Kapitel 20

Als Neve am darauffolgenden Nachmittag einem blassen, unrasierten, rotäugigen Max die Tür öffnete, war ihr nicht zum Lächeln zumute. »Du kommst zwei Stunden zu spät, und du siehst furchtbar aus«, sagte sie und ging in die Knie, um Keith zu streicheln.

»Genauso fühle mich auch«, klagte er. »Ich habe einen unglaublichen Kater. Ich dachte, die frische Luft würde mir gut tun, aber ich will bloß noch sterben.«

»Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben, also erwarte von mir kein Mitleid.« Neve trat zur Seite, und er torkelte über die Schwelle. »Gut, dass ich das Hühnchen erst jetzt ins Backrohr gestellt habe.« Sie errötete leicht, denn dieser Umstand war in Wahrheit auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie zwei Stunden lang vergeblich versucht hatte, Yorkshire-Pudding zu machen, und dann hatte William ihr überraschend eine Mail aus Rhode Island geschrieben, wo er einen Vortrag hielt, und sie bei der Zitatrecherche um Hilfe gebeten.

»Ich glaube kaum, dass ich schon etwas essen kann.« Max ließ sich auf die unterste Stufe plumpsen. »Werde ich wohl je lernen, dass man Bier und Wein nicht mischen darf?«

Na toll, und was sollte sie jetzt mit ihrem liebevoll gefüllten und dressierten Bio-Hähnchen machen? Neve spürte, wie sich all die positiven Gefühle, die sie nach ihrem letzen Telefonat verspürt hatte, rapide verflüchtigten, aber sie hielt sich zurück.

»Ich kriege höchstens einen Espresso runter«, sagte Max mit kläglicher Stimme. Im selben Moment schwang die Tür im Erdgeschoss auf.

»Macht nicht so einen Krach«, bellte Celia. »Ich habe einen Kater und außerdem Jetlag, und auf Pärchen-Zoff habe ich jetzt wirklich keinen Bock.«

»Wir sind kein Pärchen«, fauchte Neve. »Und nach dem Flug von Berlin nach London wirst du wohl kaum Jetlag haben.«

»Und ob.« Celia schnüffelte. »Hmmm, was riecht denn da so lecker? Ist das Brathühnchen? Kann ich mitessen?«

»Nein.« Max hob den Kopf und bedachte sie mit einem bösen Blick. »Das ist mein Geburtstagsessen, und wer mir keine Geschenke bringt, darf nicht mitessen.«

»Und du lässt zu, dass er so mit mir redet?«, sagte Celia, zu ihrer Schwester gewandt. »Bringst du mir eine Portion runter, wenn es fertig ist? Viele Kartoffeln und … Scheiße, was knurrt mich da an?«

Keith hatte sich bislang hinter Max versteckt und seinem Herrchen nun die Schnauze auf die Schulter gelegt, um nachzusehen, wo der ganze Lärm herkam. In Anbetracht der Tatsache, dass der Lärm maßgeblich von einem kreidebleichen Wesen ausging, dem die Haare in allen Richtungen vom Kopf abstanden, war sein Knurren und Ohrenanlegen eine durchaus verständliche Reaktion.

»Das ist Keith«, erklärte Neve. »Er gehört Max.« Sie streckte den Arm aus, um dem Hund den Kopf zu tätscheln, aber er zeigte sogar ihr die Zähne, bis sie ihm die flache Hand hinhielt, um ihm zu signalisieren, dass sie unbewaffnet war. »Er knurrt nur, weil du dich so feindselig verhältst. Er hat mehr Angst vor dir als du vor ihm.«

»Das sagen alle Hundebesitzer, ehe ihr Hund einem den Arm abbeißt.« Celia wich zurück, Keith knurrte weiter. »Ich lege mich jetzt wieder ins Bett. Schreib mir eine SMS, ehe du mir mein Essen bringst.« Damit knallte sie die Tür zu.

Neve und Max zuckten zusammen.

»Schaffst du’s die Treppe rauf, oder soll ich dir eine Decke und ein Kissen runterwerfen?«, fragte Neve unwirsch und schob sich an Max vorbei.

»Nein, es wird schon gehen«, sagte Max tapfer. »Ich muss mich bloß hinlegen.«

Es war sein Geburtstag, und wenn er den Tag damit zubringen wollte, seinen Kater zu kurieren, dann war das sein gutes Recht, aber Neve hatte allerlei Überraschungen für ihn geplant und dafür die Hälfte ihres Wochenbudgets ausgegeben, doch er marschierte, sobald er oben angelangt war, schnurstracks ins Wohnzimmer und ließ sich bäuchlings auf ihr Sofa fallen. Super.

»Kaffee«, nuschelte er. »Ich brauche Kaffee.«

Neve ließ sich Zeit, vor allem, weil in ihrer Mailbox eine weitere Nachricht von William auf sie wartete.

Du bist ein Engel und ein Lebensretter. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte, und ich hoffe, ich komme nie in die Verlegenheit, es herauszufinden.

William war wirklich ein Goldstück, jedenfalls verglichen mit Max, der es in ihrer Abwesenheit immerhin geschafft hatte, sich auf den Rücken zu drehen und die Füße – in Turnschuhen – auf ihrem Lieblingskissen abzulegen.

Sie stellte die Cafetière und eine Tasse auf den Couchtisch. »Kannst du dir selbst einschenken, oder soll ich das übernehmen?«, erkundigte sie sich gereizt.

»Heute darfst du mich nicht anpflaumen. Nicht, wo du mir noch nicht einmal gratuliert hast.«

Neve kapitulierte augenblicklich. »Entschuldige. Alles Gute zum Geburtstag.« Sie trat näher und zauste ihm vorsichtig die Haare. »Möchtest du eine Schmerztablette?«

»Ich möchte lieber meinen ersten Geburtstagskuss.« Er zog sie auf seinen Schoß, um sie gründlich zu küssen, wobei er die Zunge in ihren Mund tauchte, eine Hand auf ihre Brust legte und mit dem Daumen die Knospe massierte, die sich unter seiner Berührung artig aufstellte.

Das uralte Sofa knarzte laut, als Max sie an sich zog, sodass sie zwischen den Kissen und seinem heißen, harten Körper zu liegen kam. »Ich muss die Kartoffeln in den Ofen schieben«, keuchte sie, nachdem sie eine gefühlte Stunde lang herrliche, köstliche Küsse ausgetauscht hatten. Max hatte ihre Strickjacke aufgeknöpft, damit er durch ihr Kleid hindurch an ihren Nippeln saugen konnte, und jetzt klebte der Stoff an ihren Brüsten, die sich prall und schwer anfühlten. »Wie war das mit der Schmerztablette?«

Max lächelte, sein Gesicht Zentimeter von ihrem entfernt, und er sah atemberaubend sexy aus. Kaum zu glauben, dass er die kommenden Wochen ihr gehörte.

»Stell dir vor, Neve, deine Küsse können einen Kater kurieren.«

Sie errötete, und sein Lächeln wurde breiter, schelmischer, wie immer, wenn er sie aufzog. »Du brauchst also keine mehr, oder wie?«, fragte sie nach und schlug seine Hand weg, die schon wieder auf ihre Brust zusteuerte. »Ich kümmere mich schnell um die Kartoffeln.«

William hatte erneut ein paar Zeilen geschrieben – er wollte wissen, ob sie ein Podcast von Radio Four über Christina Rossetti gehört hatte –, und mit einem Mal meldete sich Neves schlechtes Gewissen. Auf der einen Seite William, dem ihr Herz gehörte, auf der anderen Seite Max, der rundheraus zugab, dass er weder treu noch verlässlich war und schon gar nicht bereit, sich auf mehr als eine kurze Affäre einzulassen. Jeder von ihnen spielte eine wichtige Rolle in ihrem Leben, aber es kam ihr falsch und absolut unpassend vor, Williams E-Mail zu beantworten, während sie vom Knutschen mit Max noch ganz benommen war und ihr die Lippen kribbelten.

Max schlummerte auf dem Sofa, Keith schlummerte in einem der Erker in der Sonne, also machte sich Neve daran, das Gemüse zu putzen und die Gläser zu polieren, und dabei ging sie im Geiste noch einmal jede erregende Erinnerung an jeden einzelnen von Max’ Küssen durch. Als sich das schlechte Gewissen zurückmeldete, versuchte sie, sich jedes einzelne von Williams Worten bei ihrem letzten Telefonat in Erinnerung zu rufen.

Nachdem sie Celia in einer SMS angekündigt hatte, dass sie ihr in zehn Minuten ihr Abendessen bringen würde, schlich Neve ins Wohnzimmer, um Max wach zu kitzeln. Doch er wirkte so süß und schutzlos, dass sie ihm stattdessen einen sanften Kuss auf den Mund hauchte.

Bis er verschlafen die Augen geöffnet hatte, stand sie bereits auf der Schwelle. »In fünf Minuten gibt es Essen.« Im selben Augenblick klopfte es nachdrücklich an der Tür. Celia musste ganz schön hungrig sein.

Es war tatsächlich Celia, und hinter ihr stand Douglas mit einer Tesco-Tüte in der Hand. »Los, los, lass uns rein.« Celia versuchte, sich an Neve vorbeizuschieben. »Ich habe einen RIESENhunger. Mein Magen glaubt schon, dass man mir die Kehle durchgeschnitten hat.«

»Alles klar, Schwesterherz?«, knurrte Douglas und verpasste Celia einen Schubs, sodass Neve keine andere Wahl hatte, als zur Seite zu treten und die beiden hereinzulassen.

»Hey, Neve, sag deiner Schwester, sie soll sich verpissen.« Max hatte sich zu ihnen gesellt, und auf einmal standen in ihrem winzigen Flur drei riesengroße Menschen und ein stämmiger Hund, der ständig ihre Schienbeine rammte.

»Ich bin Douglas, Neves Bruder«, sagte Douglas. Er würdigte Neve keines Blickes, sondern musterte Max und den Hund prüfend. »Ich schätze mal, du bist Neves Freund, und das ist wohl der Höllenhund.«

Max sagte nichts, obwohl es sein gutes Recht als mutmaßlicher Freund und Besitzer des mutmaßlichen Höllenhunds gewesen wäre, Douglas in die Schranken zu weisen. Was dann wohl das endgültige Aus des von Neve so sorgfältig geplanten perfekten Geburtstagssonntags gewesen wäre.

Sie atmete hörbar auf, als Max ein freundliches Lächeln aufsetzte und Douglas die Hand hinstreckte, sodass diesem nichts anderes übrig blieb, als sie zu schütteln. »Ich bin Max, und das ist Keith, aber das hat dir Celia bestimmt schon erzählt.«

Neve starrte Celia bitterböse an. »Ich habe doch klipp und klar gesagt, ich bringe dir einen Teller Essen runter. Was war daran so schwer zu verstehen?«

»Nichts, aber Max hat gesagt, wenn ich ihm ein Geschenk bringe, darf ich mitessen.«

»So habe ich das nicht gesagt.«

»Und dann ist mir Douglas über den Weg gelaufen, der gerade Strohwitwer ist, und der Duft deines Hühnchens quält ihn schon seit einer Stunde«, faselte Celia.

»Komm schon, Neve, unser letztes Familienessen ist schon ewig her, und ich hab mich am Geschenk beteiligt«, sagte Douglas.

»Das muss dann aber ein echt tolles Geschenk sein«, brummte Neve. Sie scheuchte ihre Geschwister in die Küche, hielt Max aber an seinem Pullover zurück. »Tut mir leid«, zischte sie ihm ins Ohr. »Ich richte ihnen zwei kleine Teller her und werfe sie raus.«

»Schon gut. Ich werde ein paar peinliche Geschichten aus deiner Kindheit aus ihnen herausquetschen.« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Und ich kriege mehr Geschenke. Alles bestens.«

Aber es war nicht alles bestens, im Gegenteil. Alle kamen ihr in die Quere, während Neve versuchte, letzte Hand ans Essen zu legen, und Keith unaufhörlich knurrte, weshalb sie ihn schließlich ins Wohnzimmer sperrten. Douglas holte einen zusätzlichen Stuhl aus seiner Wohnung, der erst mit antibakterieller Handlotion desinfiziert werden musste, weil er womöglich vor Charlotte-Keimen strotzte.

Als die drei endlich Ellbogen an Ellbogen und Knie an Knie um ihren winzigen Küchentisch versammelt saßen, knallte Neve das Hühnchen auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gebt Max eure Geschenke, dann gibt es Essen«, befahl sie.

Die Tesco-Tüte wechselte den Besitzer, und Max brachte daraus zwei Flaschen Cava zum Vorschein (der Doppelpack im Angebot für fünf Pfund, wie Neve wusste), des Weiteren eine Schachtel Pralinen von Quality Street und ein Paar Homer-Simpson-Socken.

»Ach du liebe Zeit, schämt ihr euch denn gar nicht?«

»An einem Sonntagnachmittag um vier sind die Optionen äußerst eingeschränkt.« Celia hielt sich wie ein bettelnder Hund die Hände vor die Brust. »Essen? Jetzt? Bitte?«

»Okay, okay.« Neve nahm seufzend das Brotmesser zur Hand, das heute als Tranchiermesser fungieren musste. »Aber ich bin echt sauer auf euch zwei.« Ihre Wut war nicht gespielt – sie musste ihre drei Ofenkartoffeln für das öffentliche Wohl opfern, und trotzdem würde es nicht für alle reichen. Das Bio-Hühnchen hatte mehr gekostet, als sie sonst für ein gutes Paar Schuhe ausgab, und sie hatte gehofft, sich davon noch mindestens eineinhalb Tage ernähren zu können.

Sie ließ sich auf den Platz zwischen ihren Geschwistern und gegenüber von Max plumpsen und begann, das Gemüse auf den Tellern zu verteilen, wobei sie Celias Beteuerung, sie sei gegen Brokkoli und Karotten allergisch, ignorierte.

Es war nicht das Sonntags-Dinner, das sie geplant hatte, und sie hatte auch nicht vor, die Kerzen anzuzünden, die sie extra gekauft hatte, und die Flasche Sekt, die im Kühlschrank stand, blieb zu, jawohl. Alles war ruiniert.

Während Celia ihr detailverliebt von ihrem Schäferstündchen mit einem Tattookünstler in Berlin berichtete, spießte Neve griesgrämig ihre Karotten auf und versuchte mit halbem Ohr der Unterhaltung zwischen Max und Douglas zu lauschen, für den Fall, dass Douglas anfing, Max nach seinen Absichten in Bezug auf sie zu befragen. Nicht, dass das sehr wahrscheinlich war – Douglas hatte es noch nie groß gekümmert, was sie trieb.

Schon dass er hier an ihrem Küchentisch saß und von ihrem bunt zusammengewürfelten Geschirr aß, war ein kleines Wunder. Wenn sie sich mal im Flur begegneten, fragte er nur rasch im Vorbeigehen: »Na, alles klar, Schwesterherz?«, ohne ihre Antwort abzuwarten. Im Grunde genommen hatten sie erst eine einzige ernsthafte Unterhaltung geführt, nämlich nachdem er und Charlotte sich in Las Vegas von einem Elvis-Imitator hatten trauen lassen.

»Meine Güte, das ist doch alles schon Jahre her«, hatte er sie angebrüllt, nachdem sie ihm zehn Minuten wortreich erklärt hatte, warum es sie so verletzte, dass er ausgerechnet Charlotte geheiratet hatte. »Dein Problem ist, dass du zu viel nachdenkst. Du solltest hin und wieder deine Bücher weglegen und das Haus verlassen.«

Er hatte leicht reden. Er war immer beliebt gewesen, stets lächelnd und fröhlich. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatten die Leute auf der Straße angehalten, um seine engelsgleichen Gesichtszüge zu bewundern. Er hatte dieselben markanten Wangenknochen wie Celia, jedoch kombiniert mit dem weicheren, weniger spitzen Slater-Kinn und der Slater-Nase. Größenmäßig kam er dafür nach ihrer Mutter, und sein kastanienbraunes Haar war so dunkel, dass man ihn nicht mit doofen Sprüchen über Rothaarige nerven konnte. Und selbst wenn, hätte er wohl einfach darüber gelacht, denn so war er eben. Neve krümmte sich innerlich und schämte sich für ihren Neid.

Sie musste ihm allerdings zugutehalten, dass er ihr gegenüber niemals auch nur ein abfälliges Wort über ihr Gewicht verloren hatte. Und wenn sie als Kind geweint hatte, weil ihr aufbrausender Vater sie wieder einmal angebrüllt hatte (und weil Neve eine richtige Heulsuse gewesen war), dann hatte Douglas für sie zum Trost Plätzchen aus der Plätzchendose geklaut. Außerdem war es bestimmt nicht lustig, mit Charlotte verheiratet zu sein und die Londoner Zweigstelle von Slater & Son General Builders zu leiten. Laut ihrem Vater (der es ihrer Mutter gesteckt hatte, die es wiederum Celia erzählt hatte, die es nicht erwarten hatte können, es Neve weiterzutratschen) stellte sich Douglas ziemlich dämlich an, weshalb man Onkel George aus Sheffield gebeten hatte, nach London zu kommen, damit er ein Auge auf die Vorgänge hier hatte.

Neve kam zu dem Schluss, dass Douglas eigentlich gar nicht so übel war, und als hätte er ihre Gedanken gelesen, hörte er auf, Prognosen bezüglich der Erfolgschancen von Arsenal im FA-Cup aufzustellen, und streckte beide Daumen hoch. »Erstklassiges Futter, Schwesterherz. Und dein Typ ist auch gar nicht so übel.«

»Tja, ich mag ihn«, sagte Neve milde, worauf Max sie anlächelte, als wäre das ein Insiderwitz, dessen Pointe nur sie beide kannten.

»Du bist so ruhig heute«, stellte er fest. »Alles okay?«

»In der Gegenwart von Douglas und mir kommt Neve selten zu Wort«, sagte Celia. »Und wenn dann auch noch Mum mit von der Partie ist, hat sie überhaupt keine Chance mehr. Mum redet wie ein Wasserfall. Dad sagt immer, wenn wir drei aufeiandertreffen, braucht man Ohrstöpsel.«

»Ja, er sagt oft tagelang nicht mehr als zehn Wörter. Weißt du noch, die Fahrt nach Morecambe, Celia?«, sagte Douglas.

Sie verdrehte die Augen. »Na, klar. Ich bin immer noch der Meinung, wir hätten den Fall beim Kinderschutzbund melden sollen.«

»Was ist denn auf der Fahrt nach Morecambe passiert?«, wollte Max wissen, und jetzt verdrehte Neve die Augen.

»Es ist eine dieser Geschichten, die total langweilig sind, wenn man sie nicht selbst miterlebt hat. Ich war dabei, und ich fand es ehrlich gesagt gar nicht sooo lustig.«

»Ja, weil du im Auto bleiben durftest«, erinnerte Douglas seine Schwester. »Also«, begann er, zu Max gewandt, »wir saßen in unserem Ford Mondeo und waren total überdreht, weil wir auf dem Weg in den Urlaub waren. Neve saß zwischen Celia und mir, mit ungefähr fünfzig Büchern …«

»Sie hat damals immer und überall diese Chalet-School-Romane gelesen, die in einem Mädcheninternat spielen …«

»Und Celia und ich haben irgendwelche Kinderspiele gespielt. Ich sehe was, was du nicht siehst; schwarze und weiße Autos zählen …«

»Ihr zwei habt euch von der ersten Minute an gezankt«, warf Neve ein. Bis jetzt nahm sich die Schilderung wie prophezeit ziemlich langweilig aus. »Und Mum hat sich alle fünf Sekunden umgedreht und gebrüllt: ‚Wenn ihr nicht endlich den Mund haltet, dann …«

»… setzt es eine ordentliche Kopfnuss«, krähten alle drei Slater-Geschwister im Chor.

Max tippte Neve mit der Fußspitze an. »Und was hast du inzwischen gemacht?«

»Ich habe versucht, Eustacia Goes to the Chalet School zu lesen, obwohl mir Celia ständig ihre Ballett-Barbie um die Ohren gehauen hat.«

Celia bemühte sich um eine reumütige Miene, während sie an einem Hühnerknochen nagte. »Ich muss zu meiner Verteidigung anführen, dass ich erst sechs war. Jedenfalls war Dad so genervt, dass er, als wir an einer Tankstelle hielten …«

»Wir mussten an jeder Tankstelle halten, weil Mum aufs Klo musste, sobald er den Motor gestartete hatte«, erklärte Douglas, obwohl Neve zu bezweifeln wagte, dass es ihrer Mutter recht war, wenn diese Information an die Öffentlichkeit gelangte, schon gar nicht am Sonntagabend beim Essen. »Celia und ich sind mitgegangen, weil ja alles besser ist, als im Auto sitzen zu bleiben, aber Neve hat sich nicht von der Stelle gerührt, weil sie unbedingt weiterlesen wollte. Und als wir zurückkamen, war der Wagen weg! Was sagt man dazu?«

»Ähm, keine Ahnung. Gab es mehrere Ausgänge, oder hattet ihr einfach die Orientierung verloren?«

»Von wegen!«, echauffierte sich Celia. »Dad ist einfach ohne uns weggefahren. Wir mussten uns eine geschlagene Stunde lang die Beine in den Bauch stehen, bis er zurückkam. Damals gab es noch keine Handys, und Mum wollte gerade von einer Telefonzelle aus die Polizei rufen, weil sie dachte, die beiden wären entführt worden. Da kam er schließlich angefahren, und wir durften erst einsteigen, nachdem wir ihm versprochen hatten, dass wir die Klappe halten würden.«

»Es waren bloß zwanzig Minuten«, korrigierte Neve sie. »Maximal eine halbe Stunde. Und wir sind nur auf die andere Seite der Tankstelle gefahren.«

»Ich finde es unglaublich, dass du ihn einfach ohne uns hast wegfahren lassen.« Das hatte Douglas bis heute nicht verwunden, obwohl es jetzt 17 Jahre her war.

»Ich habe doch gar nicht gemerkt, dass ihr nicht da wart!«, beteuerte Neve zum hundertsten Mal. »Ich war gerade bei dem Kapitel angelangt, in dem sie in einen Blizzard geraten und in einer Berghütte Zuflucht suchen müssen. Es war unheimlich spannend.«

»Erzähl Max, was ihr gemacht habt«, befahl Celia. Neve fand, dass ihre Entrüstung etwas dick aufgetragen wirkte, doch Max sah grinsend zwischen ihnen hin und her.

»Wir haben uns im Restaurant je eine Portion Rührei mit Pommes und Bohnen in Tomatensauce gegönnt und zum Nachtisch ein Cornetto, und dann hat Dad ein bisschen Zeitung gelesen, und ich mein Buch, und wir haben kein einziges Wort gewechselt«, berichtete Neve. »Es war herrlich.«

»Während wir uns mit labbrigen Käsesandwiches begnügen mussten«, setzte Douglas hinzu. »Und nachdem wir wieder eingestiegen waren, hielten wir es ganze fünf Minuten aus, still zu sein.«

»Zwei«, korrigierte ihn Neve trocken und betrachtete die Reste des Hühnchens. Wenn sie Glück hatte, konnte sie daraus noch eine Hühnersuppe kochen. »Seid ihr fertig?«

Sie hatten alle aufgegessen bis auf Max, der noch seine besonders knusprig aussehende Ofenkartoffel auf dem Teller liegen hatte. »Wenn du die nicht mehr isst, kann ich sie dann haben?«, fragte Celia und zielte bereits mit der Gabel darauf, doch er schlug ihre Hand weg.

»Nein. Die ist für Neve.«

Neve entging nicht, dass sich Celia und Douglas mit einem vielsagenden Blick angrinsten, während ihr Max das Prunkstück überreichte und sie die Augen schloss, um ihren kurzen Kohlehydrat-Glücksmoment ungestört genießen zu können.

»Danke«, sagte sie, als sie fertig war. Es gab noch Nachtisch, der allerdings nicht durch vier geteilt werden konnte, aber Neve stellte zu ihrer eigenen Verblüffung fest, dass sie nicht mehr das Bedürfnis verspürte, ihre Geschwister baldmöglichst rauszuwerfen. Sie musste sich widerstrebend eingestehen, dass es richtig schön gewesen war, mal wieder im Kreise der (halben) Familie zu essen, und Max würde bestimmt nicht seinen zweiten Cava opfern, wenn er Celia und Douglas hätte loswerden wollen.

»Ich hätte da mal eine Frage, was Neve angeht«, verkündete er, nachdem er die Flasche fachmännisch geöffnet hatte. Neve bemerkte ein verdächtiges Funkeln in seinen Augen, hatte aber keine allzu große Angst, dass es peinlich für sie werden könnte. Sie hatte ein untadeliges Leben geführt.

»Nämlich?« Douglas klang, als hätte er das Gefühl, die Ehre seiner Schwester verteidigen zu müssen. Wie süß, dachte Neve überrascht.

»Hat sie vor euch schon mal ›das F-Wort‹ verwendet, wie sie es nennt? Sie verwendet es ja nicht einmal dann, wenn sie erklärt, warum sie es nicht verwenden will«, meinte Max.

Celia grunzte belustigt.

»Ach, hör doch auf!« Neve versuchte, Max mit dem Topfhandschuh eins überzuziehen, doch er saß zu weit weg.

»Stimmt, Neve flucht echt höchst selten.« Celia schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht nachvollziehen, wie jemand ein Problem mit Schimpfwörtern haben konnte. »Wenn sie mal verdammt sagt, streiche ich den Tag rot im Kalender an.«

»Ach was, so extrem ist es nicht!«

»Da war allerdings dieses eine Mal …« Douglas lehnte sich mit einem süffisanten Grinsen auf dem Stuhl zurück.

»Was? Wann?« Neve warf Max einen »Du glaubst ihm doch hoffentlich nicht!«-Blick zu, aber seiner Miene nach zu urteilen, wollte er es glauben.

»Als du gerade aus Oxford zurück warst, hast du stundenlang an so einem Essay gesessen, und irgendwann bin ich aufgewacht, weil du ›Du verfickter, nutzloser Scheißcomputer‹ gekreischt hast.«

Celia schnappte nach Luft und setzte sich aufrecht hin. »Das hatte ich schon ganz vergessen! Der Tag, an dem Neve geflucht hat wie ein Kesselflicker. Der wird bestimmt noch zum gesetzlichen Feiertag erklärt.«

»Was sollte ich denn tun? Der Computer war einfach abgestürzt, und ich hatte mein Dokument nicht gespeichert.« Neve hielt sich den Topflappen vor das feuerrote Gesicht. »Ich plädiere auf mildernde Umstände.«

»Und das habt ihr nicht zufällig auf Video?«, keuchte Max, der sich den Bauch hielt vor Lachen.

»Du kriegst keine Geburtstagsgeschenke!«, drohte ihm Neve.

»Nein, leider nicht«, sagte Celia bekümmert. »Aber die Erinnerung daran wird noch lange in unseren Herzen weiterleben. Sie hat das F-Wort bei dieser Gelegenheit übrigens noch ein paar Mal verwendet. Mum dachte schon, sie wäre vom Teufel besessen und zog in Erwägung, Gemeindepfarrer Slattery kommen zu lassen, damit er ein Exorzismus-Ritual durchführt.«

»Ich kann nicht fassen, dass du mir das bis jetzt vorenthalten hast«, kicherte Max. Er sah mindestens zehn Jahre jünger aus, wenn er lachte. »Komm schon, Neve, sag es. Sag das F-Wort. Weil ich heute Geburtstag habe.«

Alle drei starrten sie gespannt an, und Neve zog die Nase kraus, als würde sie überlegen, was für Konsequenzen es nach sich ziehen könnte, wenn sie seiner Bitte nachkam. »Niemals«, sagte sie schließlich. »Ich werde mich dem Gruppendruck nicht beugen. Fluchen ist weder besonders beeindruckend noch besonders clever.«

»Mann, immer dasselbe!« Celia sprang auf und tat, als wollte sie sie erwürgen, und Neve setzte sich zur Wehr, bis aus der Pseudo-Strangulierung eine Umarmung wurde. »Ich liebe dich trotzdem, du kleiner fluchverweigernder Freak.« Celia stützte das Kinn auf Neves Scheitel und sah zu Max.

»Und, was ist mit dir, Geburtstagskind? Was für peinliche Geschichten gibt es aus deiner Kindheit zu berichten?«

»Keine, die ich euch erzählen werde.« Max schob seinen Teller von sich. »Ich bin ein Einzelkind, es gab also keine Zeugen.« Er blickte nachdenklich von Neve zu Celia und weiter zu Douglas. »Toll, dass ihr euch so gut versteht.«

»Ich bin gar nicht sooo erpicht darauf, mich mit meinen kleinen Schwestern abzugeben«, verkündete Douglas fröhlich. »Aber die zwei sind richtig dicke Freundinnen. Allerdings auch erst, seit Celia damals nach New York abgehauen ist.«

»Stimmt.« Celia ließ ihre Schwester los und begann den Tisch abzuräumen. Das war definitiv eine Premiere. »Aber ich war so unglaublich sauer bei meiner Abreise, und Neve war drei Jahre in Oxford gewesen. Ich hatte eigentlich das Gefühl, dass wir uns gar nicht so gut kannten … Weißt du noch, die süßen E-Mails, die du mir geschickt hast? Und dann hast du mich in New York besucht, und wir hatten so viel Spaß in dieser Woche.«

Es war offensichtlich, dass es eine Vorgeschichte gab, aber statt sie mit Fragen zu bombardieren, wartete Max ab, bis sich Celia zu ihnen umgedreht hatte, dann legte er den Kopf schief und sagte mit einer Stimme, die so warm war wie Honig in der Sonne: »New York?«

Jetzt verstand Neve, warum er seine Brötchen damit verdiente, Stars zu interviewen. Der schief gelegte Kopf und die samtige Stimme bildeten eine unwiderstehliche Kombination, die bewirkte, dass man nur noch möglichst nah an diesen Mann mit dem teilnahmsvollen Blick heranrücken und ihm das Herz ausschütten wollte. Sie hätte auch bei Neve ihre Wirkung nicht verfehlt, wenn sie nicht das Bedürfnis verspürt hätte, die Erinnerung an die schmerzlichen Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass Celia nach New York gegangen war, krampfhaft zu unterdrücken.

Doch Celia war aus einem weniger harten Holz geschnitzt, und während Neve das Geschirr spülte und verräumte und Kaffee machte, unterhielten Celia und Douglas ihren Besucher mit der tragischen Geschichte von jenem Sonntag, an dem sie das letzte Mal alle vereint gewesen waren.

Es war ein herrlicher, sonniger Tag gewesen, und durch die offenen Fenstertüren hatte eine leichte Brise hereingeweht. Beim Mittagessen hatten Margaret und Barry Slater ihren drei verantwortungsbewussten, erwachsenen Kindern die Mitteilung machen wollen, dass jedes von ihnen eine eigene Wohnung im Haus ihrer Großmutter bekommen würde, während sie selbst sich zur Ruhe zu setzen gedachten und künftig einen Teil des Jahres in Yorkshire und den Rest ihrer Zeit in Malaga verbringen wollten, wo sie sich ein Haus gekauft hatten. Es war eine große Feier geplant, denn jedes der drei Slater-Kinder hatte einen großen Schritt in Richtung Erwachsenenwelt gemacht: Neve hatte ihr Studium in Oxford abgeschlossen, Celia hatte die Schule beendet, und Douglas hatte einen Teil des Familienbetriebs übernommen.

Allerdings hatte sich just in der Woche zuvor herausgestellt, dass Celia beim Abitur durchgefallen war, weil sie in der Vorbereitungszeit lieber mit ihren Freundinnen ausgegangen war und Jungs angegraben hatte, statt zu lernen. Und Douglas hatte einen wichtigen Auftrag vermasselt, worauf er im Pub seinen Kummer ertränkt hatte und wegen Trunkenheit am Steuer und Widerstand gegen die Staatsgewalt verhaftet worden war. Es war eine turbulente Woche gewesen, in der viel gestritten, geweint und mit Türen geschlagen wurde.

Neve hatte die meiste Zeit in ihrem Zimmer verbracht und noch einmal sämtliche Romane von Jane Austen gelesen (was für ein Genuss, sie endlich nur zum Vergnügen zu lesen!). Dazwischen hatte sie geheult, weil William ein paar Tage davor nach Kalifornien geflogen war, und in Vanilleeis getunkte Schokoladenkekse gefuttert. Und sie hatte am Esstisch direkt neben ihrem Vater gesessen, als dieser rotgesichtig und betrunken aus dem Hat and Fan nach Hause getorkelt war.

Ihre Mutter hatte noch nicht einmal den verkohlten Lammbraten auf den Tisch gestellt, da hatte er sich schon auf Celia und Douglas gestürzt. »Ihr macht mich krank, ihr zwei!«, hatte er getobt und das elektrische Messer hingepfeffert. »Am liebsten würde ich euch beide vor die Tür setzen.«

Douglas hatte zurückgebrüllt, Celia hatte geheult, ihre Mutter hatte immer wieder »Hör auf, Barry. Das reicht jetzt, Barry«, gemurmelt, und Neve hatte danebengesessen und darauf gewartet, dass es vorbei war, damit sie sich wieder in ihrem Zimmer verbarrikadieren und in eine Welt flüchten konnte, in der es kein Geschrei gab, sondern höchstens spitze Kommentare, die auf Regimentsbällen hinter Fächern geäußert wurden.

»Es war furchtbar«, sagte Celia. »Aber das ist typisch Dad. Er ist immer so ruhig und frisst alles in sich rein, und dann explodiert er plötzlich. Hinterher hat es ihm total leidgetan. Er hat sich entschuldigt und mir einen riesigen Blumenstrauß an Tante Catherines Adresse in New Jersey geschickt. Hat ihn bestimmt eine Stange Geld gekostet.«

»Ja«, pflichtete Douglas ihr bei. »Er hat seinen Rausch ausgeschlafen, sich entschuldigt, und dann ist er mit mir in den Pub gegangen und hat mir einen Vortrag gehalten; von wegen erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte mich weiter angeschrien.«

»Und was war mit dir?« Max sah zu Neve, die mit einer Tasse Pfefferminztee in den Händen schweigend dasaß. »Bist du dem väterlichen Zorn entgangen?«

»So halb. Nein, eigentlich nicht«, sagte sie leise.

»Wenigstens hat er dich nicht angebrüllt«, bemerkte Douglas. Aber das hatte es auch nicht besser gemacht. Im Gegenteil.

Neve hatte damals einfach nur dagesessen und der Tirade ihres Vaters mit halbem Ohr gelauscht. Sie hatte sich sogar ein wenig überlegen gefühlt, schließlich hatte sie ihr Bachelorstudium mit Bestnote abgeschlossen und sich einen Studienplatz für ihr Masterstudium gesichert, inklusive Stipendium von der British Academy. Auf derartige Erfolge ihrer Kinder waren alle Eltern stolz.

Ja, sie hatte sich überlegen gefühlt, und sie war erleichtert gewesen, als ihr Vater endlich aufgehört hatte zu schreien und auf seinen Stuhl gesunken war. Er hatte die Hand an seine rote Stirn gelegt und …

»Er sagte zu mir: ›Und was dich angeht: Ich kann deinen Anblick kaum mehr ertragen. Du wirst dich noch zu Tode futtern.‹« Sein resignierter Tonfall war viel schlimmer gewesen als alles, was er Celia und Douglas an den Kopf geworfen hatte. Doch dank jahrelangem Training konnte Neve seine Worte völlig emotionslos wiedergeben, ohne eine Miene zu verziehen. Max dagegen wirkte entsetzt, empört und schockiert.

»Das hätte er nicht sagen dürfen. Er hatte kein Recht …«

»Er hatte jedes Recht dazu«, fuhr Neve scharf dazwischen. »Es war die reine Wahrheit, und er hat mir einen Gefallen getan. Ja, es hat wehgetan, und ja, es war ein Schock, aber genau das habe ich gebraucht. Und heute wiege ich keine fünfundsiebzig Kilo mehr.«

»Im Ernst? Über siebzig? Sieht man dir gar nicht an«, sagte Douglas, was ihm einen Klaps von Celia und ein panisches »Du darfst Charlotte nicht verraten, wie viel ich wiege« von Neve eintrug.

»Na, ist doch wahr! Und Dad hat ihr tatsächlich einen Gefallen getan. Er hat uns allen einen Gefallen getan. Neve ist nicht mehr fett, Celia hat eine Arbeitsmoral entwickelt, und ich habe eine ehrbare Frau aus Charlie gemacht.«

»Dafür braucht es schon mehr als einen Ehering«, brummte Celia finster, und vielleicht gehörten die abfälligen Bemerkungen und das Bohren in alten Wunden genauso zu einem Familien-Dinner dazu wie das Gekicher bei der Erinnerung an diverse Ausflüge ans Meer, die schon Jahre her waren. Sie wandte sich an Max, der Neve nicht aus den Augen ließ, obwohl sie stur den Blick gesenkt hielt. »Ich weiß ja nicht, was dir Neve erzählt hat, aber Dad ist eigentlich ganz okay.«

»Es mag dir unverständlich erscheinen, Nervensäge, aber ich unterhalte mich mit Neve nicht unentwegt über eure Familie. Wir haben jede Menge andere Gesprächsthemen«, sagte Max, und Neve war wieder einmal fasziniert, weil er es schaffte, die größten Frechheiten in einem Tonfall zu äußern, der es einem unmöglich machte, ihm böse zu sein.

Celia war ihm definitiv nicht böse. Sie nickte bloß und sagte: »Tja, Neve spricht selten darüber, denn sonst müsste sie zugeben, dass sie seither nicht mehr mit Dad geredet hat.«

»Quatsch!« Neve ließ ihre Tasse los und legte die Hände flach auf den Tisch. »Ich rede oft mit ihm, und ich treffe mich mit ihm und Mum, wenn die beiden nach London kommen. Also, was du manchmal für einen Unsinn redest.«

»Du redest nicht mit ihm«, beharrte Celia. »Mum sagt, er schickt dir ständig E-Mails …«

»Ja, um mich zu fragen, ob in meiner Wohnung irgendetwas repariert werden muss. Dem ist aber nicht so.«

»Und du rufst sie immer auf dem Handy an, statt auf dem Festnetz, weil da ja Dad rangehen könnte.«

»Ja, und er sagt immer bloß: ›Ich geb dir deine Mutter‹«, fauchte Neve. »Ich rede durchaus mit ihm, und er könnte mich ja auch anrufen, aber das tut er nicht, und selbst wenn, dann bringt er kaum ein Wort heraus.«

»Ach, lassen wir das.« Celia lehnte sich zurück und erwiderte Neves bitterbösen Blick. »Mum hat ganz recht – du bist genau der gleiche Dickschädel wie Dad.«

»Stimmt«, pflichtete Douglas ihr bei, und wenn Neve angeblich der gleiche Dickschädel war wie ihr Vater, dann waren diese beiden die gleichen Plaudertaschen wie ihre Mutter, die immer über Dinge redete, über die man lieber den Mantel des Schweigens hüllen sollte.

Sie musterten einander mit schmalen Augen und verschränkten Armen, bis Max hüstelte und sagte: »Tja, ich schätze, es hat auch Vorteile, ein Einzelkind zu sein.«

»Sorry, Kumpel.« Douglas klopfte ihm auf den Rücken. »Schwestern. Schlimmer als eine Ehefrau.«

»Wie geht es denn der lieben Charlotte?«, flötete Celia und begann von den »Ach, halt doch die Klappe!«-Schreiduellen zu erzählen und davon, wie Yuri neulich Abend die Wohnungstür aufgerissen und »Wie wär’s, wenn ihr beide verdammt nochmal die Klappe halten würdet?« in den Flur gebrüllt hatte.

»Charlie ist schon okay«, sagte Douglas, aber es klang alles andere als überzeugt, und als Celia den Mund aufmachte, um zu widersprechen, schob er den Stuhl zurück und stand auf. »Tja, das war ein netter Abend, aber ich sollte dann mal gehen.«

Neve erhob sich ebenfalls. »Ich würde mich ja für dein Kommen bedanken, aber ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben.«

Douglas grinste nur verlegen und umarmte sie ungeschickt. »Fabelhaftes Essen, Neve. Sollten wir mal wieder machen; du und Max, ich und Charlie …«

Celia tat, als hätte sie sich an ihrem letzten Rest Kaffee verschluckt. »Du weißt schon, dass deine herzallerliebste Ehefrau unsere Schwester in einer Tour terrorisiert?« Doch Douglas war bereits auf dem Weg in den Korridor und rief: »Los, komm, Celia, du darfst mich auf einen Drink im Pub einladen.«

Celia stand widerwillig auf. »Dann lasse ich euch zwei Turteltäubchen mal allein, damit ihr tun könnt, was ihr so tut, wenn ihr allein seid«, sagte sie mit einem theatralischen Zwinkern, worauf Max lachte und Neve ihrer Schwester eine Hand aufs Kreuz legte, um sie nach draußen zu bugsieren.

»Du bist wirklich eine Nervensäge«, zischte sie, öffnete die Tür und schob Celia ins Treppenhaus. »Bis morgen.«

»Können wir morgen mal wieder den Abend miteinander verbringen, nur wir zwei, und uns dabei meinetwegen eine von deinen langweiligen Fisch-mit-Reis-Kombos und eine DVD zu Gemüte führen?«, bat Celia. »Du hast überhaupt keine Zeit mehr für mich.«

Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, aber Neve war mehr als einverstanden. Unter einer Bedingung. »Okay, aber stell dich schon mal darauf ein, dass ich dir einen Vortrag darüber halten werde, was man vor fremden Leuten sagt und was nicht.«

»Damit habe ich fix gerechnet.« Celia grinste. »Und jetzt ab mit dir in die Küche, und back ein paar Pfannkuchen.«

Damit hopste sie die Treppe hinunter. Neve schloss die Tür und kehrte zu Max zurück, um noch ein bisschen über Dinge zu reden, über die sie eigentlich nicht reden wollte.