Kapitel 33
Als Max zurückkam, war das Wetter in London so toll, dass sogar die zugenagelten Schaufenster in der Stroud Green Road hübsch aussahen, weil die Metallgitter davor die Sonne reflektierten. Neve kam es fast so vor, als wäre sie auch in LA. Sie nahmen das Abendessen entweder bei Max auf der Dachterrasse ein oder kletterten bei ihr die Feuertreppe hinunter in den Gemeinschaftsgarten. Dort liefen sie jedoch stets Gefahr, Charlotte zu begegnen, die gerne mal mit einem vielsagenden Blick ihre Wäsche von der Leine nahm oder mit ihren bissigen Bemerkungen über Neve und die schäbigen Gartenmöbel nervte, weshalb Neve die Dachterrasse in Crouch End vorzog.
Sie fühlte sich die ganze Woche total benebelt vor Müdigkeit, denn Max litt unter dem Jetlag und wachte oft mitten in der Nacht auf, und wenn er erst einmal wach war, dauerte es meist nicht lange, bis auch Neve munter wurde, weil er allerlei herrliche Dinge mit ihr anstellte. Dazu kam, dass sie abends spät ins Bett ging und morgens noch früher aufstand, um an Kapitel sieben ihrer Biografie zu arbeiten, wobei sie versuchte, sich an Philips konstruktiver und an Jacob Morrisons vernichtender Kritik zu orientieren. Wenn sie sich nicht in Lucy Keeners Welt vertiefte, dann war sie entweder mit Max im Bett oder im Archiv, sprich, zum Schlafen blieb denkbar wenig Zeit.
Von ihrer gesunden Gesichtsfarbe, die sie bis jetzt als Selbstverständlichkeit betrachtet hatte, war bald nicht mehr viel übrig. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben.
Trotzdem nickte sie am Freitagnachmittag beim Transkribieren ein und fuhr erschrocken hoch, als ihr Chloe einen Besuch in ihrem Kämmerchen abstattete. »Ich kann nicht fassen, dass ihr immer noch in der Phase seid, in der man kaum zum Schlafen kommt«, sagte Chloe. »Lässt der Reiz des Neuen nicht allmählich nach?«
Neve gähnte. »Du würdest auch einschlafen, wenn du dir stundenlang Lavinia Marjoribanks Gejammer darüber anhören müsstest, dass sie sich ihre literarische Karriere verbaut hat, weil sie Vita Sackville-West nicht erhört hat.«
»Das klingt doch recht spannend – lesbische Eskapaden unter den Mitgliedern der Bloomsbury-Truppe.« Chloe ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. »Verrät sie irgendwelche intimen Details über Virginia Woolf?«
»Glaub mir, bei einer derart monotonen Stimme würde sogar die Beschreibung eines flotten Dreiers mit George Clooney und Clive Owen zum Gähnen langweilig klingen.« Neve rieb sich die Augen und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. »Mir ist richtig schlecht vor Erschöpfung.«
»Arme Neve. Vielleicht solltest du deinem Pseudo-Freund vorschlagen, dass ihr mal eine Nacht getrennt verbringt, damit du deinen dringend nötigen Schönheitsschlaf kriegst.« Chloe nahm eines der Bücher aus der Chalet-School-Serie zur Hand, das auf Neves Schreibtisch lag. »Die hat mich meine Mutter früher nicht lesen lassen, weil sie angeblich so reaktionär und oberflächlich sind.«
»Das ist eine grobe Verallgemeinerung, und Max ist nicht mein Pseudo-Freund, sondern mein provisorischer Freund. Das ist etwas völlig anderes.« Neve streckte die Arme über den Kopf. »Ich schätze, es könnte nicht schaden, wenn ich mal eine Nacht allein schlafe. Am Wochenende sehe ich Max ohnehin wieder.«
Chloe hatte angefangen, in dem Buch zu blättern. »Dafür, dass er bloß ein provisorischer Freund ist, verbringt ihr aber ziemlich viel Zeit miteinander«, bemerkte sie abwesend. »Wie ist der Sex?«
»Unglaublich.« Für eine ausweichende Antwort fehlte Neve die Energie.
»Also, wenn ich einen provisorischen Freund mit einem tollen Job hätte, der mir regelmäßig einen Orgasmus beschert, dann würde ich in Erwägung ziehen, ihn zu meinem festen Freund zu machen«, sagte Chloe. »Ich meine, dieser William ist seit einer Ewigkeit weg, und im Grunde genommen ist er eine große Unbekannte. Bei Max weißt du wenigstens, was dich erwartet.«
Es war ein Dilemma, das Neve immer wieder erfolgreich verdrängte. An sich kam es ihr völlig naheliegend vor, mit Max zusammenzubleiben, bis ihr wieder einfiel, dass er ja vor Beziehungen zurückschreckte. Und auch für den Fall, dass er seine Meinung inzwischen geändert haben sollte: Sie wollte nicht den Rest ihres Lebens die Frage »Was wäre gewesen, wenn …?« in fetten Großbuchstaben über Williams Kopf schweben sehen, wann immer sie an ihn dachte.
»Schade, dass man Männer nicht einfach vorkosten kann, so wie die Aufstriche am Feinkosttresen im Supermarkt«, brummelte Neve. »Ich habe mich sechs Jahre danach gesehnt, mit William zusammenzukommen. Das ist fast ein Viertel meines Lebens. Und außerdem reißt sich Max bloß zusammen, weil er weiß, dass es nur vorübergehend ist.«
»Tja, wie es aussieht, kannst du nur verlieren. Ich hasse solche Situationen.« Das war nicht besonders hilfreich. Chloe tippte Neve mit dem Buch auf die Schulter. »Kann ich mir das ausleihen?«
»Nur zu.« Neve nickte und griff zum Telefon. »Ich rufe Max an. Wenn das so weitergeht, schlafe ich demnächst auf dem Fahrrad ein.«
Max war kein bisschen beleidigt, als Neve ihm mitteilte, dass sie die Nacht allein zu verbringen gedachte. »Gott sei Dank«, lautete seine wenig schmeichelhafte Reaktion. »Ich bin total geschlaucht. Ich habe gerade eine halbe Stunde meinen iPod gesucht. Stell dir vor, er lag im Kühlschrank.«
»Und es macht dir wirklich nichts aus?«, hakte Neve nach. Es sollte ihm etwas ausmachen. Wenn Max nicht einmal zwölf Stunden ohne sie leben konnte, dann war das vielleicht ein Zeichen, dass sie zusammengehörten.
»Überhaupt nicht«, versicherte er ihr fröhlich. »Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass Keith ein Männerabend mal ganz guttun würde.«
Auf dem Nachhauseweg ließ sich Neve ihre Unterhaltung noch einmal gründlich durch den Kopf gehen und suchte vergeblich nach einem verborgenen Hinweis darauf, dass Max untröstlich war, weil er eine Nacht ohne sie auskommen musste.
Zu Hause angekommen sperrte sie ihr Fahrrad ab und fischte das Handy aus der Tasche, um nachzusehen, ob er sich nicht doch noch einmal gemeldet hatte. Nichts, außer einer SMS von ihrem Anbieter, in der es hieß, man habe ihr die Telefonrechnung online bereitgestellt. Sie starrte noch immer voller Hoffnung auf das Display, als die Haustür aufschwang und Charlotte hereinkam.
Es war zu spät, um die Flucht zu ergreifen, also klopfte Neve auf ihren Fahrradsattel und begrüßte ihre Schwägerin mit einem »Oh, hi.«
Charlotte schnitt die übliche Grimasse und fauchte: »Immer stellst du mit deinem dämlichen Rad den Korridor voll.«
Neve breitete die Arme aus. »Tu ich nicht. Hier sind noch fast zwei Meter Platz.«
Es war schwer zu sagen, wen von ihnen ihre Widerworte mehr überraschten, doch Charlotte hatte sich gleich wieder gefangen. »Von wegen. Und gestern hast du den ganzen Tag die Wäscheleine in Beschlag genommen. Das ist nicht dein Privatgarten; er ist für uns alle da, und auf der Leine war kein Platz mehr, weil deine Kleider so riesig sind«, ätzte sie mit einem vielsagenden Blick auf Neves Hüften, damit ihre spitze Bemerkung auch ja richtig ankam.
»Es waren keine Kleider, sondern meine Bettwäsche, und …« Neve brach ab. Vernünftige Argumente waren bei Charlotte ungefähr so wirkungsvoll wie ein Glas Wasser bei einem Waldbrand. »Ach, vergiss es. Ich habe keine Zeit für diesen Mist.«
Damit ließ sie sie einfach stehen und marschierte die Treppe hinauf, während Charlotte noch ein paar Mal den Mund auf- und zuklappte. Als Neve auf dem obersten Treppenabsatz ankam, knallte Charlotte ihre Wohnungstür so heftig zu, dass das ganze Haus wackelte.
Die erwartete Klopf-Session von unten blieb jedoch aus, vermutlich, weil ein paar Minuten später Douglas nach Hause kam. Neve zog sich aus und fiel in ihr frisch bezogenes Bett, und nach einem Kapitel von The New Mistress at the Chalet School war sie eingeschlummert.
Als sie zwei Stunden später vom Klingeln ihres Handys aus dem Schlaf gerissen wurde, war sie einen Augenblick lang verwirrt, weil es draußen noch hell war. Sie richtete sich auf und tappte nach dem iPhone.
»Du hältst es wohl nicht mehr als zwei Stunden ohne mich aus, wie?«, fragte sie in einem aufreizenden Tonfall.
»Neve?«, sagte eine vertraute Stimme, und sie gehörte nicht Max. »Ich bin’s, William.«
Eben war ihr noch heiß gewesen, jetzt fröstelte sie plötzlich. Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, obwohl sie allein war. Hätte jetzt ein nackter Max neben ihr gelegen, sie wäre vermutlich vor Scham gestorben.
»Neve? Ist dort Neve Slater?«
»Ja«, erwiderte sie vorsichtig. »Ich habe nur nicht mit einem Anruf von dir gerechnet.«
»Ich dachte schon, ich hätte mich verwählt. Geht es dir gut?« Seiner glasklare Artikulation und seine vornehme Aussprache ließen Neve erneut schaudern.
»Ja, alles bestens. Ich bin bloß … ähm … überrascht über deinen Anruf«, improvisierte sie hastig und kletterte aus dem Bett, um nervös im Schlafzimmer auf und ab zu gehen. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht wirkte verschlafen, die Haare standen ihr in allen Richtungen vom Kopf ab.
»Stör ich? Bist du gerade anderweitig beschäftigt?«
Neve schnitt eine Grimasse. Er ahnte ja gar nicht, wie sehr seine Aussage ins Schwarze traf. »Nein, nein, keine Sorge. Ich dachte nur, wir würden am Sonntag in einer Woche telefonieren. Ist alles in Ordnung?« Sie runzelte die Stirn. »Oder bist du etwa schon in England? Du hattest doch gesagt, du würdest erst Mitte Juli kommen, und wir haben noch nicht einmal Ende Juni.«
»Ich bin tatsächlich bereits in London, aber nur ganz kurz. Morgen früh muss ich noch einmal nach LA«, eröffnete ihr William, und Neve schloss die Augen und musste sich an die Wand lehnen. Er durfte noch nicht wieder da sein. Sie passte noch nicht in Kleidergröße 38, und sie war noch nicht bereit, mit Max Schluss zu machen, und … auch sonst war sie noch nicht bereit. »Ich weiß, das ist ziemlich kurzfristig, aber könnten wir uns auf einen Drink treffen?«
»Was, jetzt? Heute Abend?«
»Weißt du was? Du klingst irgendwie anders als früher«, bemerkte William, als könnte er hören, dass ihr vor Schreck richtig übel geworden war. »Weniger … atemlos. Darauf will ich dich schon eine ganze Weile ansprechen.«
»Also für mich klinge genau wie immer. Naja, man hört ja selten seine eigene Stimme, außer vielleicht auf dem Anrufbeantworter oder so …« Neve schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, um ihr Denkvermögen etwas anzkurbeln. »Entschuldige, wo waren wir gerade? Ach ja, du wolltest wissen, ob wir uns treffen können.« Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte halb neun. Drei Jahre lang hatte sie auf diesen Moment gewartet, und jetzt, da er ein paar Wochen früher als geplant eintrat, suchte sie krampfhaft nach einem triftigen Grund, um ihn noch etwas hinauszuschieben. Leider fiel ihr beim besten Willen keiner ein. »Naja, ich könnte so gegen zehn in der Stadt sein …«
William machte »Hmm«, wie immer, wenn er überlegte. »Das ist reichlich spät, nicht? Also, ich würde dich wirklich furchtbar gern sehen …« Genau das hatte Neve hören wollen. Unzählige Male hatte sie sich ausgemalt, dass er diese Worte sagen würde, doch nun riefen sie bei ihr eine solche Hysterie hervor, dass sie fürchtete, sich gleich auf ihren Schlafzimmerteppich übergeben zu müssen. »Aber das wird mir jetzt etwas zu knapp. Macht es dir etwas aus, wenn wir bis zu meiner endgültigen Rückkehr warten?«
Neve sackte erleichert in sich zusammen. Ihre Beine gaben nach, sodass sie an der Wand entlang zu Boden rutschte. »Tja, das ist wohl das Sinnvollste. Schade, ich hätte dich auch gern gesehen«, sagte sie, und in diesem Augenblick verabscheute sie sich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt, einschließlich Charlotte. »Telefonieren wir dann wie gehabt am Sonntag in einer Woche?«
»Ähm, das wird schwierig werden. Ich werde noch eine kleine Rundreise machen … ähm … mit jemandem aus LA … Quasi zum Abschied«, sagte William. »Ich freue mich schon riesig darauf. Wir starten in Kalifornien, wo sonst, und wir besichtigen John Steinbecks Haus in Salinas und natürlich auch die Henry Miller Memorial Library in Big Sur.«
Eine halbe Stunde später war William endlich am Ziel seiner Reise angelangt, nämlich in New England, wo er der Stadt Concord unbedingt einen Besuch abstatten wollte. »Stell dir vor, dort haben nicht nur Thoreau, Emerson und Hawthorne gelebt, sondern auch Louisa May Alcott!«
»Klingt toll.« Immerhin das war ehrlich gemeint. Neve gestattete sich eine kleine Fantasie, in der sie – irgendwann in ferner Zukunft, wenn Max bestenfalls ein guter Freund, schlimmstenfalls eine schmerzliche Erinnerung für sie sein würde – mit einer Straßenkarte in der Hand neben William im Auto sitzen und all diese Orte mit ihm besuchen würde. Sie würde allerdings auf einem Abstecher nach Amherst bestehen, damit sie Emily Dickinson ein paar Blümchen aufs Grab legen konnte. »Da werde ich ja ganz neidisch. Ich bin gespannt auf deinen Bericht. Rufst du mich von unterwegs mal an?«
»Wie gesagt, das dürfte schwierig werden. Ich werde viel Zeit im Auto verbringen und in irgendwelchen schmuddeligen Motels übernachten, und außerdem bin ich ja nicht allein unterwegs … Ich melde mich wieder, wenn ich in London bin«, sagte er rasch, und es klang irgendwie verdächtig – möglicherweise nur deshalb, weil Neve sich zum ersten Mal wünschte, dass er auch Geheimnisse und Makel hatte, denn dann müsste sie sich nicht ganz so schlecht fühlen. »Aber ich schreibe dir ganz viele Postkarten.«
»Das wäre schön.« Neve schluckte. Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Nun, dann sehen wir uns ja bald.«
»Sehr bald, und nächstes Mal bekommst du 24 Stunden Vorlaufzeit.« William gluckste. Blieb nur zu hoffen, dass das ein Scherz war, denn sie brauchte mindestens zwei Wochen Vorlaufzeit, um sich geistig und körperlich vorzubereiten. »Ich hatte gerade mal 48 Stunden, um mich für diesen Kurztrip in die Heimat zu rüsten. Ich hätte dich wirklich gern getroffen, aber es war alles ziemlich hektisch.«
»Schon gut.« Neve unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. »Ich war im Archiv ziemlich beschäftigt, und ich schrei…«
»Ja, ich weiß, wie sehr du dich für deine toten Schriftsteller ins Zeug legst. Ich wollte dich eigentlich noch etwas Wichtiges fragen, aber das kann auch warten, bis ich wieder in London bin.«
Jetzt war unversehens Neves Neugier geweckt. »Was denn?«
»Das ist eine Überraschung. Eine angenehme Überraschung.« Neve hatte ganz vergessen, wie warmherzig seine Stimme klingen konnte. Er konnte einem das Gefühl geben, der wichtigste Mensch auf der Welt zu sein – oder zumindest der wichtigste Mensch in seiner Welt. »Soll ich raten?«
»Ach, lass mal. Es ist so abwegig, das errätst du nie. No chance.« Er gluckste erneut, und Neve musste grinsen.
»No chance? Haben deine amerikanischen Studenten etwa auf dich abgefärbt?«
»Yo, man.«
Jetzt lachten sie beide. Es war albern, und obendrein abwegig bis dorthinaus, aber vielleicht hatte sich all ihre harte Arbeit ja doch gelohnt. Vielleicht ging ihre Hoffnung tatsächlich in Erfüllung und William erwiderte ihre Gefühle. Vielleicht lautete die mysteriöse Frage, die er ihr stellen wollte: »Neve, willst du mit mir gehen?« Zugegeben, diese Formulierung klang eher nach pickligem Teenager als nach Universitätsdozent, aber …
»Also, du stehst ganz oben auf meiner To-do-Liste«, sagte nun der echte William gerade, und Neve verabschiedete sich widerwillig von ihrer Zukunftsvision, in der William zu ihrem ersten offiziellen Date mit einem riesigen, aber sehr geschmackvollen Strauß weißer Rosen aufkreuzte. »Um die zweite Juliwoche bin ich zurück.«
In etwa drei Wochen also. Diese Erkenntnis ließ sie sämtliche Gedanken an erste Verabredungen und weiße Rosen auf der Stelle vergessen. Selbst wenn sie einen Chirurgen auftrieb, der ihr noch heute Nacht ein Magenband einsetzte, reichten drei Wochen nicht aus, um fast zehn Kilo abzunehmen und um zwei ganze Kleidergrößen zu schrumpfen. »Okay«, sagte sie matt. »Ich freu mich drauf.«
»Ich kann es auch kaum erwarten«, sagte William begeistert. »Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen.«
Neve wünschte ihm eine schöne Reise, murmelte einen Abschiedsgruß und wartete ab, bis er aufgelegt hatte, dann ließ sie sich rücklings auf das Bett plumpsen. Sie war so knapp davor, alles zu bekommen, das sie sich je gewünscht hatte. Aber warum fühlte es sich so an, als würde sie alles verlieren?
Wenn sie mit William zusammensein wollte, musste sie sich von Max trennen.
Du hast noch drei Wochen, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf hartnäckig, doch Neve blendete sie aus. Sie konnte nicht einfach so weitermachen, ohne Max Bescheid zu sagen. Das wäre nicht fair. Sie hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt, und genauso würde sie es auch beenden. Und sie würde es rasch tun, auch wenn sie zu den Leuten gehörte, die gute fünf Minuten brauchen, um ein Pflaster abzureißen.
Sie sprang vom Bett auf, suchte ein sauberes Paar Socken und schlüpfte in ihre Turnschuhe, und dann machte sie sich in T-Shirt und Pyjamahose auf den Weg.
Draußen war es kühl, die Sonne verschwand gerade hinter ein paar dunklen, schmutzig wirkenden Wolken, aber Neve bemerkte gar nicht, dass sie an den Armen eine Gänsehaut bekam. Sie bog in die Stroud Green Road ein, wurde immer schneller und legte die Strecke nach Crouch End, die sie so oft gemütlich gejoggt war, in Rekordtempo zurück. Als sie die Straße erreicht hatte, in der Max wohnte, versuchte sie, die Geschwindigkeit etwas zu drosseln, aber ihr Gehirn wollte den Befehl partout nicht an die Beine weitergeben. Mit einem Hops sprang (sprang!) sie über die Gartenmauer, hastete das kurze Stück bis zum Haus und wäre beinahe gegen die Tür gerannt.
Als sie nach dem Schlüssel tastete, den Max für sie hatte nachmachen lassen, stellte sie fest, dass ihre Pyjamahose gar keine Taschen hatte, und erst da wurde ihr klar, dass sie ihre Wohnung verlassen hatte, ohne die Tür zuzusperren. Sie klingelte. Hoffentlich hatte Max seine Pläne nicht geändert und war tatsächlich ins Bett gegangen … Andererseits schlief er wie ein Toter, wenn er richtig müde war. Sie drückte erneut auf die Klingel und ließ den Finger dort, bis sie hörte, wie drinnen jemanden die Treppe hinuntertrampelte.
Die Tür schwang auf. »Das war flott«, sagte Max. »Ich habe die SMS doch erst vor fünf Minuten abgeschickt.«
»Ich habe keine SMS bekommen«, keuchte Neve und beugte sich vornüber, die Hände auf die Knie gestützt.
»Ha! Ich wusste doch, dass du zuerst weich wirst«, krähte er. Dann trat er barfuß über die Schwelle und legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Ist alles okay, Süße?«
»Nein.« Neve richtete sich auf. Ihr Atem ging stoßweise, aber ansonsten kam jetzt, da sie vor Max stand, nichts aus ihrem Mund. Er trug ein uraltes T-Shirt und gepunktete Boxershorts, und sein sonniges Lächeln war einer besorgten Miene gewichen, aber er wirkte trotzdem attraktiv wie eh und je. Ein Mann, der eigentlich in einer ganz anderen Liga spielte als sie. Eigentlich. Denn noch gehörte er ihr, und Neve wusste, dass es falsch war und dass sie sich damit haufenweise schlechtes Karma auflud, aber sie krächzte: »Nimm mich in die Arme.«
Er kam ihrer Bitte auf der Stelle nach, und er küsste ihre schweißnasse Stirn und strich ihr ein paar feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich dachte, du bist gekommen, weil ich dir gefehlt habe, aber das ist es nicht, oder?« Neve vergrub den Kopf an seiner Schulter und hoffte, dass das als Antwort ausreichte. »Hattest du mal wieder Zoff mit der Schwägerin aus der Hölle?«
»Ja, hatte ich«, murmelte sie, und es stimmte ja auch.
»Hat sie Wunden hinterlassen, die ich gesundküssen soll?«
Neve hob den Kopf, um seine hübschen braunen Augen, seine Wangenknochen und seine krumme Nase zu betrachten. Ihr blieb nicht mehr allzu viel Zeit, um sich alles genau einzuprägen. »Ja, aber die sind eher seelischer Natur.«
Selbst sein anzügliches Grinsen wirkte hübsch. »Dann küsse ich eben die, und gerne auch alle anderen Stellen, an denen du geküsst werden möchtest.« Er deutete auf die offene Tür.
»Nach dir, Süße.«