen gerade noch rechtzeitig, um die Tat zu vereiteln.
Man hatte den Verdächtigen verhaftet, und die Welt war wieder in Ordnung. Tamara hielt die verletzte Seite ihres Gesichts abgewandt und entschuldigte sich dafür, dass sie keine Zeit hatte, auf ein Schwätzchen mit hereinzukommen. Obgleich ein wenig durcheinander, nahm Kathy Bryant ihre Geschichte, ohne nachzufragen, hin.
Es war kurz nach fünf Uhr am Nachmittag, als Tamara schließlich wieder bei Erics Eingangstor anlangte.