Kapitel 8
Nach zwei schlaflosen Nächten, in denen Neve die Unterhaltung mit Max im Hat and Fan nicht aus dem Kopf gehen wollte, schleppte sie sich am Montagmorgen mit schweren Füßen und ebenso schwerem Herzen die Treppe hinunter. Sie hätte sich dauerohrfeigen können, weil sie Max so viel von sich erzählt hatte, und sie war fest entschlossen, den Großteil des Tages damit zu verbringen, ihre unausgegorenen Gedanken über unbeschwerte Affären und Beziehungen ohne jegliche Verpflichtungen zu ordnen. Als sie auf der Fußmatte ein blaues Luftpostkuvert erspähte, stürzte sie sich mit einem aufgeregten Aufschrei darauf, und alle Gedanken an Max waren augenblicklich vergessen. Zu schade, dass sie in vierzig Minuten in Holborn sein musste, weil sie vor der Arbeit mit ihrem Kollegen Philip zum Frühstück verabredet war, sonst hätte sie sich gleich auf der untersten Stufe niedergelassen und den Umschlag aufgerissen. Stattdessen strich sie sich mit dem Kuvert über die Wange und stellte sich vor, sie könnte Williams Hand spüren, die es in seiner kalligrafieähnlichen Handschrift mit Namen und Adresse versehen hatte – bis sie ihr verträumtes Lächeln im Vorzimmerspiegel sah.
Es war schwierig, sich auf Philips neueste Panikattacke wegen seiner Doktorarbeit zu konzentrieren, während der Umschlag ein Loch in ihre Tasche brannte. Philip war Mitte vierzig und hatte angefangen zu studieren, nachdem er seinen Job an der Terminbörse verloren hatte. Er hatte eine Scheidung und einen Umzug aus einem Haus mit vier Schlafzimmern in Chiswick in eine Einzimmerwohnung in Ealing hinter sich, und zu guter Letzt hatte er sich auch noch als schwul geoutet – und das alles innerhalb von sechs Monaten. Das war jetzt vier Jahre her, und seine stets etwas ängstliche Miene ließ Neve ernsthaft daran zweifeln, dass er den Schock überwunden hatte. Der akademischen Laufbahn hatte er sich etwa zur selben Zeit verschrieben wie der Beziehung mit einem Antiquar namens Clive, wobei ihm beides nicht sonderlich viel Freude bereitete.
»… und neulich meinte er, dass jeder von uns das Recht haben sollte, auch mit anderen Männern zu schlafen«, berichtete Philip finster, während Neve abwartete, bis ihr Porridge etwas abgekühlt war.
»Und, trennst du dich von ihm?« Wie immer widerstand Neve dem Drang, Philip zu sagen, dass er ohne Clive viel besser dran wäre. Auf Neves Geburtstagparty voriges Jahr hatte Clive versucht, Gustav die Zunge in den Hals zu stecken, obwohl er ihn zu diesem Zeitpunkt gerade mal fünf Minuten gekannt hatte. Und dann war da noch Philips Exfrau, die nun mit ihrem dreiundzwanzigjährigen Freund in dem Haus mit den vier Schlafzimmern in Chiswick lebte und den Rest von Philips Abfindung verprasste. Philip hatte wirklich ein sehr, sehr schlechtes Händchen bei der Wahl seiner Lebenspartner.
»Nein. Wir führen ja jetzt eine offene Beziehung«, schniefte Philip. Seine Augen hatten verdächtig rote Ränder, als hätte er geweint, bis er in Holborn aus der U-Bahn gestiegen war. »Ich kann nicht fassen, dass ich mit meinen fünfundvierzig Jahren immer noch diesen ganzen Sturm und Drang durchmachen muss. Ich hoffe, du weißt dein sorgenfreies Singledasein zu schätzen.«
Neve fand das Singledasein nun nicht gerade sorgenfrei, im Gegenteil: Es bereitete ihr gerade ziemlich viele Sorgen.
»Ehrlich gesagt fühle ich mich beinahe bereit, mit Männern auszugehen«, gestand sie, denn Philip war ein guter Kandidat, um ihre Idee zu erörtern. Oder vielleicht doch nicht – er musterte sie mit unverhohlenem Entsetzen, und seine Augenbrauen erhoben sich weit über den Rand seiner Halbmondbrille.
»Ach ja, tatsächlich?«
Neve nahm einen hastigen Schluck von ihrem Caffè Latte mit fettarmer Milch, wobei sie sich ordentlich die Zunge verbrühte, aber das war immer noch besser, als ihren Entschluss vor einem völlig verständnislosen Philip zu verteidigen. »Früher oder später muss ich damit anfangen. Ich möchte nicht enden wie Unsere liebe Frau vom gesegneten Taschentuch, du weißt schon.«
Philip schauderte. »So möchte niemand enden. Du willst dich also in die rauen Gewässer der Liebe vorwagen. Weißt du schon wie?«
Genau da lag der Hund begraben. Irgendwelchen wildfremden Männern schöne Augen zu machen, hatte nicht besonders gut funktioniert. »Ich habe in der Zeitschrift Skirt einen Artikel über Speed-Dating gelesen.«
Philip schnappte nach Luft. »Vergiss es, Neve! Das überlebst du nicht. Es wäre so, als würde man einen querschnittgelähmten Christen den Löwen zum Fraß vorwerfen.«
»Sehr hilfreich, vielen Dank«, brummte Neve. »Ich habe gesagt, dass ich mich beinahe bereit fühle, mit Männern auszugehen. Im Übrigen habe ich durchaus schon etwas Erfahrung mit dem anderen Geschlecht.« Was der Wahrheit entsprach, denn jetzt hatte sie schon zweimal beinahe Sex gehabt. Außerdem kannte sie viele heterosexuelle Männer. Ihren Bruder und ihren Vater zum Beispiel. Sie sprach nicht nur Aziz vom 24-Stunden-Supermarkt mit dem Vornamen an, sondern auch Dave vom Secondhand-Möbelladen, der sie stets gleich anrief, wenn er ein neues Bücherregal hereinbekam, und auch Mr Freemont vom LLA redete sie mit »Neve« an. Allerdings war Neve nicht sicher, ob er als heterosexueller Mann durchging. Sie wollte lieber nicht daran denken, dass er überhaupt Genitalien hatte.
»Natürlich«, meinte Philip beschwichtigend. »Wie wär’s denn mit Adrian, Clives Assistent?«
Adrian war ein gertenschlanker Jüngling, den sie noch aus Oxford kannte und der immer so wirkte, als würde er sich träge in einem Kahn räkeln. »Adrian ist schwul.«
»Nein, ist er nicht.« Philip schnalzte mit der Zunge. »Du magst zwar Erfahrung mit dem anderen Geschlecht haben, aber dein Schwulenradar versagt gelegentlich.«
Philip war ein total unbrauchbarer Schwuler. Seit er den zweiten Bildungsweg eingeschlagen hatte, versuchte er, seiner neuen Rolle mittels Cordsamthosen und Tweedjacken gerecht zu werden, aber Neve hatte oft den Eindruck, dass er sich insgeheim nach seinem grauen Nadelstreifenanzug sehnte. »Auf jeden Fall musst du Clive sagen, dass für dich nur eine monogame Beziehung infrage kommt«, fügte sie hinzu, um die Aufmerksamkeit von ihrem eigenen nicht existenten Liebesleben wieder auf das ihres Kollegen zu lenken.
»Aber eine offene Beziehung ist immer noch besser als ein Leben ohne ihn«, sagte Philip leise – mehr zu sich selbst als zu Neve. Er lächelte sie tapfer an, mit wässrigen Augen. »Bist du auch ganz sicher, dass du eine Beziehung willst? Es könnte gefährlich werden …«
Es würde nicht gefährlich werden. Sie würde sich ein bisschen amüsieren, ihren Spaß haben und ihr Herz sicher unter Verschluss halten, bis William zurück war, um es zu erobern. Oder war es doch wichtiger, an ihrem Körperumfang statt an ihrer Beziehungsfähigkeit zu arbeiten? Neve machte bloß »Hmmm« und war erleichtert, als Philip meinte, sie hätten nun genügend geplaudert, und zum Geschäftlichen überging. Beim Anblick des dicken Ordners, den er aus seiner Ledertasche zog, hätte sich Neve fast an ihrem Kaffee verschluckt.
»Wow, das ist eine Menge Papier. Wie viel hast du denn seit unserem letzten Treffen geschrieben?«
Wenn er nicht im Archiv schuftete, dann arbeitete Philip an seiner Doktorarbeit über den Dichter Stephen Spender, und Neve hatte sich leichtsinnigerweise bereit erklärt, das Konvolut Korrektur zu lesen.
»Der zweite Entwurf umfasst ungefähr dreißigtausend Wörter«, erklärte Philip stolz. »Aber ich bin noch meilenweit vom Ende entfernt.«
»O.K., gib her«, seufzte Neve und streckte die Hand aus, während sie sich mental darauf einstellte, dreißigtausend Wörter über einen Dichter zu lesen, den sie nicht ausstehen konnte.
Philip schüttelte missbilligend den Kopf. »Du kennst unsere Abmachung, Neve. Eine Hand wäscht die andere.«
Neve schob ihre Tasche etwas weiter unter den Stuhl. »Aber du hast schon wieder zehntausend Wörter geschrieben, und ich viel, viel weniger.«
»Wo bist du gerade?« Philip rückte seine Brille zurecht, um sie besser beäugen zu können.
»Lucy ist jetzt in Oxford und hat Charles Holden kennengelernt, hält ihn aber noch für ein absolutes Schwein«, erzählte Neve. »Schon komisch – wir wissen beide, dass sich ihr Leben durch die Begegnung mit ihm nachhaltig verändern wird, aber sie weiß es im Moment noch nicht.«
»Nun komm, rück es raus«, sagte Philip. »Ich möchte wissen, wie es mit ihrem Vater weiterging, bevor sie nach Oxford gezogen ist. Los, her damit.«
Neve griff zögernd nach der Tasche unter ihrem Stuhl. Das LLA hatte vor einiger Zeit zwölf Kartons mit Unterlagen über Leben und Werk der erfolglosen Romanschriftstellerin und absolut unbekannten Lyrikerin Lucy Keener erhalten, die erst einmal ein paar Wochen lang in Neves Büro Staub angesetzt hatten. Da es unzählige solche Dichter gab und Neve in keiner Datenbank verstorbener Autoren irgendetwas über Lucy Keener oder ihre Werke hatte finden können, hatte sie nicht allzu viele Hoffnungen gehegt, hier eine große Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts zu entdecken. Dann waren ihr eines Nachmittags die Kassetten zum Transkribieren ausgegangen, und sie hatte begonnen, Lucys autobiografischen Roman Mein Tanz am Rand der Welt zu überfliegen, der von Lucys Arbeit für das Britische Propagandaministerium während des Zweiten Weltkriegs handelte. Und da war es um sie geschehen: Neve hatte sich verliebt, genau wie damals, als sie im Alter von zwölf Jahren eines Samstagnachmittags in der örtlichen Bibliothek Stolz und Vorurteil aufgeschlagen hatte oder als sie ihren ersten Katherine-Hepburn-Film gesehen hatte oder als William an ihre Tür im Somerville College geklopft und sich als ihr Tutor vorgestellt hatte.
Den Rest der Woche hatte sie damit zugebracht, jede einzelne vergilbte Seite aus den Archivkartons zu verschlingen. Sie hatte Lucys Gedichte, Briefe und Tagebücher gelesen und war fasziniert gewesen von diesem Mädchen aus Leeds, das der Arbeiterklasse entstammte und ein Stipendium für Oxford erhalten hatte, obwohl sich ihr tyrannischer Vater strikt dagegen ausgesprochen hatte. In Oxford hatte sie Charles Holden kennengelernt, dessen Familie riesige Landstriche in Gloucestershire sowie ein Herrenhaus in Mayfair besaß. Lucys Liebesaffäre mit Holden hatte nicht nur den Krieg und seine Ehe mit der zweiten Tochter eines Viscounts überlebt, sondern sogar die Tatsache, dass er zu den Russen übergelaufen war, als …
»Ich warte, Neve«, erinnerte Philip sie. Neve kramte eine Mappe heraus, die zehn mit einfachem Zeilenabstand beschriebene Seiten enthielt – das fünfte Kapitel der Biografie über Lucy Keener, die sie verfasste. Sie wusste nicht einmal, wieso sie sich die Mühe machte, denn Mr Freemont hatte sich geweigert, Lucys Werken einen literarischen Wert zuzusprechen, als Neve mit ihrer Entdeckung zu ihm gekommen war.
Er hatte eine Seite von Mein Tanz am Rand der Welt mit seinem stechenden Blick überflogen. »Kein Wunder, dass sie nie einen Verlag gefunden hat«, hatte er bemerkt. »Das hat keinerlei Esprit. Kleingeistige Ideen von einer Frau mit einer kleingeistigen Weltanschauung. Ist es wirklich nötig, dass sie sich eine ganze Seite lang über einen Hut auslässt, den sie kaufen möchte? Schick es zurück.«
Aber Neve hatte sich geweigert und auf ihrer Meinung beharrt – sehr zu Mr Freemonts Erstaunen, denn normalerweise gehorchte sie, ohne zu widersprechen. Er hatte trotzdem nicht nachgegeben. Als sie den anderen Archivmitarbeitern eine Fotokopie von Mein Tanz am Rand der Welt zum Lesen gegeben hatte und das Werk bei allen auf Begeisterung gestoßen war, hatte ihr Mr Freemont eine schriftliche Verwarnung wegen grober Gehorsamsverweigerung angedroht, worauf sich Neve und Chloe das Auto von Chloes Freund ausgeliehen und die Kartons in Neves Gästezimmer verfrachtet hatten. Zuvor hatten sie eine ganze Woche lang heimlich jedes einzelne Fitzelchen Papier eingescannt, damit es ein Back-up gab, falls Celia wieder einmal eine Kerze brennen lassen und die Abelard Road 27 in Flammen aufgehen sollte.
Neve hatte also damit begonnen, eine Biografie zu schreiben, weil sie sich über Mr Freemont geärgert hatte. Stummer Protest war die einzige Form von Widerstand, die sie kannte. Außerdem wollte sie ihre schriftstellerischen Fähigkeiten etwas trainieren, hatte sie doch seit ihrem Uniabschluss nicht mehr geschrieben. Vor allem aber wollte sie nicht, dass Lucys traurig-schönes Leben ungelesen und unbekannt in zwölf Kartons endete.
Zum Glück hatte sie, obwohl sie ganztags arbeitete und täglich ein mörderisches Trainingsprogramm im Fitnesscenter absolvierte, erschreckend viel Freizeit, und die verwendete sie nun dazu, das Material zu sichten, zu kollationieren und über Lucys Leben zu schreiben. Sie ließ Philip, Chloe und Rose jedes neue Kapitel durchlesen und erhielt es dann mit zahlreichen roten Randbemerkungen versehen zurück.
Neve blickte ängstlich über den Tisch hinweg zu Philip, der bereits begonnen hatte, die erste Seite des neuen Kapitels zu überfliegen. »Du sollst es doch nicht jetzt gleich lesen«, schalt sie ihn. »Nicht, während ich hier sitze.«
»Entschuldige, wie unhöflich von mir«, murmelte Philip, ohne den Blick von der Seite zu wenden, ehe er sie in die Plastikmappe zurückgesteckt hatte. Mit einem Seufzer verstaute er die Mappe in seiner Aktentasche und schenkte Neve ein gewinnendes Lächeln. »Schaffst du’s in einer Woche?«
Neve starrte ihn an, ohne zu blinzeln oder eine Miene zu verziehen.
Philip wand sich. »Zwei Wochen?«
»Sagen wir drei.«
»Okay, drei.« Er nickte bekümmert. »Und bitte keine Randnotizen. Deine Handschrift ist völlig unleserlich.«
Ein halbe Stunde später saß Neve hinter dem Empfangstresen im Lesesaal des Archivs. Eigentlich hätte sie mit ihrer völlig unleserlichen Handschrift Indexkärtchen beschriften sollen, stattdessen studierte sie eingehend Williams Brief. Sie las zwischen den Zeilen, suchte nach unterschwelligen Botschaften, analysierte jeden i-Punkt (einer in der zweiten Zeile des dritten Absatzes glich ein wenig einem Herz), jeden T-Querstrich, jede Y-Schleife. Es war sehr zeitaufwendig.
William begann mit einem kurzen Wetterbericht und der Bitte, sie möge ihm eine große Schachtel Teebeutel von Sainsbury’s (»Red Label«) sowie eine Schachtel Carr’s Cracker schicken. Die ersten Zeilen überflog sie ungeduldig, um schneller zum interessanten Teil zu kommen. Dann zwang sie sich, langsamer zu lesen und jedes Wort zu genießen.
Ich fand es sehr schön, neulich mit dir zu telefonieren. Der Klang deiner Stimme weckt in mir immer nostalgische Erinnerungen an die langen Nachmittage in Oxford, an denen wir am Fluss saßen und uns über unsere Lieblingsbücher unterhielten. In meiner Erinnerung hat die Sonne immer diesen sanften goldenen Glanz, aber das kann wohl nicht stimmen, denn ich erinnere mich auch an jede Menge Regen und daran, dass du mir ein paar Tupperware-Schüsseln geschenkt hast, als es durch mein löchriges Dach hereingeregnet hat. Erinnerst du dich noch an unser leidenschaftliches Streitgespräch zum Thema Jane Austen versus die Geschwister Brontë? Ich glaube, das war das einzige Mal, dass ich dich richtig aufgebracht erlebt habe. »Noch ein Wort gegen Jane Austen und es gibt Ärger«, hast du gefaucht, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt.
In Kalifornien scheint stets die Sonne – das ist immer gleich. Aber hier gibt es keine Flüsse und keine Neve, mit der ich am Ufer sitzen und mich über Literatur, Philosophie oder andere interessante Themen unterhalten könnte.
Hier musste Neve innehalten, um hingerissen zu seufzen. Es gab – natürlich – Momente voller Selbstzweifel, in denen sie sich fragte, ob sie sich etwas vormachte und eine riesige Enttäuschung erleben würde, wenn William zurückkam. Aber er würde ihr doch nicht solche Briefe schreiben, wenn er nicht dasselbe empfände wie sie: diesen Schmerz in der Brust, als würde es ihr Herz ständig zu ihm hinziehen, über den verdammten Atlantik hinweg.
Ich denke gerade an all die langen Nachmittage am Fluss, weil die Studenten, die ich derzeit unterrichte, kaum einen Roman – sei er von Austen oder von Brontë – beim Namen nennen, geschweige denn analysieren können. Ein Mädchen in meiner Gruppe aus dem zweiten Studienjahr mimte in einer großen Hollywoodadaption von Stolz und Vorurteil, die in New York spielte (Ich kann förmlich hören, wie du nach Luft schnappst!), die Lydia Bennett. Sie ist recht sympatisch, manche würden sie vermutlich sogar hübsch nennen, aber sie ist dumm wie Bohnenstroh. Wenn sie ab und zu am Campus auftaucht, dann nur, weil ihr Agent sie als Intellektuelle vermarkten will und die Universität sich über die Publicity freut. Ach ja, und in meiner Erstsemestergruppe sind zwei Models, und der Rektor hat mich gebeten, ein Auge zuzudrücken, wenn sie ihre Hausarbeiten nicht rechtzeitig abliefern, weil sie mal wieder als Bikinimodels arbeiten oder nach New York zu einem Casting fliegen müssen.
Mein Leben in Oxford kommt mir schon richtig unwirklich vor.
Neve warf entsetzt den Brief auf den Tisch. Hollywood-Schauspielerinnen? Models? Sie hatte sich schon genug Sorgen wegen all der braun gebrannten, blonden Kalifornierinnen gemacht, aber eine Schauspielerin? Models? Sie würden William auffressen. Er war die perfekte Verkörperung des patrizischen Archetyps – er sah aus, als käme er geradewegs von einem Kricketspiel, und er hatte dieselbe zerstreute aristokratische Ausstrahlung wie Hugh Grant. Und William war kein Mönch. Er war zwar kein Casanova wie Max, aber in Oxford hatte er zahlreiche Freudinnen gehabt. Lauter spindeldürre Dinger, die Klamotten im Bohemian Style von Topshop trugen und viel Rilke lasen. Wahrscheinlich gab es auch an der UCLA solche Mädchen, nur dass sie dort nicht Sophie, Camilla und Tamara hießen, sondern Tiffany, Brittany und Courtney.
William war jetzt seit drei Jahren in Kalifornien, und selbst wenn er nur ab und zu mit einem Mädchen ausgegangen war, hatte er in dieser Zeit garantiert mit mindestens fünfzehn Frauen Sex gehabt. Fünf Frauen pro Jahr, das war vermutlich noch eine sehr konservative Schätzung. Und Neve? Der einzige Mann, der sie in diesen drei Jahren berührt hatte, war Gustav, der ihr gelegentlich nach dem Work-out bei den Dehnungsübungen half. Plus eine Runde Beinahe-Sex mit Max. Das war nicht gut genug. Sie war nicht gut genug. William hatte eine sexuelle Vergangenheit, und es gab sechzehnjährige Mädchen, die mehr Erfahrung hatten als Neve.
Sie ließ den Blick durch den Leseraum schweifen. Die eifrigste Besucherin des Archivs, die sie Unsere liebe Frau vom gesegneten Taschentuch nannten, schniefte und zog einen ganzen Stapel Taschentücher aus dem Jackenärmel, und Neve war, als würde sie in ihre Zukunft blicken.
Sie faltete Williams Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück, damit der Inhalt sie nicht länger quälen konnte. Ihr blieb keine Zeit mehr herumzueiern, Probleme vor sich herzuschieben und vage Pläne auszuhecken, deren Umsetzung viel zu lange dauern würde. Sie musste etwas unternehmen. Jetzt gleich. Sie musste einen Mann finden, irgendeinen …