Keith

PROLOG

Sehnsüchte und Verehrungen,

geflügelte Überzeugungen und

verschleierte Schicksale,

Glanz und Schwermut und flimmernde Inkarnationen

von Hoffnung und Ängsten und Fantasien

in der Abenddämmerung;

und Bedauern, mit ihrer Familie der Seufzer,

und Vergnügen, blind vor Tränen,

geleitet vom Strahlen

ihres eigenen sterbenden Lächelns

statt dem der Augen,

kam in bedächtiger Pracht.

(Percy Bysshe Shelley)

20. März 1793

Der Kerzenstumpf schwankte auf dem kalten Steinfenstersims, und die Flamme warf eigenartige flackernde Schatten im Raum. Der Geruch des verbrennenden Kerzentalgs war alles andere als angenehm, aber immer noch besser als die anderen Gerüche, die ihn ansonsten umgaben. Feuchte, muffige Luft. Dicke grüne Pilze, die grob behauene Steinmauern überwucherten. Rattenkot. Schmutzige menschliche Körper.

Bis heute Abend war Eric mit dem Talg sparsam umgegangen, da er sich bewusst gewesen war, keinen weiteren mehr zu bekommen. Heute Abend gab es für derlei Zurückhaltung jedoch keinen Grund mehr. Am Morgen würde er der Guillotine überantwortet werden.

Eric verschloss die Augen vor den tanzenden Schatten, die ihn zu verspotten schienen, und zog die Knie näher an seinen Oberkörper. Am anderen Ende der Zelle hatte ein Mann einen fürchterlichen Hustenanfall. Etwas näher bei ihm stöhnte jemand auf und regte sich im Schlaf. Nur Eric saß in dieser Nacht wach. Zwar würden auch die anderen dem Tod gegenübertreten, aber nicht morgen.

Einmal mehr fragte er sich, ob sein Vater in den Stunden vor seinem Tod genauso gelitten hatte wie er. Und er grübelte darüber nach, ob seine Mutter und seine jüngere Schwester Jacqueline es über den Kanal in Sicherheit geschafft hatten? Er hatte die nach Blut lechzenden Bauern so lange aufgehalten, wie es ihm möglich gewesen war.

Falls die Frauen in Sicherheit waren, sah er das Opfer seines eigenen armseligen Lebens als angemessen an. Er war nie so wie die anderen Menschen gewesen; um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte man ihn stets für eigenartig gehalten. Soweit es ihn betraf, würde man ihn nicht vermissen. Die meiste Zeit seiner fünfunddreißig Jahre auf Erden war er für sich geblieben.

Sein Magen verkrampfte sich, sodass er sich vorbeugte und ein Stöhnen unterdrückte. Seit drei Tagen waren weder Essen noch Trinken über seine Lippen gekommen. Das Gesöff, das sie einem hier anboten, würde ihn schneller umbringen als der Hunger. Vielleicht würde er sogar sterben, bevor sie Gelegenheit dazu hatten, ihn einen Kopf kürzer zu machen. Der Gedanke daran, diesen Bastarden ihr barbarisches Vergnügen vorzuenthalten, zauberte die schmerzhafte Karikatur eines Lächelns auf seine ausgetrockneten Lippen.

Die Zellentür öffnete sich mit einem lauten Ächzen, doch Eric schaute nicht auf. Er hatte gelernt, dass es besser war, nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wenn die Wächter auf der Suche nach ein wenig Unterhaltung waren. Indes, es war keine bekannte Stimme, die er plötzlich vernahm; zudem war sie viel zu zivilisiert, um einem dieser ungebildeten Schweine zu gehören.

„Lasst uns allein! Ich rufe, wenn ich hier fertig bin!“

Der Tonfall war autoritär und verlangte Gehorsam. Die Tür fiel mit einem Krachen zu, aber Eric regte sich noch immer nicht.

Schritte kamen näher und hielten inne. „Komm schon, Marquand, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit!“

Er versuchte zu schlucken, aber seine Kehle war staubtrocken. Er hob langsam das Gesicht. Der Mann vor ihm lächelte und strich sich geistesabwesend über das aufwendig geknotete Seidenhalstuch. Das Kerzenlicht ließ sein schwarzes Haar glänzen wie Rabenfedern, doch seine Augen glommen noch um einiges dunkler. „Wer seid Ihr?“, brachte Eric mühsam hervor. Nach all den Tagen, in denen er weder gesprochen noch etwas getrunken hatte, ließen die Worte seine Kehle brennen.

„Mein Name ist Roland. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, Eric. Steh auf. Wir haben nicht viel Zeit!“

„Monsieur, falls das ein Scherz ist …“

„Ich versichere dir, dass es keiner ist.“ Der Mann packte Erics Oberarm und zog ihn mit einem Ruck, der ihn kaum Anstrengung zu kosten schien, auf die Beine.

„Ihr … Ihr kennt mich doch überhaupt nicht. Warum würde ein Fremder mir in meiner Lage helfen wollen? Ihr gingt damit ein viel zu großes Risiko für Euer eigen Leib und Leben ein. Zumal Ihr ohnehin nichts ausrichten könnt. Mein Urteil ist gefällt. Am Morgen sterbe ich. Behaltet Euren Kopf auf den Schultern, Freund. Geht jetzt.“

Der Mann, der sich Roland nannte, hörte Erics heiserer Rede zu und nickte dann langsam. „Ja, du bist ein Würdiger, nicht wahr? Spar deinen Atem, Junge. Ich kann sehen, dass es dir Schmerzen bereitet. Hör mir stattdessen lieber zu. Ich kenne dich. Ich kenne dich seit dem Moment, als du deinen ersten Atemzug tatest!“

Eric schnappte nach Luft und trat einen Schritt von dem Mann zurück. Ein Gefühl von Vertrautheit nagte an ihm. Ohne den Blick von Roland zu nehmen, tastete er nach der Kerze, ergriff sie und hielt sie in die Höhe. „Monsieur, was Ihr da sagt, ist unmöglich. Gewiss verwechselt Ihr mich mit jemandem.“ Er blinzelte im flackernden Licht, noch immer nicht imstande, den Mann mit seinen Erinnerungen in Einklang zu bringen.

Roland seufzte frustriert und hob die Hand, um nicht vom Kerzenschein geblendet zu werden. „Mann, nimm das Ding aus meinem Gesicht! Ich sage dir, dass ich gekommen bin, um dir zu helfen, und du verschwendest deine Zeit mit sinnlosen Debatten. Bis du so begierig darauf, dass dein Kopf in einem Weidenkorb landet?“

Eric nahm die Kerze herunter, und Roland senkte seine Hand, um ihn anzuschauen. „Als du vier Jahre alt warst, bist du in den Kanal gefallen. Du bist fast ertrunken, Eric. Erinnerst du dich nicht mehr an den Mann, der dich triefend aus dem kalten Wasser zog? Am Abend der Feier deines zehnten Geburtstags wurdest du um ein Haar von einer führerlosen Kutsche überrollt. Hast du keine Erinnerung mehr an den Mann, der dich damals vor den Hufen rettete?“

Die Wahrheit hinter den Worten des Mannes traf Eric wie ein Schlag, und er zuckte zusammen. Das Gesicht des Fremden war so weiß, dass es wie gepudert aussah, die Augen so schwarz, dass man nicht erkennen konnte, wo die Iris aufhörte und die Pupille begann – es war das Gesicht eines Mannes, der bei diesen beiden Zwischenfällen zugegen gewesen war, erkannte Eric jetzt, obwohl er wünschte, dieses Wissen verleugnen zu können. Irgendetwas an diesem Mann jagte ihm Angst ein.

„Eric Marquand, fürchte mich nicht! Ich bin dein Freund. Das musst du mir glauben.“

Der dunkle Blick durchbohrte Eric, als der Mann beinahe hypnotisierend auf ihn einsprach. Eric spürte, wie er sich entspannte. „Ich glaube Euch, und mein Dank ist Euch gewiss. Allerdings nützt mir ein Freund jetzt kaum etwas. Ich weiß noch nicht einmal, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ist draußen bereits die Dunkelheit hereingebrochen?“

„Das ist sie, Junge, sonst könnte ich nicht hier sein. Gleichwohl, meine Zeit ist knapp, denn der Sonnenaufgang ist nicht mehr fern. Es hat länger gedauert als erwartet, die Wärter zu bestechen, damit sie mich zu dir ließen. Wenn du leben willst, dann musst du mir vertrauen und tun, was ich dir sage, ohne Fragen zu stellen.“ Mit hochgezogener Augenbraue sah er Eric an und wartete auf eine Antwort.

Eric nickte nur; er war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Gut“, sagte Roland. „Dann nimm das Halstuch ab.“

Mit schweren Fingern machte sich Eric an dem zerrissenen, dreckigen Leinen zu schaffen. „Monsieur, sagt mir, was Ihr jetzt vorhabt.“

„Ich habe vor, zu verhindern, dass du sterben musst“, erwiderte der Fremde so selbstsicher, als hätte er dieses Wunder bereits vollbracht.

„Ich befürchte, dass niemand mein morgiges Verhängnis abwenden kann.“ Endlich löste Eric den Knoten und zog das Tuch von seinem Hals.

„Eric, du wirst nicht sterben. Weder morgen noch an einem anderen Tag. Komm her!“

Erics Füße schienen wie angewurzelt. Er hätte sich nicht bewegen können, selbst wenn er es gewollt hätte. Seine Augen weiteten sich, und er spürte, wie sich seine Kehle verengte.

„Ich weiß, dass du dich fürchtest, Junge, aber denk nach! Bin ich etwa furchterregender als die Guillotine?“, stieß der Mann laut hervor.

Eric stand da wie erstarrt und warf einen Blick in die Runde, aber keiner der anderen rührte sich. „Warum … warum wachen sie nicht auf?“

Roland trat vor und packte ihn an den Schultern.

„Ich verstehe es nicht. Warum wachen sie nicht auf?“, fragte Eric von Neuem.

Der Wärter hämmerte gegen die Tür. „Die Zeit ist um!“

„Noch fünf Minuten!“, dröhnte Rolands Stimme, und Eric war es, als würden seine Worte die Wände zum Erbeben bringen. „Es soll dein Schaden nicht sein, Bursche! Geh jetzt!“

Eric hörte den Wärter erst murren; dann vernahm er, wie sich seine Schritte von der Tür entfernten, als er rief: „Noch zwei Minuten. Nicht mehr!“

„Verflucht, Junge. Es muss getan werden! Verzeih, dass ich keinen Weg gefunden habe, es für dich weniger beängstigend zu machen!“ Mit diesen Worten zog Roland Eric mit übernatürlicher Stärke zu sich heran. Er drückte Erics Kopf mit der flachen Hand zurück, und als Eric sich zu befreien versuchte, sanken Rolands Zähne in seine Kehle.

Als Eric den Mund öffnete, um sein grenzenloses Entsetzen hinauszuschreien, drängte etwas Feuchtes gegen seine Lippen. Übelkeit überkam ihn, als ihm klar wurde, dass es ein Handgelenk war, aufgeschlitzt und pulsierend vor Blut. Roland presste seine aufgetrennte Vene gegen seinen Mund, und Eric hatte keine andere Wahl, als die abscheuliche Flüssigkeit zu schlucken, die seinen Rachen füllte.

Abscheulich? Nein. Eher warm und salzig. Bereits mit dem ersten Schluck kam die schockierende Erkenntnis, dass es ihn nach mehr verlangte. Was geschah mit ihm? Hatte er den Verstand verloren?

Ja! Er musste dem Wahnsinn verfallen sein, wenn er erlaubte, dass das Blut eines anderen Mannes seinen schmerzhaften Hunger, seinen endlosen Hunger, stillen würde. Er zuckte nicht einmal zusammen, als ein Wort wie ein kühler Hauch durch sein Gehirn brandete: Vampir. Angst erfüllte sein Herz, als Rolands Blut seinen Leib durchströmte.

Er spürte, wie er schwächer wurde und nach und nach in einem dunklen Abgrund versank, aus dem er nicht entkommen wollte. Dies war ein viel besserer Tod als der, der am Morgen auf ihn wartete! Das Blut lähmte ihn, und Roland trat zurück.

Eric konnte nicht länger aufrecht stehen. Er hatte das Gefühl, als sei sein Inneres mit einem Mal zur Gänze leer, und sank zu Boden. Er fühlte den Aufprall nicht. Sein Kopf schwebte irgendwo über ihm, und seine Haut prickelte wie von Millionen unsichtbarer Nadelstiche. „Wa…was habt Ihr mit mir ge…gemacht?“ Er musste sich die Worte abzwingen – ein dumpfes Genuschel, als wäre er betrunken. Seine Zunge schien ihm nicht mehr zu gehorchen.

„Schlaf, mein Sohn. Wenn du das nächste Mal erwachst, wirst du dieser Zelle auf ewig entronnen sein. Du hast mein Wort darauf. Jetzt schlaf!“

Eric kämpfte darum, die Augen offen zu halten, aber sie fielen dennoch zu. Vage spürte er, wie kalte Hände ihm sein schmutziges Halstuch wieder umlegten. Dann hörte er, wie Roland gegen die Tür hämmerte und nach dem Wärter rief.

„Ich fürchte, dass er nicht lange genug leben wird, um exekutiert zu werden.“ Rolands Stimme schien von sehr weit her zu kommen.

„Was redet Ihr da? Er war wohlauf …“

„Dann sieh selbst, Bursche! Siehst du, wie er dort liegt? Ich wette, er ist noch vor Sonnenaufgang tot. Ich schicke eine Kutsche, um den Leichnam abzuholen. Kümmere dich um die Angelegenheit.“

„Wenn der Preis stimmt, natürlich, Sir.“

„Hier. Und wenn du genau das tust, was ich dir sage, bekommst du noch mehr.“

„Gut, denn. Wenn er stirbt, wie Ihr gesagt habt, werde ich dafür Sorge tragen, dass er in die Kutsche kommt. Aber wenn nicht, kümmere ich mich darum, dass er seine Verabredung mit der Guillotine einhält. Ganz egal, was geschieht, für ihn kommt’s auf dasselbe raus, nicht wahr, Mister? Fressen für die Würmer, das ist er!“ Wüstes Gelächter erfüllte die Zelle; dann schlug die Tür mit lautem Krachen zu.