Kapitel 34
Sie verbrachten das gesamte Wochenende im Bett.
Wann immer Max in sie eindrang, schlang Neve die Arme und Beine um ihn, so fest es ging, denn nun war der Tag, an dem sie sich das letzte Mal lieben würden, nicht mehr weit. Mit jedem Mal wurde sie wilder, leidenschaftlicher, was Max allerdings nicht zu stören schien. Als sie sich am Sonntagabend voneinander lösten und sich auf seinem zerwühlten Bett ausstreckten, waren ihre Körper mit Liebesbissen und blauen Flecken übersät.
»Ich muss mit Keith vor die Tür«, sagte Max, machte jedoch keinen Anstalten, das Bett zu verlassen. Stattdessen schmiegte er sich von hinten an Neve, um ihren Hals zu küssen. Sie schauderte noch immer nach dem soeben erlebten Orgasmus, der so intensiv gewesen war, dass sie dabei mit dem Fuß ein Wasserglas vom Nachttisch gefegt hatte. »Und dann schlafen wir zehn Stunden durch.«
»Das hast du gestern Nacht auch schon behauptet.« Neve legte eine Hand auf seine Hand, die auf ihrem Bauch ruhte. »Und dann bin ich um zwei Uhr morgens aufgewacht, weil du höchst unanständige Dinge mit mir angestellt hast.«
»Du hast gesagt, es wäre eine sehr schöne Art zu erwachen gewesen.«
»War es auch. Ich sage ja nur, dass du keine Behauptungen aufstellen solltest, die du ohnehin bald widerlegen wirst«, spottete sie und drehte sich auf den Bauch.
»Ich mein’s ernst, Neve. Mein Schwanz streikt.« Max rückte etwas von ihr ab und spähte an sich hinunter. »Ich glaube, der ist hinüber.«
»Für mich sieht er völlig in Ordnung aus. Soll ich ihn mal etwas genauer unter die Lupe nehmen?«, fragte Neve und grinste, als Max mit einem mädchenhaften Quieken zurückwich. »Okay, dann eben nicht.« Sie tätschelte seinen schlaffen Penis vorsichtig. Max’ unangebrachte Witze im Bett würden ihr mindestens genauso fehlen wie der Sex selbst.
Natürlich war davon auszugehen, dass sie auch mit William Sex haben würde, doch sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie dabei lachen würden. William würde zuweilen ein Zitat von Shakespeare oder einem anderen romantischen Dichter zum Besten geben, aber Witze über seinen Penis? Niemals.
»Warum guckst du so traurig?«, wollte Max wisssen. »Betrübt dich die Vorstellung, zehn Stunden auf Sex verzichten zu müssen, so sehr? Du bist echt unersättlich, meine Liebe.«
Sie fand ihn selbst mit einem saft- und kraftlosen Penis noch sexy, und wenn er sie so musterte wie gerade eben, dann begann Neve, über das Undenkbare nachzudenken: Was, wenn sie sich für Option B entschied? Für die Tür, hinter der nicht William, sondern Max stand? Sie war in den vergangenen Wochen so glücklich gewesen, und es hatte nicht das Geringste mit ihrer Kleidergröße oder mit William zu tun gehabt. Es gelang Max immer wieder, diese Ziele unwichtig erscheinen zu lassen. Warum sollte sie mit ihm Schluss machen, wenn sie mit ihm so glücklich war? Und er schien ja ebenfalls glücklich zu sein …
»Nur damit du’s weißt, meine Geschlechtsteile haben für heute auch geschlossen.« Sie drehte sich herum und stützte das Kinn in die Hand. »Hast du eigentlich deine Einstellung zum Thema Beziehungen geändert? Könntest du dir vorstellen, auf Dauer mit jemandem zusammen zu sein?«
Max stützte sich auf einen Ellbogen auf, und Neve konnte genau die unschlüssige Miene erkennen, die über sein Gesicht huschte, ehe er sein typisches Grinsen aufsetzte. Er würde die Frage also mit einer seiner üblichen Plattitüden beantworten, weil er keine Lust hatte, Neve einen allzu tiefen Einblick in Gefühle zu gewähren, die er sich selbst nicht eingestehen wollte. »Ach, Neve«, sagte er leichthin, »es gibt so viele Frauen auf dieser Welt, da wäre es doch ungerecht, wenn ich mich nur an eine einzige binde – und damit meine ich keine Fesselspielchen.«
Sie hätte es wissen müssen. Er hatte sich in den vergangenen Wochen absolut vorbildlich verhalten, liebevoll und fürsorglich, ja, er hatte nicht einmal den Drang verspürt, abends auszugehen, aber er hatte sich standhaft geweigert, noch einmal über seinen Ausbruch in Manchester zu reden. Er sprach weder über seine Therapie noch wollte er Neve verraten, ob er sich noch immer leer fühlte. Stattdessen bediente er sich der bewährten Abwehrmechanismen: Spott, süffisantes Grinsen, neunmalkluge Bemerkungen.
»Aber nehmen wir mal an, dass William nicht zurückkommt. Was würde dann aus uns werden?«, hakte Neve nach.
»Es ist doch müßig, darüber nachzudenken«, sagte er so fröhlich, dass ihm Neve am liebsten eine gescheuert hätte, obwohl sie eben noch eine Zukunft mit ihm in Erwägung gezogen hatte. »Er kommt doch zurück, oder?«
»Ja, aber wenn er es nicht täte, gäbe es dann deiner Meinung nach für uns eine Zukunft?« Max starrte jetzt an die Decke und konnte deshalb nicht sehen, dass Neve die Zeige- und Mittelfinger verschränkte.
»Hör zu, Neve, ich verspreche, ich werde ein bisschen Trübsal blasen, wenn wir Schluss machen müssen – und wir werden definitiv Schluss machen, sobald Mr California wieder da ist und mit dir in den Sonnenuntergang reitet. Wir haben doch ohnehin nichts gemeinsam. Du bist geradezu Furcht einflößend intelligent, während ich mir gern die Zeit mit der gründlichen Lektüre von Illustrierten wie heat vertreibe.« Er betrachtete sie mit diesem verdammten Grinsen im Gesicht, als würde ihn die Aussicht, künftig ohne sie existieren zu müssen, kein bisschen traurig machen. »Was ist mit deinem Vorsatz passiert, etwas mehr im Hier und Jetzt zu leben?«
»Nichts ist damit passiert«, antwortete Neve hastig. Höchste Zeit für einen Themenwechsel. »Ich hab ja nur gefragt.« Sie beugte den Kopf, damit ihr die Haare ins Gesicht fielen und Max ihre bedrückte Miene nicht sehen konnte. »Gehst du jetzt mit Keith raus, oder war das nur ein leeres Versprechen?«
Max schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. »Erst mache ich uns etwas zu essen. Toast?«
»Ja, bitte. Zwei Scheiben«, sagte Neve, um einen unbekümmerten Tonfall bemüht.
»Vier«, sagte Max fest. »Wir haben seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«
»Treffen wir uns in der Mitte – drei.« Max’ Überzeugung, dass ihr Körper nach sechs Uhr abends noch reichlich Kohlehydrate verarbeiten konnte, würde ihr definitiv nicht fehlen. »Mit ein klein wenig kalorienarmem Brotaufstrich.«
Max schnaubte und klopfte ihr spielerisch auf den Hintern. »Dieser Butterersatz schmeckt echt übel. Ich mache uns ein paar Würstchen, und ich glaube, ich habe noch eine Dose Spaghetti Hoops in Tomatensauce da.«
»Keine Nudeln für mich«, protestierte Neve, was Max mit einer wegwerfenden Handbewegung quittierte, ehe er hinausging.
Zumindest wusste sie jetzt, dass er nicht auf Dauer mit ihr zusammensein wollte. Somit konnte sie sich voll und ganz auf William konzentrieren, und das Schlussmachen mit Max sollte ein Kinderspiel werden – er würde es mit Humor nehmen und insgeheim vermutlich sogar ein wenig erleichtert sein, weil er seiner Therapeutin jetzt erzählen konnte, dass er durchaus in der Lage war, eine Beziehung zu leben, wenn er denn wollte, was aber nicht wirklich der Fall war. Schade eigentlich – er könnte einen tollen Freund abgeben, wenn er auf sein cooles Gehabe verzichten und ein Mädchen in sein Herz lassen würde.
Neve beschloss, noch vor Ende nächster Woche mit ihm zu reden. Auf diese Weise blieben ihr noch gute zwei Wochen, um das Ende ihrer Pfannkuchenbeziehung zu betrauern, wenngleich ihr das im Moment etwas knapp bemessen vorkam.
»Neve! Stell doch bitte den Wecker auf acht, ja?«, rief Max aus der Küche. »Ich mache dir auch etwas Rührei, okay?«
Sie verdrehte die Augen, dann griff sie nach dem Wecker und stellte ihn auf halb sieben. Sie musste gleich frühmorgens zu einer Session mit Gustav, nachdem sie ihn gestern angerufen hatte, um das Samstagnachmittagstraining »wegen grauenhafter Regelschmerzen« abzusagen. Gustav hatte steif und fest behauptet, Bewegung sei das beste Mittel gegen Unterleibskrämpfe, als hätte er eine Ahnung von Regelschmerzen. Wenn sie morgen früh nicht aufkreuzte oder auch nur fünf Minuten zu spät kam, würde er sie garantiert zwei Stunden am Stück Hampelmänner machen oder Kugelhanteln stemmen lassen.
Die Versuchung, neunzig Minuten länger im Bett zu bleiben, war überwältigend, doch ehe Neve dazukam, Max mit einem Kuss zu wecken, piepste ihr iPhone. Eine SMS von Gustav: Bitte sei pünktlich – deine Menstruationsbeschwerden sollten ja inzwischen vorbei sein. Er konnte wohl Gedanken lesen.
Gustav beendete soeben das Training mit einem anderen Schützling, als Neve aus der Umkleide kam. Sie winkte ihm zu und erntete ein schmales Lächeln. Kein gutes Omen für die nächsten zwei Stunden ihres Lebens.
Sie hatte gerade begonnen, sich aufzuwärmen, als er auf sie zukam. »Zehn Minuten auf dem Laufband bei maximalem Tempo«, befahl er. »Ich bereite inzwischen alles fürs Bankdrücken vor.« Er drehte sich um, und Neve schnitt eine Grimasse, was ihrem Vorgänger, einem ernst dreinblickenden Mittvierziger, den Gustav immer als leuchtendes Beispiel anführte, nicht entging.
»Hat er dir schon die Fußgewichte verpasst?«, fragte er, während sie auf dem Laufband lostrabte.
»Nein, Gott bewahre.«
»Stell dich schon mal darauf ein. Seine Laune ist heute zum Fürchten.«
Neve steigerte sogleich die Geschwindigkeit auf 12 Kilometer pro Stunde, doch als Gustav zurückkam, knurrte er nur: »Ich dachte, du bist längst bei 15.«
Die kommenden eineinhalb Stunden entsprachen voll und ganz Neves Befürchtungen. Bankdrücken, Rudern, Kniebeugen mit einer Zwanzig-Kilo-Hantel auf den Schultern und Liegestützen (die echten, anstrengenden), und dazwischen zehnminütige Sprints auf dem Laufband bei 15 Kilometer pro Stunde, damit ihr Puls auch schön oben blieb.
»Deine Kondition hat ziemlich nachgelassen«, sagte Gustav, als Neve schließlich schnaufend auf einer Gymnastikmatte lag. »Aber das ist dann wohl monatsbedingt.«
»Das war am Samstag, und hab ich dir schon gesagt, wie leid es mir tut, dass ich unser Training absagen musste? Es tut mir nämlich wirklich aufrichtig leid.«
»Du hast es ein-, zweimal angedeutet«, schnarrte Gustav. Seine Laune hatte sich kein bisschen gebessert, dabei hatte Neve alle seine Anweisungen befolgt, ganz ohne Protest, Schnute oder Augenverdrehen. »Los, komm, die Waage ruft.«
Die vier Scheiben Toast (Max hatte behauptet, sein Toaster könne keine ungerade Scheibenanzahl verkraften), die Würstchen, das Rührei, die Nudeln und die Tomaten aus der Dose lagen ihr wie Blei im Magen, als sie Gustav in sein kleines Büro folgte. Andererseits hatte sie gestern nur eine Schüssel Müsli zum Frühstück gegessen, am Samstag den ganzen Tag über bloß eine halbe Pizza und zwei Äpfel, und am Freitagabend gar nichts. Die geplanten drei Kilo hatte sie zwar garantiert nicht abgenommen, aber ein Kilo und zweieinhalb Zentimeter weniger Hüftumfang erschien ihr realistisch. Und in den kommenden drei – zweieinhalb – Wochen würde sie sich wirklich zusammenreißen und ganz gesund ernähren. Sie würde auf Kaffee verzichten und nur gedünstetes Gemüse zu sich nehmen, wenn es sein musste, dachte sie, als sie aus ihren Turnschuhen schlüpfte und sich nervös Gustavs Hightech-Waage näherte.
Beim letzten Mal hatte Neve nicht ganz 73 Kilo gewogen. Die Digitalanzeige begann zu zählen, und Neve schloss die Augen, überkreuzte vorsichtshalber die Zeige- und Mittelfinger hinter dem Rücken und schickte ein kurzes Stoßgebet an die Göttin der Schlankheitskuren.
Gustav machte »Hmm«, und es klang nicht gerade sehr ermutigend. Sie öffnete ein Auge und schielte entsetzt auf die Anzeige.
Sie hatte zweieinhalb Kilo zugenommen! Zweieinhalb Kilo!
»Das ist nur eine kurzzeitige Veränderung«, sagte Gustav. Jetzt konnte er nett zu ihr sein, denn die angezeigte Zahl war der Beweis dafür, dass er im Recht war und Neve im Unrecht.
Zum ersten Mal seit drei Jahren hatte sie zugelegt statt abgenommen. Sie hatte mit ihrem Essverhalten die Göttin der Schlankheitskuren verärgert und ihren Stoffwechsel durcheinandergebracht, und jetzt nahm sie wieder zu statt ab. Sie würde nie in ein Kleid Größe 38 passen. Sie war eine Versagerin. »Moment!«, rief Neve und sprang von der Waage. »Ich war heute noch nicht.«
»Wo warst du noch nicht?«, fragte Gustav der Herzlose und holte sein Maßband aus der Schublade.
»Ich war noch nicht …«, zischte sie und lief feuerrot an. »Auf der Toilette. Ich gehe jetzt gleich mal, und dann wiege ich mich noch mal. Außerdem bin ich total verschwitzt, das macht meine Kleider doch bestimmt auch schwerer, und …«
»Hiergeblieben!«
Neve rührte sich nicht von der Stelle. Sie schaffte es nicht. Wenn Gustav sie so anbellte, musste ihm jede Zelle ihres Körpers gehorchen. Er schlang das Maßband um ihre Hüften, versperrte ihr jedoch den Blick darauf. Dann maß er ihren Taillen-, Bauch- und Brustumfang ab.
»Also, Taille und Brust sind gleich geblieben«, stellte er fest, wobei sein Tonfall unnötig überrascht klang. »An Bauch und Hüften hast du jeweils zweieinhalb Zentimeter mehr als letztes Mal.«
Das war alles, was er sagte. Er schalt sie nicht, er brüllte nicht, er sagte ihr nicht, dass er enttäuscht war, sondern legte nur schweigend das Maßband zurück in die Schublade, mit der üblichen versteinerten Miene.
Kein Wunder, dass sich Neve bemüßigt fühlte, das Wort zu ergreifen.
»Okay, ich geb’s zu, ich habe einiges gegessen, das ich lieber nicht hätte essen sollen. Aber an manchen Tagen habe ich dafür gar nichts gegessen.«
»Was passiert, wenn du Mahlzeiten auslässt?«, fragte Gustav ruhig.
»Dann schaltet mein Körper auf Sparflamme und lagert das Fett ein, statt es abzubauen«, antwortete Neve mechanisch.
»Und welche verbotenen Nahrungsmittel hast du gegessen?«
Neve bereute bereits, dass ihr das herausgerutscht war, aber Gustav hätte ihr ohnehin früher oder später die Wahrheit entlockt. »Brot«, murmelte sie. »Ziemlich viel Brot. Manchmal um zwei Uhr morgens. Und Nudeln. Und … und Pizza.« Sie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. »Das ist so ungerecht! Andere Mädchen können essen, was sie wollen, oder Mahlzeiten auslassen, ohne zuzunehmen. Du solltest mal sehen, was Celia alles in sich hineinstopft, und sie isst prinzipiell kein Gemüse, wenn ich es ihr nicht höchstpersönlich in den Rachen stopfe.«
»Du bist eben nicht wie andere Mädchen«, sagte Gustav ernst. »Bei deiner Vorgeschichte kannst du nicht erwarten, dass sich dein Stoffwechsel von selbst reguliert.« Er tätschelte ihr das Knie. »Schon gut, ich mache dir keine Vorwürfe.«
»Aber ich mache mir Vorwürfe.«
»Ich erlebe es immer wieder, dass meinen Klienten eine Beziehung in die Quere kommt, und im Nu haben sie ihre Fitnessziele vergessen«, verkündete er wie erwartet, dann beugte er sich nach vorn und fuhr (mit gesenkter Stimme, damit niemand hörte, dass er sein Schweigegelübde brach) fort: »Nehmen wir zum Beispiel Vaughn …«
»Vaughn?«, wiederholte Neve.
»Er trainiert montags und mittwochs vor dir«, erklärte Gustav ungeduldig. »Er war mein engagiertester Klient, mal abgesehen von dir, und dann geht er hin und verliebt sich in so eine Schickse …« Gustav schüttelte den Kopf. »Sie war zwar dünn, hat sich aber komplett ungesund ernährt. Süßkram, Kuchen, Nachtisch … und prompt hat er wieder zugelegt. Dann haben sie sich gestritten, und er hat nicht nur abgenommen, sondern auch Muskelmasse abgebaut.«
»Max kann nichts dafür«, sagte Neve, doch dann dachte sie an die vergangene Nacht. Sie hatte zwei Scheiben Toast mit kalorienarmem Butterersatz verlangt, er hatte ihr einen Teller fetttriefendes Junkfood hingestellt. Er hatte sie dazu gebracht, Pommes und Crème brulée zu essen und jede Menge Wein zu trinken, und einmal hatte er sogar Pfannkuchen gemacht … Zugegeben, er hatte sie nicht gezwungen; hatte ihr nicht jeden Leckerbissen eigenhändig in den Mund gesteckt, aber das war bei seinen überzeugenden Argumenten auch gar nicht nötig gewesen: »Einmal ist kein Mal.« »Es ist doch schon fast Verwöhn-Sonntag.« »Bis ich mit dir fertig bin, hast du locker deinen Tagesbedarf an Kalorien verbrannt.« Er hatte sie zum Essen verführt, und das war fast so schlimm, als hätte er sie eigenhändig gestopft.
»Willst du noch immer abnehmen?«, fragte Gustav.
Neve starrte ihn an. »Natürlich!«
»Wir könnten nämlich stattdessen auch ein Pogramm ausarbeiten, mit dem du dein aktuelles Gewicht hältst.«
»Nein!« Neve wedelte mit den Armen. »Ich wiege 75 Kilo! Ich bin vom medizinischen Standpunkt aus gesehen immer noch übergewichtig. Ich will das nicht mehr. Ich will das weg haben!« Sie kniff sich in den Oberschenkel, um Gustav die Fettpölsterchen zu zeigen, die sie, wenn sie so weitermachte, nie loswerden würde.
»Das sind fünf Pfund, mehr nicht. Wenn du dich künftig wieder an deinen Ernährungs- und Trainingsplan hältst, hast du die in zwei Wochen runter.«
Neve barg das Gesicht in den Händen. »Aber William kommt in zweieinhalb Wochen zurück.«
»William? Ich verliere langsam den Überblick bei all deinen Männern.«
»Es gibt nur zwei Männer, und Max muss ich von nun an aus dem Weg gehen.« Seit Gustavs Waage vorhin wieder 75 Kilo angezeigt hatte, stand ihre Entscheidung fest. »Vor Max gab es nur William, und das Ziel, dass ich in ein Kleid Größe 38 passe, bis er aus Kalifornien zurückkommt. Und mal ganz ehrlich, das schaffe ich in meiner derzeitigen Verfassung doch nur mit einer Rundum-Fettabsaugung.«
»Neve!«, stieß Gustav hervor. »Ich habe doch von Anfang an klipp und klar gesagt, dass du das hier für dich tust, und nicht für einen Mann. Jeder anständige Mann, der dich liebt, liebt dich um deinetwillen und nicht nur wegen deines Gewichts.«
»Ich tue es auch nicht für einen Mann«, beteuerte Neve, doch es klang selbst in ihren eigenen Ohren hohl. Sie hatte in Oxford genügend anständige Männer kennengelernt, aber die hatten die pummelige Neve allesamt links liegen lassen und sich lieber eine ihrer spindeldürren Kommilitoninnen geangelt, die schauderhafte Gedichte schrieben. Und Max? Der konnte jeden Abend mit einem anderen dünnen, wunderschönen Mädchen nach Hause gehen, und auch er liebte sie nicht um ihretwillen – er liebte sie überhaupt nicht. Und wenn sie William und Max mal außen vor ließ, dann konnte sie nicht erwarten, je von einem Mann trotz ihres Gewichts geliebt zu werden, wenn sie sich selbst nicht liebte. »Du weißt doch, dass ich nicht wegen William angefangen habe abzunehmen, aber jetzt fällt seine Rückkehr eben mit meinem verzweifelten Wunsch zusammen, nicht mehr als 65 Kilo zu wiegen und Kleidergröße 38 zu tragen. Glaubst du, das schaffe ich?«
Gustav wirkte wenig überzeugt. »Wenn dieser William der Richtige für dich ist, dann geduldet er sich, und du kannst dich auf deine Ernährung und dein Training konzentr…«
»Aber das tue ich doch schon seit sechs Jahren, verdammt noch mal!« Huch, das war ziemlich laut gewesen. »Könnte ich nicht ein paar Wochen Diät machen?«, fuhr sie etwas leiser fort. »Was ist mit dieser Diät für Fettleibige, die sich einer größeren Operation unterziehen müssen, damit es keine Probleme mit der Narkose gibt?«
»Du hörst mir nicht zu.« Jetzt wurde auch Gustav ziemlich laut. »Du lässt gefälligst die Finger von den Modediäten und Abführmitteln, und denk gar nicht erst daran, dich unters Messer zu legen, denn mir kannst du nichts vormachen, und wenn ich es herausfinde, dann bin ich die längste Zeit dein persönlicher Trainer gewesen, Neve!«
»Das kannst du mir nicht antun!«
»Und ob ich das kann. Und ich bin gut vernetzt. Ich werde dafür sorgen, dass du in ganz Nord-London keinen neuen Trainer findest.« Normalerweise hätte Neve jetzt gelacht und ihm gesagt, dass das ein bisschen zu sehr nach der Serie ’Allo ’Allo klang, aber sie war so damit beschäftigt, ihn bitterböse anzustarren und Mordgedanken gegen Gustav, Max, ihren Stoffwechsel und sich selbst zu hegen, dass sie aufsprang, sich ihre müffelnden Turnschuhe schnappte und hinausstolzierte.