Kapitel 41
Als Erstes landete eine Packung Milchschokoladenschaumküsse von Tunnock’s in ihrem Einkaufskorb. Neve betrachtete die Schachtel einen Moment zögernd. Dann gab ihr Magen ein Knurren von sich. Ihre Kehle schmerzte vom Weinen, ihr Herz blutete. Sie war mehr als reif für ein paar kulinarische Seelentröster.
Ihr Entschluss stand fest, und der Rest war ganz einfach. Drei bunte Packungen Chips – Salt & Vinegar, Bacon, Cheese & Onion –, wie hatte sie nur so lange ohne Chips leben können? Als Nächstes alles, was sonst noch Schokolade enthielt: Schoko-Haferkekse, Schoko-Vollkornkekse, Schokoladenkuchen mit einer dicken Glasur aus Schokoladenbuttercreme. Und Käse – gegrillt, auf dicken Weißbrotscheiben, mit Ketchup obendrauf. Eine Packung Chunky-Monkey-Eis von Ben & Jerrys, und gleich noch eine in der Geschmacksrichtung Phish Food – Karamell und Marshmellows. Wenn schon, denn schon. Dabei war sie noch gar nicht am Süßigkeitenregal vorbeigekommen. Neve warf eine Handvoll Schokoriegel in ihren schwer beladenen Korb und klemmte sich auf dem Weg zur Kasse noch eine Flasche Cola unter den Arm.
Auf dem Nachhauseweg piekste der raue Asphalt ihre nackten Fußsohlen, aber auch das war ihr egal. Das bisschen Schmerz hielt sie jetzt auch noch aus, nach allem, was sie bereits mitgemacht hatte. Nachdem sie Jahre ihres Lebens darauf verschwendet hatte, einen Mann zu lieben, der nur in ihrem Kopf existiert hatte und in ihrer Besessenheit gar nicht bemerkt hatte, dass sie bereits jemanden gefunden hatte, der real und etwas Besonderes und sehr Wertvolles war.
Neve wankte durch den Vorgarten auf die Haustür zu und schnalzte verärgert mit der Zunge, weil sie ihre wertvolle Fracht abstellen musste, um den Schlüssel aus der Tasche zu fischen. Im Flur war es dunkel. Sie ergriff mit einer Hand ihre drei Tüten, trat ein und tappte mit der anderen nach dem Lichtschalter. Dabei stolperte sie, stieß mit dem großen Zeh an ihr Fahrrad, das prompt umkippte, und schrie vor Schmerz auf, als ihr der Lenker auf den Fuß knallte.
»Himmelherrgott noch mal!« Sie war so zwischen Wand und Fahrrad eingekeilt, dass sie nicht einmal die Tüten abstellen konnte. Also bückte sie sich schnaufend und keuchend, hob ihr Rad auf und stieß es scheppernd an die gegenüberliegende Wand. Dann versuchte sie, auf einem Bein hüpfend, ihre Einkäufe abzustellen und zugleich den verletzten Fuß zu fassen zu bekommen. Als sie sich vornüberbeugte, wurde ihr schlecht. Sie hatte eine sehr niedrige Schmerzgrenze, und ihre Zehe fühlte sich an, als wäre sie nicht mehr zu retten.
Das Licht wurde angeknipst. »Was zum Teufel treibst du denn schon wieder?«, tönte Charlottes Stimme von oben. »Musst du immer so einen verdammten Radau machen?«
Neve hob den Kopf und erspähte das vor Wut verzerrte Gesicht ihrer Schwägerin über dem Treppengeländer, kümmerte sich jedoch nicht weiter um sie, sondern nahm stattdessen die lädierte Zehe in Augenschein. »Oh, Gott.« Der Nagel hatte sich vom Nagelbett gelöst, darunter quoll Blut hervor.
Sie schauderte, kam aber nicht mehr dazu zu überprüfen, ob er noch festhing oder nicht, denn Charlotte stürmte die Treppe hinunter.
»Was ist nur los mit dir?«, keifte sie, noch ehe sie die unterste Stufe erreicht hatte. »Was bildest du dir eigentlich ein, ständig so einen Krach zu machen und tagelang die Wäscheleine zu blockieren? Du bist nicht die Einzige, die ihre Wäsche trocknen muss. Du bist sowas von egoistisch! Ich kenne niemanden, der so egoistisch ist wie du.«
»Entschuldige, Charlotte, aber ich bin hier gerade beschäftigt«, bellte Neve.
»Das hast du jetzt davon!« Charlotte rammte ihr einen Finger in die Brust. »Das wäre nie passiert, wenn du dein Rad nicht immer hier abstellen würdest. Und wenn du nicht so eine fette Kuh wärst.«
»Wie war das?«, sagte Neve. Ihre Stimme war geradezu unheimlich ruhig, aber innerlich tobte sie.
»Du bist wohl nicht nur blöd, sondern auch noch taub!«, zeterte Charlotte und bohrte Neve erneut einen Finger in die Brust. »Du bist noch genau derselbe ekelige Fettklops wie in der Schule. Ich kann nicht fassen, dass ich ausgerechnet unter dir wohne, Würgi.«
Neve schluckte und holte tief Luft, rührte aber keinen Finger. Die warme, schwüle Hitze der Sommernacht um sie herum knisterte förmlich. »Fass mich nicht an«, presste sie hervor. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder.
»Was willst du denn dagegen unternehmen?«, höhnte Charlotte.
Neve merkte gar nicht, wie ihre Hand nach oben schnellte. Sie spürte nur, wie sie auf die Wange ihrer Schwägerin traf, spürte das Zittern des Aufpralls bis in den Oberarm und sah, wie Charlotte durch die Wucht der Ohrfeige an die Wand geschleudert wurde.
»Ich bin verdammt noch mal nicht fett, und auch nicht blöd! Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Was gibt dir das Recht, mich so zu behandeln?« Jedes Wort war von einem Faustschlag begleitet, während Charlotte verzweifelt mit den Armen wedelte und versuchte, Neve zu entkommen. »Ich hasse dich! Ich hasse dich, wie ich noch nie jemanden gehasst habe!«
Charlotte schrie ebenfalls wie am Spieß, und als sie begriff, dass Neve nicht aufhören würde, begann sie, sich zu wehren und kämpfte sich aus der Ecke heraus, in die sie sich hatte drängen lassen.
Sie trampelten über die Einkaufstüten hinweg, aber Neve verspürte nur noch den Drang, ihrer Schwägerin die Augen auszukratzen oder sie so lange zu würgen, bis ihre Hasstiraden ein für allemal aufhörten. »Ich bringe dich um!«, brüllte sie. Irgendwann registrierte sie, dass Charlotte nicht mehr kreischte und dass nebenan jemand an die Wand hämmerte. Es klang, als wären die Scoins mit einem Rammbock zugange.
Charlotte nutzte den kurzen Augenblick, in dem Neve abgelenkt war – aber nicht, um sie zu schlagen oder zu kratzen. Sie stürzte sich auf sie und schlang die Arme fest um sie. »Hör auf«, keuchte sie. »Hör auf, Neve.«
Neve spürte, wie ihre Beine nachgaben. Sie sank zu Boden, zitternd und schwer atmend, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte und feststellte, dass ihr Gesicht an Charlottes Hals vergraben war und dass nicht nur ihr großer Zeh, sondern ihr ganzer Körper schmerzte, innerlich wie äußerlich.
»Lass mich los«, sagte sie und versuchte, sich zu befreien.
»Versprich mir erst, dass du mich nicht mehr würgst.«
»Versprochen.« Kaum hatte Charlotte die Arme sinken lassen, wünschte Neve, sie hätte es nicht getan, denn es hatte sich seltsam tröstlich angefühlt. Sie hob den Kopf und blickte ihrer Erzfeindin in die Augen. Besser gesagt, ins linke Auge – das rechte war ganz rot und beinahe zugeschwollen. »Oh, Gott, war ich das etwa?«
»Ja, und es tut scheußlich weh«, sagte Charlotte. Es klang überraschend gleichgültig. »Schon gut, dafür habe ich dir die Lippe blutig geschlagen.«
Neve fasste sich vorsichtig an die Unterlippe. Tatsächlich, sie blutete. Sie blickte an sich hinunter. Ihr Wickelkleid hing halb geöffnet an ihr herunter. Sie wollte gerade nach ihrer Zehe sehen, da griff Charlotte nach einer tropfenden Eispackung. »Was willst du denn mit dem ganzen Zeug?«
»Na, essen«, knurrte Neve trotzig. »Ich hab’s gekauft, und jetzt gehe ich rauf und esse es. Alles.«
»Lass das lieber bleiben«, sagte Charlotte. »Wenn du so einen Scheiß isst, wirst du wieder fett.«
»Und? Du behauptest doch ohnehin immer, ich sei fett.« Neve versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. »Und hör auf, nett zu mir zu sein. Es wirkt nicht überzeugend, und es wird nicht dazu führen, dass ich irgendwelche Fehler einsehe oder mich entschuldige.«
Charlotte schwieg eine Weile. Dann streckte sie die Beine aus und musterte Neve gedankenvoll. »Du bist echt laut …«
»Aber die meiste Zeit bin ich mucksmäuschenstill!«, fauchte Neve. Sie hasste es, ständig so wütend zu sein. Es war unheimlich anstrengend. »Ich kann völlig bewegungslos dasitzen, ohne auch nur einen Ton von mir zu geben, aber du klopfst trotzdem mit deinem verdammten Besenstiel an die Decke! Ich wage ja kaum noch zu atmen!«
»Aber …«
»Es ist meine Wohnung! Es ist mein gutes Recht, die Tür hinter mir zu schließen und mich vor der Welt zurückzuziehen, aber ich habe ja sogar Angst, mir eine Tasse Tee zu machen, weil du immer gleich ausflippst. Und nur zu deiner Information: Es ist auch mein gutes Recht, ein paar Tage die Woche die Wäscheleine zu benutzen, genau wie die Treppe zu meiner Wohnung, und …«
»Du weißt ja gar nicht, wie das ist, unter dir zu wohnen«, beharrte Charlotte, ohne Neve anzusehen. Sie starrte auf einen zerquetschten Laib Weißbrot. »Man hört jedes noch so leise Geräusch in diesem Haus.«
»So, so, und warum beschwerst du dich nie bei Celia und Yuri, die ständig mit den Türen knallen und ganz laut Musik hören? Warum hast du dich nie beschwert, wenn du wusstest, dass Max da ist?« Allein sein Name und die Erinnerung daran, wie es gewesen war, als er bei ihr ein- und ausgegangen war, erfüllte sie mit einem Schmerz, der alle anderen Schmerzen überdauern würde – die blutende Lippe, ja, selbst den abgehebelten Zehennagel. »Du bist eine tryrannische Zicke. Das warst du immer schon und wirst du immer bleiben.«
»Bin ich nicht«, erwiderte Charlotte entrüstet. »Wir kommen bloß nicht miteinander aus, das ist alles.«
Neve starrte sie ungläubig an. »Wir kommen nicht miteinander aus, weil du in der Schule zu einer regelrechten Hetzjagd gegen mich aufgerufen hast. Du hast dir diesen gemeinen Spitznamen ausgedacht, du hast mir nach dem Turnunterricht die Klamotten geklaut und deine Freundinnen dazu angestiftet, mich anzuspucken. Zugegeben, ich habe mich nicht gerade überschlagen vor Freude, als du Douglas geheiratet hast, aber du hast dich ja noch nicht einmal bei mir entschuldigt! Warum gibst du es nicht endlich zu?«
Charlotte zog die Nase kraus. »Damals in der Schule …« Sie blickte zur Decke. »Ich war todunglücklich, und wenn ich auf dir rumgehackt habe, ging es mir besser.«
»War das etwa schon alles?«
»Ich versuche ja gerade, es dir zu erklären.« Charlotte verzog das Gesicht. »Ich bin nicht besonders gut mit … Wörtern und so. Mein Dad war gerade von zu Hause abgehauen, und ich war zwei Wochen mit Dougie zusammen, dann hat er Schluss gemacht, und dann haben sie mich auch noch zum Förderunterricht verdonnert. Ich war ein totaler Loser, aber ich hatte den Eindruck, dass du der noch größere Loser bist, und das hat geholfen.«
»Und warum ausgerechnet ich?«
»Naja, du bist seine Schwester, und es war leichter, es an dir auszulassen als an ihm. Du hast dich immer so fein ausgedrückt, und du hattest die Nase ständig in einem Buch …« Endlich zeigte Charlotte erste Anzeichen von Verlegenheit. Reue wäre Neve lieber gewesen, aber Verlegenheit war besser als gar nichts. »Und ich wusste, dass du dich nicht wehren würdest.«
»Und ich war fett«, erinnerte Neve sie.
»Ach, was. Du warst pummelig, ja, aber nicht richtig fett. Jedenfalls nicht am Anfang.«
»Ich war immer richtig fett«, sagte Neve scharf, aber das tat zur Abwechslung nichts zur Sache. »Und warum hast du deine Terrorherrschaft wieder aufleben lassen?«
»Was?«
»Warum hast du wieder angefangen, mich zu schikanieren?«, fragte Neve leise.
Charlotte wandte den Blick ab und verzog das Gesicht, als sie sich von der Treppe hochstemmte. »Wir müssen diesen ganzen Dreck hier wegmachen.« Sie spähte auf ihren Hintern, der wie immer in einer Juicy-Couture-Jogginghose steckte. »Ich hab mich ins geschmolzene Eis gesetzt, und …«
»Ich habe dir eine Frage gestellt, Charlotte.«
»Ich weiß. Du kannst mitkommen zu mir, wenn du willst.«
Charlotte ging voran, und Neve folgte ihr, weil ihr nicht viel anderes übrig blieb. Sie war seit dem Umbau noch nie in der Wohnung ihres Bruders gewesen.
Die Farbgestaltung war freundlich, aber unpersönlich; eine Symphonie in Graubeige und Ecru, Graubraun und Winterweiß. Es wirkte fast so, als wären Charlotte und Douglas gar nie darauf eingestellt gewesen, auf Dauer hier zu wohnen. Als hätten sie das Interieur bewusst neutral gewählt, damit es möglichst vielen potenziellen Käufern gefiel. Der einzige persönliche Gegenstand war das Hochzeitsfoto auf dem Kaminsims. Es zeigte Charlotte und Douglas rechts und links des Elvis-Imitators, der sie in Las Vegas getraut hatte. Neve hatte Charlotte noch nie so glücklich gesehen. Sie strahlte breit lächelnd in die Kamera, Douglas stand mit roter Birne und betretener Miene daneben.
Charlotte kam mit einer Rolle schwarzer Mülltüten und einem Eimer warmem Seifenwasser ins Wohnzimmer. »Sollen wir den Flur aufräumen gehen?«
Sie arbeiteten zügig und schweigend, warfen die Lebensmittel, die nicht mehr genießbar waren, in die Mülltüten und stapelten diese neben der Haustür auf. Dann wusch Neve die Ketchupspritzer von den Wänden, während Charlotte das geschmolzene Eis aufwischte.
Dann kehrten sie zurück in Charlottes Wohnung und tranken bei ihr in der Küche Tee. Charlotte hatte ihren schmutzigen Jogginganzug gegen einen sauberen ausgetauscht und drückte sich eine Packung Tiefkühlerbsen aufs Auge, Neve hatte ihren Zeh verarztet, den Fuß auf einem Stuhl abgelegt und ein Handtuch darüber gebreitet, weil der Anblick ihnen beiden Übelkeit bereitete.
Es war ein Fortschritt. Gewissermaßen.
Neve hatte gerade die Hoffnung aufgegeben, je den Rest der Geschichte zu hören, da stellte Charlotte die Tasse ab und sah Neve fest in die Augen.
»Douglas liebt mich nicht«, sagte sie. »Und ich glaube nicht, dass er es je getan hat. Er hat mich nur geheiratet, um eurem Vater zu beweisen, dass er erwachsen ist.«
Plötzlich wollte Neve den Rest der Geschichte gar nicht mehr hören. Nicht, wenn sie sich so entwickelte, wie sie es vermutete.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, widersprach sie matt.
»Ist aber so.« Charlotte stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. »Ich war schon mit fünfzehn in ihn verliebt, und ich dachte, wenn ich ihn genug liebe, dann würde er mich irgendwann auch lieben.«
»Aber so funktioniert das nicht, oder?« Neve dachte an William, an all die Energie, die sie mit ihrer Liebe zu ihm verschwendet hatte. Aber die Liebe traf einen immer unerwartet. Sie tauchte an den ungewöhnlichsten Orten auf, wenn man gar nicht danach suchte.
»Das kannst du laut sagen.« Charlotte erhob sich und ging zum Tiefkühler, um die Erbsen gegen gefrorene Karotten auszutauschen. Mit dem Rücken zu Neve sagte sie: »Er schläft mit anderen Frauen. Ständig.«
Neve schloss die Augen. Sie wollte kein Mitleid mit Charlotte empfinden, und sie war sicher, dass Charlotte auf ihr Mitleid gut verzichten konnte, aber sie konnte sich zumindest in sie hineinversetzen. Als Amy vorhin aufgetaucht war, hatte sie sich geärgert und ein wenig hintergangen gefühlt, aber das war nichts verglichen mit der Vorstellung, dass Max mit einer anderen schlief. Was er inzwischen wahrscheinlich bereits mehrfach getan hatte.
»Das tut mir leid«, sagte sie und meinte es auch so.
»Das muss es nicht«, erwiderte Charlotte nüchtern und setzte sich wieder hin. »Er trinkt zu viel, und dann kommt er die ganze Nacht nicht nach Hause, und ich sage nichts. Stattdessen brülle ich ihn wegen dämlichen Kleinigkeiten an. Weil ich Angst habe, mit ihm über die wirklich wichtigen Dinge zu reden.«
»Weil er dir dann womöglich sagt, dass er dich nicht liebt und dich verlässt.«
»Ja«, sagte Charlotte überrascht. »Wie hast du das erraten?« Der Ansatz eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Du bist echt ziemlich clever.«
»Manchmal bin ich auch ziemlich dumm.« Neve stellte ihre Tasse ab und verschränkte die Arme. »So kann es nicht weitergehen. Das ist doch kein Leben. Du kannst mich nicht ständig schikanieren, wenn es dir schlecht geht. Nützt das überhaupt etwas?«
»Nicht so richtig«, murmelte Charlotte, und dann brach sie in Tränen aus. Es war grauenhaft. Sie fand es sichtlich peinlich, denn sie machte sich ganz klein und ließ den Kopf hängen, sodass ihre Haare das Gesicht verdeckten, und sie versuchte, ihre Schluchzer zu unterdrücken, was sie nur noch verzweifelter klingen ließ.
Es gab nichts, was Neve hätte tun können, also tat sie auch nichts. Sie saß bloß schweigend da, und als Charlottes Tränen allmählich versiegten, stand sie auf, tränkte ein Blatt Küchenrolle mit Wasser und reichte es ihr, wobei sie ihr kurz eine Hand auf die Schulter legte.
Charlotte tupfte sich vorsichtig die Wangen trocken. »Heulen tut höllisch weh, wenn man ein blaues Auge hat.«
»Mit einer kaputten Lippe Tee zu trinken, ist auch kein Spaß«, bemerkte Neve, und sie grinsten einander schwach an.
»Weißt du was, Neve? Er weigert sich sogar, meine Hand zu halten, wenn wir irgendwohin gehen. Wie krank ist das denn?«
»Das ist total krank.« Neve sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwölf. Gar nicht so spät eigentlich, wenn man bedachte, was sie in den vergangenen paar Stunden alles erlebt hatte. »Es ist schon spät. Ich sollte gehen.«
»Und, sind wir jetzt Freundinnen?«, fragte Charlotte und wirkte ernüchtert, als Neve den Kopf schüttelte.
»Ich schätze, Freundinnen wäre etwas übertrieben. Sagen wir mal, wir haben die weiße Flagge gehisst und eine Waffenruhe ausgehandelt, die per sofort in Kraft tritt.«
»Äh, was?«
»Ab jetzt ist Schluss mit den Schikanen.« Neve würde Charlotte wohl nie so richtig mögen, aber sie betrachtete sie auch nicht mehr als Ausgeburt der Hölle. »Einverstanden?«
Charlotte nickte. »Ja. Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass wir gemeinsam zu Nando’s essen gehen, aber wir bekriegen uns nicht mehr.«
»Schön.« Neve stand auf. »Ich gehe jetzt nach oben, und in Zukunft werde ich nicht mehr auf Zehenspitzen durch meine Wohnung schleichen, nur dass du’s weißt.«
Charlotte schnaubte. »Als könntest du das, mit deinem abgefallenen Zehennagel.«
»Sag doch nicht sowas! Du hast behauptet, er hätte sich nur an der Seite gelöst!« Neve stierte auf den mit zwei rosa Pflastern befestigten Gazestreifen hinunter und spürte, wie sich jedes einzelne ihrer inneren Organe angeekelt zusammenzog. »Oh, Gott, ich glaube, mir wird schlecht.«
Sie humpelte zur Tür. Charlotte war im Schlafzimmer verschwunden, tauchte aber wieder auf, als Neve in den Flur hinaustrat. »Hier, schenk ich dir.« Sie reichte Neve zwei ordentlich zusammengefaltete Kleidungsstücke. »Als eine Art Wiedergutmachung.«
Neve betrachtete den Jogginganzug aus knallrosa Nickisamt. »Ist das etwa …?« Sie brach ab, weil ihr die Worte fehlten.
Charlotte nickte. »Einer von meinen Juicy-Couture-Anzügen.« Die Vorstellung, sich von dem guten Stück zu trennen, trieb ihr erneut die Tränen in die Augen.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Neve fest. Erstens waren Trainingsanzüge nur was für das Fitnesscenter, und zweitens war dieser hier pink.
»Du musst ihn nehmen, sonst bin ich tödlich beleidigt.« Das wirkte. Neve wusste nur zu gut, wozu Charlotte fähig war, wenn sie beleidigt war.
»Aber der passt mir doch gar nicht«, protestierte sie. »Du bist viel dünner als ich.«
»Fang nicht schon wieder damit an. Das habe ich nur behauptet, weil ich wusste, dass es dich auf die Palme bringt. Du bist nicht dick, okay? Das weißt du doch, oder?«
»Naja, natürlich weiß ich es, aber ich habe auch eine wochenlange Entschlackungskur hinter mir, und nur deswegen bin ich gerade so … naja, nicht dünn, aber sagen wir unfett.«
Charlotte legte die Stirn in Falten, ein allzu vertrauter Anblick. »Was redest du denn da, du dumme Kuh? Du bist jetzt seit Monaten nicht viel dicker als ich, wenn nicht sogar dünner, und ich trage Kleidergröße 42, seit ich vierzehn bin.«
Neve betrachtete ihre Schwägerin prüfend. Charlotte war schlank, aber kurvig; allerdings waren ihre Kurven kompakt und schwabbelten nicht bei jedem Schritt. »Aber du wirkst viel dünner als ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Also, ehrlich, ich weiß gar nichts mehr. Ich kann nicht sagen, ob ich fett bin oder dünn oder irgendetwas in der Mitte.«
»Weißt du, was dein Problem ist? Du denkst zu viel nach«, stellte Charlotte fest. »Ich versuche, überhaupt nicht nachzudenken. Und jetzt nimm endlich das blöde Ding.«
Neve nahm den Jogginganzug entgegen, um des lieben Friedens willen, und außerdem konnte sie es kaum erwarten, ihn Celia vorzuführen.
Oben in ihrer Wohnung ging sie schnurstracks ins Bad, schälte sich aus den Kleidern und stieg unter die Dusche.
Es war gar nicht so einfach, auf einem Bein stehend zu duschen und das andere Bein aus der Duschkabine zu strecken, damit der Verband nicht nass wurde. Das heiße Wasser prasselte auf sie nieder und spülte ihre Wellen und ihren Naturlook weg.
Danach wickelte sie sich ein Handtuch um die Haare und ein Badetuch um den Körper und begann sich halbherzig mit Bodylotion einzucremen. Sie kämmte sich die Haare. Putzte sich die Zähne. Begutachtete die übrigen Pickel im Spiegel. Zum Schluss tupfte sie sich noch etwas Creme auf die Augenpartie, weil Celia immer betonte, wie wichtig es war, Fältchen erst gar nicht entstehen zu lassen.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und wollte das Bad gerade verlassen, doch dann hielt sie inne und drehte sich noch einmal um. Eine ganze Weile stand sie einfach bloß da und betrachtete ihr Spiegelbild. Dann lockerte sie das Badetuch und ließ es zu Boden fallen.
Oh, Gott, siehst du furchtbar aus!
Das war ihr erster Gedanke, eine automatische Reaktion auf den Anblick ihres entblößten Körpers. Allerdings konnte sie sich gar nicht erinnern, wann sie sich je nackt betrachtet hatte. Sie stieg immer mit dem Rücken zum Spiegel aus der Dusche und drehte sich erst um, nachdem sie sich in ein Badetuch gewickelt hatte. Und wenn sie zufällig doch einmal einen Blick auf ihr unbekleidetes Alter Ego erhaschte, dann wandte sie sich hastig ab, sodass sie nur ein bisschen schwabbelndes, delliges Fleisch sah.
Aber heute würde sie sich so lange nackt vor den Spiegel stellen, bis sich all ihre Selbstzweifel, ihr Selbsthass, ihre Komplexe verflüchtigt hatten. Bis sie endlich sah, was alle anderen sahen, wenn sie sie betrachteten.
Es dauerte eine Weile, bis die Neve von vor drei Jahren, ihr ständiger schattenhafter Begleiter, verblasst war. Und es dauerte noch länger, bis sie es endlich schaffte, ihren Körper als Ganzes zu betrachten, statt sich auf einzelne Stellen zu konzentrieren.
Eigentlich siehst du gar nicht so übel aus.
Sie sah aus wie eine Frau, die auf die Hälfte ihres früheren Gewichts geschrumpft war, und die Folgen dieses Kampfes ließen sich nicht verhehlen. Oberschenkel, Arme, Bauch und Po würden nie straff, glatt und muskulös sein. Niemals. Ihre Haut war schlaff und dellig wie eine Salami, ihre Brüste sahen aus wie zwei Luftballons, aus denen die Luft entwich, und ihr gesamter Körper war von Dehnungsstreifen überzogen.
Je länger sie sich betrachtete, desto mehr Details fielen ihr auf. Als sie sich umdrehte und über ihre Schulter spähte, sah sie ihre Schulterblätter, die Wirbelsäule, zwei Pobacken statt vier wie früher, und wenn sie die Beine anspannte, konnte man die Muskeln in ihren Waden und Oberschenkeln erkennen. Sie hatte eine Wespentaille und schlanke Hand- und Fußgelenke, und wenn sie die Arme über den Kopf hob, wirkte ihr Körper straff und fest.
Ihr Körper war nicht perfekt, aber sie hatte ihn sich verdient. Nicht nur mit all den Schokoriegeln und Chips und all den Mahlzeiten, die sie bis zum heutigen Tag verdrückt hatte, sondern auch mit den unzähligen Stunden, die sie im Fitnesscenter oder auf ihrem Fahrrad verbracht hatte. Mit den zwei Litern Wasser, die sie täglich getrunken hatte. Mit dem Obst und Gemüse, das sie lieben gelernt hatte, und zwar nicht nur als Garnierung einer Blätterteigpastete. Sie hatte diesen Körper verdient.
Mit diesem Körper konnte sie beim Yoga einen tadellosen Herabschauenden Hund machen. Sie konnte zum Bus sprinten und passte in einen Kinositz. Sie konnte die Beine überkreuzen und sich in einem überfüllten Café zwischen den Tischen hindurchquetschen. Sie konnte in jedes durchschnittliche Damenmodengeschäft in ihrem Viertel gehen und sich etwas zum Anziehen kaufen, ohne verschämt nach hinten in die Übergrößenabteilung schleichen zu müssen.
Es war ihr Körper, und sie musste aufhören, so hart mit ihm ins Gericht zu gehen.
Doch Neve wusste auch, dass er nicht immer so aussehen würde. Kleidergröße 40 war und blieb eine Illusion. Sobald sie wieder normal aß und trank, würde sie sich die sechs Kilo, die sie im Rahmen der Kur abgenommen hatte, wieder anfuttern. Sie wartete darauf, von einer Welle der Panik erfasst zu werden, doch die Welle blieb aus. Neve stand noch eine Weile auf ihrer weißen Badematte und starrte ihr Spiegelbild an, und je länger sie das tat, desto normaler kam ihr ihr Anblick vor, und die Vertrautheit nahm ihm die Macht, sie zu lähmen.
Sie würde anfangen, wieder normal zu essen und wieder Kleidergröße 42 tragen, oder vielleicht sogar 44 – diese Entscheidung überließ sie ihrem Körper. Dann würde sie Gustav so lange nachstellen, bis er sich bereit erklärte, ein neues Trainingsprogramm für sie auszuarbeiten, damit sie sich auf sichere, vernünftige Weise wieder auf Größe 42 hinunterarbeiten und ihr Gewicht halten konnte. Vermutlich würde er sie zwingen, eine eidesstattliche Erklärung zu unterschreiben, in der sie sich verpflichtete, bis an ihr Lebensende nie wieder einen Entschlackungsdrink zu sich zu nehmen.
Sie bat ihren Körper ein letztes Mal stumm um Verzeihung, dann wickelte sie sich wieder in ihr Badetuch und tappte ins Schlafzimmer. Allmählich dämmerte ihr, dass ihre Fixierung auf das Ziel, in ein Kleid Größe 38 zu passen, nur eine weitere Ausrede dafür gewesen war, ihr Leben auf die lange Bank zu schieben, statt es zu leben und das Risiko auf sich zu nehmen, dass sie verletzt wurde.
Auf den ersten Blick war alles ganz einfach. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Drei Mahlzeiten pro Tag, dazwischen zwei gesunde Snacks und mindestens eine Stunde Sport an fünf oder sechs Tagen die Woche. Worauf sie sich jetzt konzentrieren musste, war ihr Innenleben, weil sie nämlich ganz offensichtlich einen kleinen Dachschaden hatte.
Aber sie würde die Tatsache, dass die Knäuel in ihren Gehirnwindungen dringend entwirrt werden mussten, nicht als Ausrede vorbringen, um ihr Leben erneut nur auf Sparflamme zu leben. Gleich morgen früh, oder im Laufe des Vormittags, würde sie sich auf den Weg nach Crouch End machen. Zu Max.
Und bei ihm würde sie bedeutend mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen als bei Gustav.
Sie würde mit einer inbrünstigen Entschuldigung beginnen und ihn, falls er sich unversöhnlich gab, ausgiebig umschmeicheln, wenn nötigt gefolgt von einem Kniefall. Sollte das alles nichts nützen, so würde sie ihn in die Arme nehmen und ihn so lange küssen, bis er begriffen hatte, dass sie zusammengehörten und dass Pfannkuchenbeziehungen total out waren und dass sie beide bereit waren für eine richtige Beziehung.
Sie ging nackt ins Bett (denn das gehörte nun einmal zu den Dingen, die man tat, wenn man bereit für eine Beziehung war) und lag eine Weile in der Dunkelheit da, konnte aber nicht einschlafen. Immer wieder schüttelte sie ihr Kissen auf und wälzte sich von einer Seite auf die andere.
Jetzt, da sie all diese großen, wichtigen Entscheidungen in Bezug auf ihre Zukunft getroffen hatte, wollte sie sie am liebsten gleich in die Tat umsetzen. Der Gedanke an Gustavs teutonischen Zorn war zwar alles andere als verlockend, und bei der Vorstellung, Max in ein paar Stunden einen Besuch abzustatten, brach ihr der kalte Schweiß aus vor Angst, aber schon sein Gesicht zu erblicken, würde so schön sein wie alle jemals erhaltenen Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke zusammengenommen.
Vor allem aber konnte Neve nicht schlafen, weil sie Hunger hatte. Es fühlte sich so an, als hätte ihr Magen angefangen, sich selbst zu verdauen, was gut sein konnte, denn es war jetzt zwölf Stunden her, seit sie sich ihren Mittags-Shake zu Gemüte geführt hatte, und in ihrer Küche gab es nichts Essbares außer zwei Zitronen und einem Glas Meerrettich.
Es sprach doch eigentlich nichts dagegen, wenn sie jetzt gleich anfing, sich wieder vernünftig zu ernähren. Sie schlug die Bettdecke zurück. Sie könnte im 24-Stunden-Lebensmittelladen in der Seven Sisters Road einen Laib Vollkornbrot und eine Schachtel Eier kaufen, und wenn es Tomaten gab, konnte sie sich ein Omelette machen.
Sie zog Slip und BH an, dann griff sie nach ihrem neuen rosaroten Trainingsanzug von Juicy Couture. Um drei Uhr morgens würde sie wohl kaum jemandem begegnen, den sie kannte. Sie zog den Reißverschluss zu. Wow, echt bequem, und der Nickisamt fühlte sich unheimlich weich und kuschelig an. Kein Wunder, dass Charlotte die Dinger so liebte und einen in jeder Farbe hatte.
Sie schob den verletzten Fuß vorsichtig in einen Flipflop, schnappte sich Portemonnaie und Schlüsselbund und schlich ins Erdgeschoss hinunter. Um diese Uhrzeit die Treppe hinunterzutrampeln wäre definitiv ein Verstoß gegen ihre Waffenruhe gewesen.
Auf dem Weg zur Tür konnte sie nur an ihr Omelette und die zwei Scheiben Toast denken, die sie in dreißig Minuten essen würde. Zwanzig, wenn sie sich beeilte.
Doch als sie die Haustür öffnete und eine zusammengekauerte Gestalt draußen auf der Treppe sitzen sah, wusste sie, dass das Omelette warten konnte.