Keith

15. KAPITEL

Tamara spürte das Entsetzen wie einen körperlichen Hieb. Als sie die Tür der Bibliothek öffnete, hatte sie unwillkürlich aufgeschaut. Sie hatte Erics Gegenwart wahrgenommen wie eine magnetische Kraft, die ihren Blick in seine Richtung zwang. Dann sah sie ihn.

Er hatte sie kurz angeschaut, und sein Gesicht war mit etwas Rotem verschmiert gewesen. Sie hatte auch die scharlachroten Flecken auf seinen ansonsten blütenweißen Hemdmanschetten bemerkt, bevor er sich vom Fenster entfernte.

Sie ließ ihren verwirrten Blick nach unten schweifen, getrieben von einem inneren Drang, den sie sich nicht recht erklären konnte. Der Schrei ungezügelten Grauens stieg eigenmächtig in ihrem Halse auf, als sie die zunehmend größer werdende Blutlache unter Daniels Körper sah … und den gähnenden Spalt in seiner Kehle.

Ohne sich um das Blut zu scheren, warf sie sich zu Boden und bettete seinen schlaffen Kopf in ihren Schoß. Sie streichelte sein Gesicht, während Tränen ihre Sicht trübten und ihr Verstand taub wurde, außerstande, sich der Wirklichkeit zu stellen. Sie murmelte mit sanfter Stimme beruhigende Worte, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie eigentlich sagte. Langsam, aber stetig entglitt ihr die Kontrolle über ihren Verstand.

Curtis’ Hände packten sie hart an den Schultern und schüttelten sie. Er sprach in harschem, abgehacktem Ton mit ihr, doch sie weigerte sich, zu hören, was es war, oder es auch nur zur Kenntnis zu nehmen. „Ruf den Notarzt“, bat sie ihn mit der lallenden Stimme einer Betrunkenen. „Er ist verletzt, er braucht Hilfe. Ruf schnell den Notarzt.“

„Er ist tot, Tamara.“ Er ließ von ihr ab und versuchte stattdessen, Daniels Kopf aus ihren Armen zu lösen. Sie hielt ihn noch fester und schloss die Augen, als sich ihr Blickfeld wieder klärte – sie wollte es nicht sehen. „Er ist tot“, wiederholte Curtis laut.

Sie hielt ihre Augen geschlossen und schüttelte den Kopf. „Er ist bloß verletzt. Er braucht …“

Curtis’ Hände legten sich um ihr Gesicht und neigten es nach unten. „Sieh ihn dir an. Verflucht, mach deine Augen auf!“

Der zunehmende Druck ließ sie nachgeben, und ihr Blick fiel auf tote graue Haut, zusammengekniffene, bereits getrübte Augen und die gezackte Wunde in Daniels Halsschlagader. Sie schüttelte stumm den Kopf und versuchte, dies alles aus ihren Gedanken zu verbannen.

Langsam erschlaffte ihr Körper, und Curtis zog sie in dem Moment auf die Füße, als sich ihr Griff um Daniel lockerte. Sie rutschte aus und wäre beinahe gestürzt. Als sie hinabschaute, stellte sie fest, dass der Boden feucht von Blut war. Ihre Kleidung war davon durchnässt, ebenso wie Daniels Leichnam. Der Wahnsinn kroch näher, packte mit seinen knorrigen Klauen ihren Geist und drückte zu.

„Ich sagte dir, dass das dabei herauskommen würde.“

Sie blinzelte und schaute ihn an.

„Du hast es selbst gesehen, Tam. Es war Marquand. Als ich Daniel schreien hörte, habe ich die Tür eingetreten und konnte kaum glauben, was ich sah. Marquand war … er hat ihm das Blut ausgesaugt. Ich habe mich auf ihn gestürzt, aber er hatte bereits die Schlagader durchtrennt – hat sie einfach aufgerissen. Daniel ist verblutet, während ich mit Marquand kämpfte.“

Mit leerem Blick schaute sie erneut zum Fenster hinüber und erinnerte sich des kurzen Anblicks von Eric … an das Blut auf seinem Gesicht. Nein. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Im Geiste rief sie nach ihm, schloss die Augen und flehte darum, er möge ihr die Wahrheit sagen und Curtis’ Worte Lügen strafen. Gleichwohl, er antwortete nicht. Sein Schweigen ließ sie die Beherrschung verlieren, und während sie sich sonderbar losgelöst von sich selbst fühlte, verfolgte sie, wie eine blutüberströmte Frau, die aussah wie sie, dem Irrsinn anheimfiel.

Sie riss an ihrer Kleidung, kratzte mit blutigen Nägeln über ihr Gesicht, riss an ihren Haaren und schrie wie am Spieß. Curtis musste die Frau zweimal ohrfeigen, bevor sie, einem zitternden, schluchzenden Häufchen Elend gleich, auf dem Boden zusammensank.

Er verließ den Raum, nur um einen Moment später zurückzukehren und ihr irgendetwas zu injizieren. Die Umrisse des Raums verschwammen, und Stimmen hallten endlos nach. Sie musste die Augen schließen, weil sie wusste, dass sie sich andernfalls übergeben würde.

Als sie sie wieder öffnete, fiel der unverkennbare Schein der Frühmorgensonne durch ihr Fenster und auf ihr Bett. Ihr Kopf schmerzte, aber sie war sauber und trug ein weiches weißes Nachthemd. Ihr Gesicht tat weh, und ein Blick in den Spiegel offenbarte ihr einen weiteren dunkelblauen Fleck, abgesehen von dem, der sich bereits auf ihrem Kinn befand; dieser reichte hoch bis zu ihrem Wangenknochen.

Sie schüttelte den Kopf, ließ den Handspiegel auf den Nachttisch fallen und schlüpfte aus dem Bett. Der blaue Fleck rührte von Curtis’ Fingerknöcheln her, die brutal in ihrem Gesicht gelandet waren, als sie letzte Nacht außer sich geraten war. Gleichwohl, nichts davon war tatsächlich passiert, oder? Es war nicht wirklich geschehen …

Leise trat sie durch die Tür hinaus, huschte über den abgetretenen Teppich im Flur und dann die Treppe hinab. Die ganze Zeit über redete sie sich ein, dass alles bloß ein Albtraum gewesen war oder eine Wahnvorstellung. Sie hielt vor den großen Doppeltüren von Daniels Bibliothek inne und zögerte nur einen Moment, bevor sie die Türflügel aufstieß.

Ihr Blick glitt geradewegs zu dem Teppich in der Mitte des Raumes. Im selben Augenblick, als sie die Blutflecken entdeckte und die Kreidemarkierungen an der Stelle sah, wo Daniels Leichnam gelegen hatte, gewahrte sie ebenfalls den durchdringenden metallischen Geruch von Blut.

„Tammy?“

Sie drehte sich um und schaute zu Curtis auf, während sie sich fragte, warum sie sich fühlte wie betäubt. Warum weinte sie nicht vor Kummer? Daniel war tot.

„Liebes, ich möchte nicht, dass dich die Trauer auffrisst. Du konntest nicht ahnen, dass er dich von Anfang an benutzt hat. Der Mistkerl muss das schon seit Monaten geplant haben. Selbst Daniel ist auf ihn hereingefallen.“

Das stimmte, ermahnte sie sich. Eric hatte sie nie geliebt. Er hatte sie verführt. Er hatte sie benutzt, um an Daniel heranzukommen und einen hilflosen alten Mann zu ermorden. Sie hatte ihn förmlich dazu eingeladen. Oder nicht?

Nein. Das ist unmöglich. Ich kann das nicht glauben … ich will das nicht glauben.

„Wir müssen das hier rasch und mit größter Umsicht handhaben“, fuhr Curtis fort, ohne sich ihrer verwirrten Gedanken bewusst zu sein, so schien es. „Das DPI will nicht, dass die örtliche Polizei hier herumschnüffelt.“

Sie blinzelte und durchforstete ihr Gehirn nach rationalen Gedanken … Logik. „Aber er wurde doch ermordet.“

„Offiziell gilt es als Herzinfarkt.“

Sie schaute wieder auf den blutbefleckten Teppich und schüttelte den Kopf. „Ein Herzinfarkt?“

„Unser eigenes Pathologenteam wird sich um Daniel kümmern. Er wird noch heute früh eingeäschert … im Hauptquartier, gleich nachdem Rose Sversky ihn untersucht hat. Heute Nachmittag werden wir einen Gedenkgottesdienst für ihn abhalten.“

Bei der Erwähnung der besten forensischen Pathologin, mit der das DPI aufwarten konnte, runzelte Tamara die Stirn. Dr. Sverskys Patienten wurden in einem kalten Lagerraum in einem Labor in einer Kelleretage des DPI aufbewahrt. Sie schloss die Augen, als sie daran dachte, dass ihr geliebter Daniel dort unten lag.

„Ich hasse es, dich allein zu lassen, aber es gibt viel zu tun, Tam. Wir müssen schnell handeln, bevor irgendjemand die Möglichkeit hat, Fragen zu stellen. Wenn auch nur ein Wort davon nach außen dringt, verwandelt sich Byram in ein Tollhaus. Wir sehen uns um vierzehn Uhr zum Gottesdienst in St. Bart’s.“

Das Telefon klingelte, während Tamara noch zu verarbeiten versuchte, was er ihr da erzählte. Es würde keine Beerdigung geben und kein Grab, das sie besuchen könnte. Innerhalb der nächsten paar Stunden wäre von Daniel nichts weiter übrig als Asche. Er war so plötzlich und brutal aus ihrem Leben gerissen worden, dass alles, was sie im Augenblick fühlte, reines Entsetzen war. Sie hatte das Gefühl, eine ihrer Gliedmaßen verloren zu haben.

Curtis wandte sich dem Telefon im Wohnzimmer zu, statt an den Apparat in der Bibliothek zu gehen, der näher war. „Geh dort vorübergehend nicht hinein, Tam. Heute Nachmittag kommt der Reinigungstrupp.“

Oh ja, dachte sie. Der gute alte „DPI-Reinigungstrupp“. Wenn die hier fertig waren, würde man selbst mit dem Mikroskop keinen Blutstropfen mehr entdecken. Vertuschung wäre wohl ein treffenderer Begriff dafür gewesen als Reinemachen, aber was, zum Teufel, spielte das schon für eine Rolle?

Curtis’ Stimme schnitt durch den dunklen Schleier, der über ihrem Herzen dräute. „Nein, Mrs. Bryant, ich fürchte, Tamara kann im Moment leider nicht ans Telefon kommen, aber ich richte ihr gerne …“

Bei der Erwähnung des Namens „Bryant“ sprang sie auf und riss Curtis das Telefon aus der Hand, bevor er dazu kam, den Satz zu beenden. Wie hätte sie trotz allem, was hier vorgefallen war, Jamey vergessen können?

„Kathy? Ich bin’s. Gibt es irgendwelche … Nichts Neues?“ Sie seufzte bestürzt, als sie erfuhr, dass man Jamey noch immer nicht gefunden hatte. Sie lauschte, als Jameys Mutter ihr wortreich von den Schrecken einer langen schlaflosen Nacht berichtete. Als ihr schließlich die Puste ausging, unterbrach Tamara sie. „Ich werde ihn finden, Kathy. Das verspreche ich Ihnen. Ich melde mich später, in Ordnung?“

Tamara schloss die Augen und stand einen Moment lang reglos da, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Noch vor Sekunden wollte sie nichts anderes, als sich in ein Loch zu verkriechen und das Loch über sich zuzuschütten. Sie wollte sich in eine Ecke setzen und heulen, bis sie vor Kummer starb.

Jetzt hatte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit forderte. Sie würde heute alles tun, was in ihrer Macht stand, um Jamey Bryant aufzuspüren. Und heute Abend ginge sie zu Eric, um sich anzuhören, was immer er zu sagen hatte. Sie war nicht bereit, zu glauben, dass er Daniel auf dem Gewissen hatte, bevor sie es aus seinem eigenen Mund gehört hatte.

Weder konnte sie es glauben … noch verleugnen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Aus diesem Grund würde sie fürs Erste keiner dieser beiden Möglichkeiten Glauben schenken. Fürs Erste würde sie sich einfach nur auf Jamey konzentrieren und hoffentlich lange genug bei Sinnen bleiben, bis sie sich auf all das einen Reim machen konnte.

Curtis trat hinter sie, als sie auf die Treppe zuging. „Also, wenn irgendjemand fragt, es war ein Herzinfarkt. Vergiss es nicht. Die Einzigen, die die Wahrheit kennen, sind Hilary Garner – sie kam letzte Nacht vorbei und half mir, dich ins Bett zu bringen – und Daniels direkter Vorgesetzter, Milt Kromwell. Und natürlich Dr. Sversky. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

Sie nickte; sie wollte nichts lieber, als sich Hals über Kopf in eine Aufgabe zu stürzen, die ihre gesamte Aufmerksamkeit forderte. Bevor Curtis’ Wagen die Auffahrt verließ, war sie bereits oben in ihrem Zimmer und kleidete sich an. Beim Anziehen überprüfte sie ihre Jackentaschen und nickte, als sie feststellte, dass das Stück Mull noch da war.

Jamey wusste, dass es Morgen war, da er spürte, wie das Sonnenlicht seinen verspannten Körper wärmte. Gott sei gedankt für die Erfindung des Schlafsacks; wäre der nicht gewesen, wäre er mit Sicherheit erfroren. Der Widerling war mitten in der Nacht mit dem Schlafsack aufgetaucht und hatte ihn über den Jungen gebreitet. Er hatte ihm auch ein Schinkensandwich, eine Tasse Hühnersuppe und heiße Schokolade gebracht. Er band Jameys Hände los, damit er essen konnte; die Augenbinde jedoch blieb, wo sie war.

Das Klebeband wurde so gewaltsam fortgerissen, dass Jamey das Gefühl hatte, seine Lippen würden noch immer daran haften. Man hatte ihm etwas Kaltes, Röhrenförmiges gegen die Schläfe gepresst, und eine schroffe, offenkundig verstellte Stimme hatte dicht neben seinem Ohr geknurrt: „Ein Mucks, und ich blase dir den Kopf weg. Kapiert, Jungchen?“

Jamey nickte hastig. Er war vollkommen sicher, dass Curtis Rogers dazu imstande war. Jeder Mann, der eine Frau so schlug, wie Curtis Tamara geschlagen hatte, würde nicht einmal mit der Wimper zucken, wenn es galt, ein Kind wegzupusten. Und jetzt wusste er, dass es Curtis war.

Er hatte ihn zwar nicht gesehen oder ihn ohne verstellte Stimme sprechen gehört, aber er wusste es dennoch. Also nickte er wie eine brave kleine Geisel und löffelte blind seine Suppe auf. Man hatte ihm gestattet, sich in einen Eimer zu erleichtern, bevor man ihm die Arme wie zuvor hinter dem Rücken fesselte und ihm den Mund von Neuem mit Klebeband verschloss.

Verflucht, er hasste das Klebeband. Irgendwann im Laufe der langen kalten Nacht, nachdem Curtis gegangen war, begann Jameys Nase zu verstopfen. Panik befiel ihn. Wie sollte er atmen, wenn seine Nase dicht war und er Klebeband über dem Mund hatte? Eines war gewiss: Jamey hatte nicht die Absicht, noch eine weitere Nacht hier zu verbringen, um das herauszufinden. Curtis hatte gesagt, dass er am Morgen wiederkommen würde, also würde Jamey warten. Er hatte einen Plan. Es war vielleicht kein großartiger Plan, aber immer noch besser als nichts, fand er.

Er musste nicht lange warten. Kurz nach Sonnenaufgang tauchte Curtis mit einer weiteren Tasse heißer Schokolade und einem Käseteilchen aus einem Imbiss auf. Diesmal sprach er nicht viel, und Jamey wagte nicht, ihm Fragen zu stellen. Er aß, machte sein Geschäft und saß ruhig da, während er wieder gefesselt und geknebelt wurde.

Als Curtis jedoch dieses Mal ging, waren Jameys Sinne scharf wie Rasierklingen. Er lauschte aufmerksam und verinnerlichte die Geräusche von Curtis’ Schritten auf dem Fußboden, als er sich entfernte. Dann wartete er, bloß um sicher zu sein, dass Curtis nicht noch einmal zurückkam. Schließlich rutschte er über den Boden in die Richtung, in die Curtis gegangen war. Er robbte und glitt auf seinem Hintern über den Boden. Seine Füße wiesen ihm den Weg. Mit angewinkelten Knien zog er sich vorwärts, indem er sich mit den Fersen abstieß. Er kam gut voran, bis er mit einem Mal auf eine Mauer traf.

Einen Moment lang saß er verwirrt da. Dann erkannte er, dass dies der Eingang sein musste. Keine Tür, da er nicht gehört hatte, wie eine geöffnet oder geschlossen worden wäre. Aber es musste einen Durchgang geben. Er drehte und wand sich, bis sein Rücken zur Wand wies, sodass er seine Hände an der Wand entlanggleiten lassen konnte, während er sich zur Seite bewegte.

Als seine Finger schließlich von der glatten Wand abrutschten und ins Leere glitten, nahm er an, dass seine Hosen mittlerweile bis auf die Dicke von Toilettenpapier durchgescheuert waren und schätzungsweise eine Million Splitter in seinem Hintern steckten.

Der Eingang! Er hatte ihn gefunden!

Er war so aufgeregt, dass er sich nicht einmal damit aufhielt, sich noch einmal umzudrehen. Er stieß sich mit den Füßen ab, bewegte sich rückwärts durch die Öffnung … und trat ins Leere.

Kein Durchgang, du Idiot, sondern eine Treppe! Oh, verdammt, eine Treppe …

Rose Sversky war eine zierliche kleine Person mit kurz geschorenem weißen Haar und einer Brille mit Gläsern, dick wie die Böden einer Colaflasche. Sie erweckte eher den Eindruck, als würde sie zu Hause Kekse ausstechen als Leichen aufschneiden. Tamara saß inmitten des wohlorganisierten Durcheinanders aus Chrom, Stahl und mit Laken abgedeckten Tischen auf einem harten Stuhl und war sich schmerzhaft bewusst, dass nur wenige Stunden zuvor Daniel auf einem dieser Tische gelegen hatte. Möglicherweise sogar nur Minuten zuvor.

Dr. Sversky reichte Tamara über den Schreibtisch hinweg das Stück Mull, das jetzt sicher in einer verschließbaren Plastiktüte verpackt war. „Sie hatten recht, was das Chloroform betrifft. Unglücklicherweise ist es so gut wie unmöglich, von Mull Fingerabdrücke zu nehmen. Ich konnte leider keinen Hinweis darauf finden, wer ihn entführt hat.“

Tamara seufzte schwer und fluchte; indes, Rose hatte noch nicht geendet. „Ich habe einen winzigen Blutfleck entdeckt. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um das Blut des Jungen, aber das kann ich erst mit absoluter Sicherheit sagen, wenn ich eine Vergleichsprobe habe. Kennen Sie seine Blutgruppe?“

Tamara runzelte die Stirn. „Nein. Vermutlich steht sie in seiner Akte, aber es wird am einfachsten sein, seine Mutter zu fragen. Ich melde mich dann bei Ihnen. Allerdings kommt mir das Ganze ein wenig seltsam vor, ich habe nämlich kein Blut gesehen.“

„Ohne Mikroskop ist das auch nur schwerlich möglich. Es ist nur eine Winzigkeit. Vermutlich hat er sich auf die Zunge gebissen, als er gepackt wurde.“ Einen Moment lang saß sie reglos hinter ihrem riesigen Schreibtisch; dann langte sie darüber, um ihre Hand auf Tamaras zu legen. „Es tut mir leid, dass Sie so viel auf einmal durchmachen müssen, Liebes. Daniel war ein guter Mann. Ich werde ihn vermissen.“

Tamara blinzelte. Sie hatte nicht beabsichtigt, jetzt an Daniel zu denken … nicht hier. Dennoch konnte sie nicht umhin, dass ihr Blick zum nächststehenden Tisch hinüberschweifte. „Sie stellen den Totenschein aus, nicht wahr?“

„Ja. Ich habe schon früher Totenscheine in unserem Sinne geschönt, und solange ich beim DPI beschäftigt bin, werde ich das wohl auch weiterhin tun, vermute ich.“

„Und es macht Ihnen nichts aus, als Todesursache statt eines Gewaltverbrechens, so wie in diesem Fall, einen simplen Herzinfarkt anzugeben?“

Rose runzelte die Stirn. „Solange nicht irgendjemand etwas anderes behauptet, gilt diese Angelegenheit als Unfall.“ Tamara blickte auf, und Rose fuhr hastig fort: „Es ist stets am besten, so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. Als ich die Beule auf seinem Hinterkopf entdeckt habe, fand ich, dass wir uns als Todesursache genauso gut darauf berufen könnten.“

Tamara starrte sie an. „Ich wusste nichts von einer Beule am Kopf.“

Dr. Sversky setzte ihre Brille ab und kniff sich in den Nasenrücken. „Ich hoffe, dieses Wissen macht es Ihnen leichter, damit umzugehen. Bevor man ihm die Halsschlagader aufriss, wurde er so hart von einem stumpfen Gegenstand getroffen, dass er das Bewusstsein verlor. Wahrscheinlich hat er es nicht einmal gespürt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe bislang noch nie das Opfer eines … eines Vampirangriffs obduziert. So habe ich es mir jedenfalls nicht vorgestellt. In den Filmen findet man bei den Opfern immer zwei ordentliche kleine Einstiche. Dies hier war …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Aber das müssen Sie sich wirklich nicht anhören.“

Nein, dachte Tamara. Das musste sie sich tatsächlich nicht anhören, weil sie es schon mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie erhob sich, bedankte sich bei Rose Sversky und ging. Als sie mit dem Fahrstuhl nach oben fuhr, berührten ihre Finger die winzigen Male an ihrem Hals. Sie waren kaum noch zu sehen. Sie runzelte die Stirn, als sich die Türen im Erdgeschoss öffneten, und marschierte wie in Trance zum Cadillac hinaus.

Sie hatte den Großteil des Tages damit verbracht, diejenigen zu befragen, die entlang Jameys Heimweg von der Schule wohnten, und noch mehr Zeit darauf verwendet, zu warten, während Rose Sversky die Mullbinde untersuchte. Mechanisch fuhr sie nach Hause, duschte und zog einen schwarzen Rock nebst weißer Seidenbluse an, die ihr Daniel letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Währenddessen hämmerte ihr Kopf, und ihr Herz schmerzte.

Es verlangte sie so sehr danach, andere Antworten auf Daniels Tod zu finden als die offensichtlichen. Ihr Verstand bot ihr in einem fort hoffnungsvolle Hinweise dar, die sie an Erics Schuld zweifeln ließen, und doch fragte sie sich, ob sie womöglich nur das sah, was sie sehen wollte. Der Umstand, dass Curtis behauptete, Daniel schreien gehört und die Tür aufgebrochen zu haben, um zu sehen, wie Eric ihn biss, stand im Widerspruch zu dem, was Rose gesagt hatte, nämlich dass Daniel ohnmächtig war, als ihm die Kehle durchgeschnitten wurde.

Vielleicht irrte sich Curtis, oder er hatte Daniels Schreie vernommen, bevor er niedergeschlagen worden war. Die Tatsache, dass Eric es nicht nötig hatte, ein dermaßen blutiges Durcheinander anzurichten, war nicht von der Hand zu weisen; andererseits war er womöglich einfach darauf aus gewesen, seinen Erzfeind auf möglichst grausame Weise auszuschalten.

Eric? Grausam? Niemals.

Tamara bemühte sich, die Spuren ihres emotionalen Wirrwarrs so gut als möglich unter einer Schicht Make-up zu verbergen, bevor sie zu der Kirche in der Innenstadt von Byram fuhr und für eine kurze, oberflächliche Predigt in der ersten Reihe Platz nahm. Sie mutmaßte, dass es sich dabei um die Standardpredigt handelte, die sie für jene bereithielten, die zwar treu ihre Kirchensteuer zahlten, jedoch schon lange nicht mehr zum Gottesdienst gekommen waren.

Als die Predigt geendet hatte, setzte sie ein gekünsteltes Lächeln auf und nahm die Beileidsbekundungen der Anwesenden entgegen. Ihr fiel auf, dass es sich bei den meisten davon um Kollegen handelte. Daniels Arbeit war sein Leben gewesen. Es wäre angebrachter gewesen, den Gottesdienst in seinem Büro abzuhalten oder in seinem Kellerlabor.

Als es schließlich vorüber war, kam Curtis zu ihr herüber, ergriff ihre Hände und half ihr auf die Füße. Sie hatte bemerkt, dass er bloß ein paar Plätze entfernt saß und sie den gesamten Gottesdienst über nachdenklich beobachtet hatte. „Gehst du jetzt nach Hause?“, fragte er.

Sie nickte. „Ich bin erschöpft. Ich glaube nicht, dass irgendetwas von alldem bislang wirklich zu mir durchgedrungen ist.“

„Wie geht die Suche nach dem Jungen voran?“

Sie seufzte. „Überhaupt nicht. Ich werde Kromwell bitten, das FBI einzuschalten. Er hat Freunde dort.“

„Die habe ich ebenfalls“, sagte Curtis schnell. „Lass mich das für dich erledigen.“

Ihre Augen verengten sich unmerklich. Irgendwie schien sein Lächeln falsch zu sein, was jedoch vermutlich genauso auf ihr eigenes zutraf, dachte sie. „In Ordnung. Ich kann alle Hilfe brauchen, die ich kriege.“ Sie schluckte, als ihr Unbehagen immer mehr zunahm. „Es war nett von dir, letzte Nacht bei mir zu bleiben, Curtis. Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich heute Nacht lieber allein sein. Ich muss … über einiges nachdenken. Verstehst du das?“

Er nickte. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst.“ Er beugte sich vor, hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und drückte ihre Schultern. Sie verfolgte, wie er sich entfernte, und streifte ihre Jacke über. Sie war selbst auf dem Weg zur Tür, als eine sanfte Hand auf ihrem Arm sie innehalten ließ. Sie wandte sich um, und beim teilnahmsvollen Blick auf Hilarys Antlitz brach sie ohne Vorwarnung in Tränen aus.

Hilary schloss sie fest in die Arme, und so standen sie da, bis Tamara sich ausgeweint hatte. Sie fühlte sich besser und war dankbar, eine Freundin zu haben, mit der zusammen sie weinen konnte. Hilary tupfte sich die feuchten Augen ab. „Du weißt, wenn du irgendetwas brauchst …“

„Ich weiß.“ Tamara nickte und wischte mit einer Hand ungeduldig über ihr nasses Gesicht.

„Gibt es denn irgendwelche Neuigkeiten wegen des kleinen Jungen?“

Tamara blickte in Hilarys Rehaugen und hatte das Gefühl, jeden Moment erneut loszuheulen. Sie schniefte und kämpfte gegen die neuerlichen Tränen an. „Nein, bislang nicht. Ich habe ein Stück Mull mit Rückständen von Chloroform in der Nähe der Stelle gefunden, wo er zuletzt gesehen wurde. An dem Mull ist auch eine Blutspur, und sobald ich mit Jameys Mutter gesprochen habe, weiß ich, ob es sich dabei um seine Blutgruppe handelt.“

„Warum so umständlich?“

Tamara runzelte nur die Stirn.

„Du willst mir allen Ernstes sagen, du weißt nicht, welche Blutgruppe Jameson Bryant hat?“

„Nein, das weiß ich nicht. Ich nehme an, dass sie in seiner Akte steht, aber …“

„Ich weiß, dass sie in seiner Akte steht. Das war eins der ersten Dinge, die in seine Unterlagen aufgenommen wurden. Er hat dieselbe Blutgruppe wie du, Tamara. Dieses Belladonna-Dings. Ich kann nicht glauben, dass du das nicht wusstest.“

„Belladonna?“ Tamara konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Hilary, woher weißt du das?“

„Ich bin diejenige, die angewiesen wurde, sämtliche medizinischen Unterlagen über ihn, die in Stufe eins fielen, in den DPI-Computer einzugeben. Ich weiß noch, wie ich seinerzeit dachte, dass diese Einstufung für einfache medizinische Daten ziemlich hoch wäre, aber …“

„Von wem kam die Anweisung?“

Hilary legte die Stirn in Falten. „Ich weiß es nicht; durch die üblichen Kanäle, nehme ich an. Sieh mal, ich schätze, ich sollte eigentlich überhaupt nicht mit dir darüber reden, Tam. Ich meine, das ist Stufe eins, und deine Sicherheitsfreigabe …“

„Ist nicht hoch genug“, sagte Tamara langsam.

Unmittelbar darauf verabschiedete sich Tamara, während Hilary ihr stirnrunzelnd nachsah. Sie stieg in ihren Wagen und ließ die Kirche hinter sich, ohne sonderlich auf den Verkehr zu achten. „Er besitzt das Antigen“, murmelte sie zu sich selbst. „Und vielleicht auch die Blutlinie? – Natürlich, auch die. Deswegen ist meine psychische Verbindung zu ihm stärker als zu irgendwem sonst.“

Allmählich dämmerte ihr, dass derjenige, wer auch immer festgelegt hatte, diese Unterlagen als Stufe eins zu klassifizieren, sie absichtlich über ihrer eigenen Sicherheitsfreigabe eingestuft hatte. Er wollte nicht, dass sie davon erfuhr.

„Aber das DPI wusste es. Es wusste, dass wir uns nahestehen, und es wusste, dass ich Jamey zu Hilfe kommen würde, wenn er in Schwierigkeiten steckt.“ Sie blinzelte hastig. „Jamey wurde entführt, um mich aus dem Haus zu locken … und dann wurde Daniel ermordet.“

Eric wäre niemals imstande, einem kleinen Jungen Schaden zuzufügen. Darüber hinaus war Jamey am helllichten Tage entführt worden. Eric hatte Daniel nicht umgebracht. Aber jemand hatte es getan … jemand mit Zugriff auf Stufe-eins-Daten. Jemand, der wollte, dass es so aussah, als wäre hier ein Vampir am Werk gewesen.

„Und außerdem jemand, der von dem Treffen zwischen Daniel und Eric wusste“, flüsterte sie. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Curtis?“

Um ein Haar hätte sie die Auffahrt verpasst. Sie trat auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Sie würgte den Motor nahe der Eingangstür ab, stieg aus, um hineinzulaufen, und verriegelte die Tür hinter sich.

„Mein Gott, kann das wahr sein? War Curtis so außer sich, dass er Daniel ermordet hat?“ Sie presste die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen. „Was, zum Teufel, hat er mit Jamey angestellt?“

Sie schluckte ein Schluchzen hinunter und eilte die Treppe hinauf zu Daniels Zimmer. In kürzester Zeit fand sie seinen Schlüsselbund und lief damit wieder nach unten, während die Schlüssel in dem stillen Haus klingelten wie eine Alarmglocke. Sie verharrte nicht an der Kellertür. Wenn sie jetzt zögerte, würde sie niemals dort hinuntergehen. Sie schob den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn um und stieß die Tür auf.

Es war später Nachmittag. Draußen reflektierte der schneebedeckte Boden das Sonnenlicht immer noch so stark, dass es sie in den Augen schmerzte, während sich hier zu ihren Füßen ein dunkler Abgrund auftat. Sie vermochte nicht einmal die Treppe auszumachen. Gleichwohl, aller Wahrscheinlichkeit nach lagen die Antworten auf all ihre Fragen nur ein paar Stufen tiefer. Ihr blieb gar keine andere Wahl, als hinunterzugehen.