Kapitel 21

Max hatte sich nicht von der Stelle gerührt, und als sich Neve mit einem schiefen Lächeln an ihm vorbeischieben wollte, um das letzte Geschirr wegzuräumen, packte er sie an den Handgelenken und zog sie auf seinen Schoß.

Sie versuchte, sich von ihm loszumachen. »Bist du verrückt? Ich bin viel zu schwer. Ich breche dir die Knochen.«

»Quatsch.« Max zog sie an sich und streckte die Beine aus, sodass sie nicht einmal die Füße abstellen und auf diese Weise seine Oberschenkel etwas entlasten konnte. »Sieh mich an, Neve. Bitte.«

Sie hob widerstrebend den Kopf, sodass sich ihre Nasen praktisch berührten. »Was ist?«

»Danke für das tolle Geburtstagsessen«, sagte er, und es klang absout ernst gemeint.

»Es war nicht toll«, brummte sie. »Celia und Douglas haben alles ruiniert, und der Yorkshire-Pudding war gekauft, weil mein Teig ganz klumpig war.«

»Nun sei doch nicht so negativ«, sagte Max scharf.

»Kann ich jetzt aufstehen? So ist es doch für beide von uns nicht sonderlich bequem.«

»Nein.« Er legte ihr eine Hand ans Kinn, damit sie stillhielt, während er sie küsste – so lange, bis sie den Kuss erwiderte und einen leisen Seufzer hervorstieß, als er schließlich mit dem Kopf etwas nach hinten wich. »Hattest du vorhin nicht etwas von Geschenken gesagt?«

»Ja! Fühlt sich an, als wäre das schon Tage her.« Neve sprang auf und war erleichtert, weil er nicht sofort anfing, seine Oberschenkel zu massieren, um den Blutfluss anzuregen. Sie fischte eine Geschenktüte mit Sternenmuster hinter dem Mülleimer hervor und drückte sie ihm in die Hand. »Alles Gute zum Geburtstag.«

Max nahm bedächtig jedes einzelne Päckchen heraus, stapelte sie vor sich auf dem Tisch auf und las zuerst die Karte, auf der bloß »Happy Birthday« stand. Immerhin hatte Neve ein Kreuzchen hinter ihre Unterschrift gemalt, das ein Kuss sein konnte oder auch nicht.

Er öffnete das größte Päckchen zuerst, und Neve nutzte die Gelegenheit, um die nächste Geburtstagsüberraschung vorzubereiten. »Ah! Ich war total begeistert vom Fänger im Roggen und hatte mir vorgenommen, auch die anderen Bücher zu lesen.« Er tippte mit dem Finger auf die drei Bücher von J. D. Salinger. »Welches soll ich als Nächstes aufmachen?«

»Das kleinste«, murmelte Neve über die Schulter und holte, als er sich über den Tisch beugte, rasch ein paar Zutaten aus einem Küchenschrank.

»So was will ich schon ewig!«, rief Max, als er das kleine elektronische Teil erblickte, mit dem er sein iPhone zum Diktiergerät umfunktionieren konnte, und Neve musterte ihn prüfend, um herauszufinden, ob er sich wirklich freute oder nur so tat als ob. Dann öffnete er das letzte Päckchen. Es enthielt eine kleine Espressotasse, auf die sie ein Foto von Keith hatte drucken lassen. »Die ist ja der Hammer!«

»Ich hatte ein paar Fotos von Keith auf meinem iPhone, die musste ich bloß auf CD brennen und damit in diesen Laden gehen … Freust du dich wirklich darüber, Max?«

»Und wie! Du hast seinen indignierten ›Also, hör mal!‹-Blick perfekt eingefangen.« Er nahm die Tasse noch einmal zur Hand, um sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. »Ich finde alle deine Geschenke toll.«

»Ich weiß nie so genau, was ich anderen Leuten schenken soll. Mir macht man ja mit einem Buchgutschein am meisten Freude«, erklärte Neve nervös. »Ich kann alles zurückgeben bis auf die Tasse. Die musst du behalten, fürchte ich.«

»Neve! Ich habe gesagt, ich finde sie toll, und das tue ich wirklich. Könntest du dir deine selbstkritischen Bemerkungen für den Rest des Abends bitte sparen?«

»Niemals. Spätestens nach einer halben Stunde schlägt die Macht der Gewohnheit wieder zu. Hast du eine DVD dabei?«

»Ja, ich dachte, du freust dich bestimmt, wenn ich meine Bruce-Lee-Sammelbox mitbringe.«

»Bruce Lee?« Puh, ein Kung-Fu-Film-Marathon war nun doch etwas viel verlangt, Geburtstag hin oder her, fand Neve.

»Wie viele Filme sind das denn?«

»Keine Sorge, ich hab sie zu Hause gelassen.« Max erhob sich, und sie machte sich breit, damit er nicht sehen konnte, was hinter ihr auf der Arbeitsfläche stand. »Was versteckst du denn da vor mir?«

Sie hob ein Bein und stellte ihm den Fuß aufs Knie, um ihn auf Abstand zu halten. »Keinen Schritt weiter, sonst ist es keine Überraschung mehr«, befahl sie. »Geh ins Wohnzimmer und such eine DVD aus. Ich komme in zehn Minuten nach.«

Max spähte ihr über die Schulter. »Ist diese Überraschung ungefähr so groß wie ein Brotkasten, oder was machst du da? Außerdem isst du doch gar kein Brot, Neve.« Max trat einen Schritt näher, worauf sie das Bein durchdrückte. Wie gut, dass sie so viel trainierte! »Okay, okay, ich geh ja schon.«

Zwölf Minuten später schob Neve mit dem Fuß die Wohnzimmertür auf, denn sie trug die Sektflasche unter dem einen und die Schachtel Pralinen unter dem anderen Arm, und außerdem zwei Gläser und einen Mini-Schokokuchen, in dem eine einzelnen Kerze steckte.

»Ich würde ja Happy Birthday singen, aber ich bin total unmusikalisch«, sagte sie und stellte den selbst gebackenen Minikuchen vor Max auf den Sofatisch. »Aber du musst die Kerze ausblasen und dir etwas wünschen.«

»Wie hast du es geschafft, in zehn Minuten einen Schokoladenkuchen zu backen, und warum ist er in einer Tasse?« Max betrachtete Neves bescheidene Opfergabe argwöhnisch. »Und er läuft aus – gehört das so?«

»Er läuft nicht aus, das ist geschmolzene Schokolade.« Neve ließ sich neben ihm nieder. »Ich habe das Rezept von Rose. Man macht ihn in der Mikrowelle, und angeblich schmeckt er gar nicht übel. Los, los, blas die Kerze aus.«

Max schloss die Augen und pustete, und dann hielt er ein paar Sekunden regungslos inne, als wollte er seinen Geburtstagswunsch nicht für irgendeinen trivialen Unsinn verschwenden – etwa dafür, dass Manchester United die Premier League gewann. »Willst du nicht wissen, was ich mir gewünscht habe?«, fragte er, als er die Augen wieder aufschlug.

»Wenn du es mir erzählst, geht der Wunsch nicht in Erfüllung.« Sie mühte sich mit dem Sektkorken ab. »Also, was willst du dir ansehen?«

»Was hältst du davon, wenn wir zur Abwechslung etwas spielen?« Er hielt eine dunkelgrüne Schachtel hoch, die ihr nur allzu bekannt vorkam. »Das hier stand ganz unten in deinem DVD-Schrank … Wenn du das Glas schräg hältst, schäumt es weniger.«

Neve füllte die zwei Sektflöten, die sie für fünfzig Pence das Stück im Billigladen um die Ecke erstanden hatte, und wartete ab, bis Max das seine mit zwei großen Schlucken zur Hälfte geleert hatte.

»Ich muss dich warnen: Du wirst es nicht glauben, aber ich bin äußerst ehrgeizig, und ich verfüge über ein erstaunliches Vokabular, weil ich nämlich jahrelang kein Sozialleben hatte und deshalb viel gelesen habe … Also, wenn du mit mir Scrabble spielst, werde ich dir in den Arsch treten.«

Max, der sich gerade den ersten Löffel Schokokuchen in den Mund hatte schieben wollen, erstarrte mitten in der Bewegung. »Du wirst mir in den Arsch treten?«

»Bis er blau und grün ist und du eine Woche lang nicht darauf sitzen kannst.« Das klang ziemlich arrogant. »Im Ernst. Als ich dreizehn war, hat mir meine Mutter das Spiel weggenommen, weil ich 427 Punkte erreicht hatte. Und in Oxford habe ich dann gegen zwei Linguisten und einen Universitätsdozenten gespielt.«

»Tja, liebe Pfannkuchenfreundin, und ich habe für ein Feature im Guardian gegen TV-Star Carol Vorderman gespielt, und ich habe ihr in den Arsch getreten, weil es beim Scrabble nämlich nicht auf den Wortschatz ankommt, sondern auf Logik und Taktik«, erwiderte er überheblich und genehmigte sich einen weiteren großen Bissen Kuchen.

Neve wünschte kurz, der Kuchen würde richtig eklig schmecken, und sei es nur als Rache für seine herablassende Art, doch Max leckte den Löffel ab und sagte: »Macht Lust auf mehr … Willst du auch was?«

»Nein, danke, ich passe.«

»Tja, aber was das Spiel angeht, kannst du dich nicht so einfach aus der Affäre ziehen.« Max lehnte sich zurück, die Tasse an seine Brust gedrückt, und schob Neve mit dem Fuß die Schachtel hin. »Los, aufbauen. Oder hast du Schiss?«

»Max, ich kenne alle zweibuchstabigen Wörter, die es gibt, und was Carol Vorderman angeht: Sie mag zwar gut in Mathematik sein, aber es kommt nicht von ungefähr, dass sie bei Countdown nicht in der Wörterbuch-Ecke saß. Überrascht mich nicht, dass du sie geschlagen hast.«

»Das sind doch bloß Kampfparolen.« Max klopfte ihr sacht mit der Faust an die Stirn, was Neve zur Weißglut brachte. »Ich erinnere dich dann an deine kleine Rede, wenn du dir die Buchstaben all der tollen langen Wörter, die dir ach so viele Punkte bringen sollen, vor Wut sonst wohin schiebst.«

»Okay, jetzt reicht’s.« Neve riss den Deckel von der Schachtel und knallte das Spielbrett auf den Tisch.

»So überragend gut kannst du gar nicht sein, wenn du deine Buchstaben in einer zerknüllten Papiertüte aufbewahrst.« Max stupste sie mit dem Fuß an, und Neve wusste, dass er das nur tat, um sie zu ärgern, aber es funktionierte.

»Dann mal los, Pfannkuchenmann«, schnarrte sie und warf ihm ein Buchstabenbänkchen an den Kopf, worüber er lediglich lachte. »Und glaub ja nicht, dass ich dich gewinnen lasse, nur weil du Geburtstag hast.«

Neve hatte sich noch nie so königlich amüsiert, jedenfalls nicht beim Scrabble-Spielen. Wann immer es ihr gelungen war, ein unbekanntes Wort so zu positionieren, dass es ihr möglichst viele Punkte einbrachte, legte Max etwa drei seiner Buchstabensteine an und schaffte es damit jedes Mal, einen großen Teil des Spielbretts zu blockieren.

Und wenn sie sich darüber echauffierte, weil das nicht dem Sinn des Spiels entsprach, schob er ihr einfach eine Praline in den Mund und sagte: »Heute ist Verwöhn-Sonntag, und du hattest gerade mal eine Kartoffel.«

Als die Pralinen und der Sekt alle waren, erstickte er ihr Protestgeheul im Keim, indem er sie küsste, was dazu führte, dass sie zwischen den Spielzügen jeweils eine lange Pause einlegten.

Es war eine Ehrensache und eine unglaubliche Genugtuung für Neve, sich ihren Sieg schließlich unter Einsatz des Buchstabens Q und Verwendung des dreifachen Wortwerts zu sichern, indem sie aus dem von Max gelegten »Jogging« das Wort »Aquajogging« machte.

Als er Einspruch erheben wollte, schwenkte sie lediglich den Duden, und dann küsste sie ihn zum Trost. Bald lagen sie wieder eng umschlungen auf dem Sofa, seine Hände verschwanden in ihrem Kleid, und Neve spielte mit seiner Gürtelschnalle, bis irgendwann ihre Neugier siegte und sie die Hand in seine Jeans schob, um durch den Stoff seiner Boxershorts hindurch die Finger um seinen zuckenden Schaft zu schließen.

Es fühlte sich nach wie vor seltsam an, einen erigierten Penis zu berühren, aber irgendwie auch gut; genauso gut wie seine Finger, die sich in ihren BH vorgetastet hatten und ihre Brustwarzen liebkosten, während er mit Zunge und Zähnen eine der hocherogenen Zonen an ihrem Hals bearbeitete. Es dauerte nicht lange, bis sie das Vorhandensein der Boxershorts eher störend als beruhigend fand. Neve ließ die Hand in den Eingriff gleiten, und einen kurzen, schockierenden Augenblick lang hielt sie ihn in den Fingern, heiß und glatt und pulsierend.

Doch Max krümmte sich und stöhnte: »Nicht!« Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und die Augen geschlossen, und Neve hatte ihn noch nie so hübsch gefunden wie in diesem Moment, in dem seine Brust und sein vor Lust verzerrtes Gesicht im sanften Lichtschein ihrer Stehlampe zu glühen schienen. »Zeit, aufzuhören.«

Neve wollte nicht aufhören, denn sie war high vom Sekt und der Schokolade und ihrem Scrabble-Sieg. Das war wohl auch der Grund dafür, dass sie den seltsamen Drang verspürte, sich die Kleider vom Leib zu reißen und zu beenden, was sie angefangen hatten, ganz gleich, welch grauenerregenden Anblick sie in nacktem Zustand bot.

Stattdessen versuchte sie, wieder zu Atem zu kommen, während Max den Reißverscluss seiner Kapuzenjacke zuzog, damit auch ja kein Zentimeter seiner Haut mehr sichtbar war und Neves Blut noch mehr in Wallung brachte.

»Ich gehe mit Keith raus«, verkündete er überflüssigerweise, denn das tat er immer, wenn sie an diesem Punkt angelangt waren. Es war fixer Bestandteil ihres Sonntagabend-Programms.

Bis er zurück war, saß Neve mit geputzten Zähnen und gebürsteten Haaren im Bett und war sicher, dass ihr mal wieder eine schlaflose Nacht neben Max bevorstand. Er legte die Hose ab und kroch hastig zu ihr unter die Decke. Der Kampf um das Federbett war eröffnet.

»Ist das kalt hier«, klagte er. »Ist deine Heizung kaputt?«

»Nein, ich habe sie ausgeschaltet, und die Fenster standen den ganzen Tag offen. Außerdem habe ich keine Wärmflasche im Bett und trage meinen Sommerpyjama.« Neve kuschelte sich an ihn. »Du kannst also jederzeit dein internes Heizkraftwerk anwerfen.«

»Weg mit dir!« Max schob sie von sich. »Du bist kalt wie ein Eiszapfen.«

»Ich leide viel schlimmer unter der Kälte als du.« Neve hatte sogar darauf verzichtet, ein paar Kapitel von The School at the Chalet zu lesen, wie sie es, inspiriert von dem Gespräch mit ihren Geschwistern vorhin, ursprünglich geplant hatte, weil sie ihre Hände nicht der Kälte aussetzen wollte. Tja, dann würde sie sich wohl warme Gedanken machen müssen.

Zehn Minuten später fror sie immer noch wie ein Schneider, und an Schlaf war nicht zu denken. Wann immer sie die Augen schloss, gingen sie ganz automatisch wieder auf. Sie nahm an, dass Max bereits eingeschlummert war, sich aber noch nicht in der Tiefschlafphase befand, denn er lag ganz ruhig da und gab keinen Ton von sich. Dann rutschte er plötzlich näher und schmiegte seinen herrlich warmen Körper an sie.

»Du darfst jetzt deine Füße an mir wärmen, wenn du willst.«

Sie drückte sogleich die eiskalten Fußsohlen an seine Schienbeine und seufzte selig. »Viel besser.«

Max drückte ihr einen Kuss auf die Schulter und schlang die Arme um sie; fest, aber zugleich ganz vorsichtig, als hätte er Angst, sie könnte zerbrechen. »Ich will mich ja nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber du solltest die Aussprache mit deinem Vater nicht unnötig hinausschieben.«

Neve war erleichtert gewesen, weil Max nichts zu der Story mit ihrem Vater gesagt hatte, nachdem Celia und Douglas gegangen waren, denn tief drin wusste sie, dass es stimmte; sie redete nicht mit ihrem Dad. Besser gesagt, sie legte ihr typisches passiv-aggressives Verhalten an den Tag und tat so, als wäre nichts gewesen. »Ich weiß«, murmelte sie in der Hoffnung, die Unterhaltung wäre damit beendet.

»Was er gesagt hat, war unfair und schmerzhaft, klar, aber wenn er irgendwann nicht mehr da ist, ist es zu spät für eine Versöhnung.« Max küsste noch einmal ihre Schulter, als würde er spüren, dass Neve bereits überlegte, wie sie diesem Gespräch am schnellsten entfliehen konnte, selbst wenn es bedeutete, das Bett zu verlassen. »Und dann ist es nicht mehr wichtig, was er gesagt hat. Dann ist nur noch wichtig, was du ihm alles nicht gesagt hast.«

Plötzlich wollte sie nicht mehr fliehen. Sie drehte sich zu ihm um, legte einen Arm um ihn und fuhr im Dunkeln die Konturen seines Gesichts mit den Fingern nach. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und flüsterte: »Was würdest du zu deiner Mutter sagen, wenn sie noch leben würde?« Sie streichelte die Sorgenfalten von seiner Stirn und wartete gespannt ab, ob er ihr genügend Vertrauen entgegenbingen würde, um ein wenig von seinem Schmerz mit ihr zu teilen.

Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. »Keine Ahnung … Ich würde wahrscheinlich nicht sagen, dass ich sie liebe oder dass sie mir gefehlt hat, sondern ihr eine Tasse Tee machen und sie fragen, wie ihr Tag war oder wie sie die neueste Folge von Coronation Street fand.« Er gab ein leises, undeutliches Geräusch von sich, bei dem es Neve das Herz zusammenzog, und lehnte die Stirn an ihre Schulter. »Es sind die kleinen, unscheinbaren Dinge, die man als selbstverständlich hinnimmt und die einem dann am meisten fehlen.«

Neve umklammerte seinen angespannten Körper. »Du kannst ruhig zugeben, dass sie dir fehlt.«

»Sie war immer so wütend. Auf meinen Vater, weil er sie im Stich gelassen hat, und auf mich auch. Sie hat sich oft ausgemalt, was für ein tolles, erfüllendes Leben sie führen könnte, wenn sie mich nicht am Hals hätte.« Max rieb sich die Augen und schluckte schwer. »Solange meine Großmutter noch gelebt hat, war es nicht so schlimm, aber nach ihrem Tod wurde meine Mutter immer noch depressiver. Dass ich mit sechzehn nach London gegangen bin, war die beste Entscheidung meines Lebens. Aber wenn ich damals gewusst hätte, dass sie nur noch zwei Jahre zu leben hat, wäre ich geblieben. Ich hätte für sie da sein müssen.«

»Aber das konntest du nicht wissen, Max. Und es war bestimmt beruhigend für sie zu sehen, dass du auf eigenen Füßen stehst und für dich selbst sorgen kannst.« Neve wusste nicht, was sie noch sagen sollte, um ihn zu trösten, also küsste sie ihn stattdessen. Es war ein ungeschickter Kuss, bei dem sie zuerst mit den Nasen kollidierten, was Max zum Lächeln brachte, und Neve spürte, wie die Anspannung langsam aus seinem Körper wich, wie Luft aus einem kaputten Fahrradreifen.

»Also, versöhne dich mit deinem Dad«, riet er ihr. »Du sollst nicht auch mit dieser Reue leben müssen. Ist nämlich ganz schön nervig.«

»Okay, ich werde mal meine Mum anrufen und sie fragen, wie es aussieht.« Es hatte auch sein Gutes, eine Mutter zu haben, die stets ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte. Neve versuchte, die Achseln zu zucken, was sich als überraschend schwierig entpuppte, wenn man jemanden im Arm hielt. »Es klingt blöd, aber ich bin irgendwie sogar froh, dass er es gesagt hat. Es war dringend nötig, aber ich wünschte trotzdem, es wäre nicht von ihm gekommen.«

Sie drehte sich um. Jetzt war Max wieder mit dem Umarmen an der Reihe, und sie schalt ihn nicht dafür, dass er eine Hand auf ihren Bauch legte. »Klingt, als wärt ihr euch davor ziemlich nah gewesen«, ermunterte er sie.

Und das waren sie auch gewesen. Sie hatten zusammen schweigen können … Eine Art von Schweigen, die pures Gold gewesen war. »Während ich in Oxford war, kam er öfter mal zu Besuch. Er hat mich zum Mittagessen in ein Restaurant am Flussufer eingeladen, und da saßen wir dann, ich mit irgendeinem Roman, er mit einer Ausgabe der Verbraucherschutz-Zeitschrift Which?, und wir haben kein Wort geredet. Das waren die einzigen Momente, in denen ich mit mir und meinem Leben zufrieden war. Er gab mir das Gefühl, dass er mich liebte, ohne über mich zu urteilen. Deshalb habe ich mich so verraten gefühlt, als er das dann gesagt hat, so, wie er es gesagt hat.«

Max versuchte nicht, sie mit einem Kuss zu trösten. Er umarmte sie auch nicht fester, sondern malte mit den Fingern bedächtig konzentrische Kreise auf ihren Bauch. Sie lagen eine Weile schweigend da, dann räusperte er sich und sagte: »Normalerweise regt es meine Interviewpartner zum Weiterreden an, wenn ich nichts sage.«

Neve musste kichern. »Entschuldige, aber für heute reicht es mir mit den Gesprächen über familienbedingte Psychosen.«

»Das schaffst auch nur du, zu nachtschlafender Zeit mit solchen Wörtern um dich zu werfen«, brummelte Max und legte sich etwas anders hin, damit Neve wieder die Fußsohlen an seine Schienbeine drücken konnte. »Mann, ich bin richtig fertig nach dieser ganzen Gefühlsduselei.«

»Ich auch. Wir sollten jetzt schlafen.« Eigentlich hätte Neve erschöpft sein müssen nach diesem anstrengenden Tag, aber als Max die Hand unter ihr T-Shirt schob und sie seine warme Handfläche auf ihrer nackten Haut spürte, kehrte das Verlangen von vorhin zurück und drängte sie, etwas zu unternehmen. Zum Beispiel, sich an Max zu pressen oder den BH auszuziehen, damit sie unauffällig den Busen an seinem Arm reiben konnte.

»Ja … schlafen …« Max klang, als würde er bereits eindösen. Als hätte sich sein Daumen nur rein zufällig in den Gummibund ihrer Schlafanzughose verirrt.

Jetzt war Neve nicht mehr kalt, sondern unerträglich heiß. Sie schloss die Augen, aber das verstärkte das Verlangen bloß, wahrscheinlich, weil sich ihre Sinne auf diese Weise ganz auf Max’ Hand konzentrierten. Ihr war, als würde sie nur aus Nervenzellen bestehen.

Sie hätte vor Frust aufschreien können, als er die Hand nach oben schob statt nach unten. Als er mit den Fingerspitzen die Unterseite ihrer Brust streifte, schnappte sie nach Luft.

»Entschuldige«, murmelte er verschlafen. Es war also keine Absicht gewesen. Mist. Er sollte sie weiter berühren, genau dort. Und etwas fester … »Warum hast du denn zum Schlafen einen BH an?«

»Ich ziehe ihn aus«, sagte Neve rasch und öffnete mit einer Hand den Verschluss. Dann schlüpfte sie umständlich unter dem T-Shirt aus dem BH und zog ihn durch einen Ärmel heraus. »Und du kannst deinen Arm ruhig dort lassen. Es macht mir nichts aus.«

»Wo denn?«

»Hier.« Sie legte ohne zu zögern seine Hand auf ihre nackte Brust, denn das Verlangen hatte längst die Oberhand über die schüchterne Sittsamkeit gewonnen.

Max versuchte, ihr seine Hand zu entziehen, aber als Neve den Druck seiner Finger auf ihrer Brustwarze spürte, hielt sie sein Handgelenk nur noch entschlossener fest.

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass wir das hier nicht tun.« Das klang auf einmal gar nicht mehr verschlafen, sondern eher reichlich angespannt. Fast schon gepresst.

»Nein, wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nicht miteinander schlafen, aber das will ich auch gar nicht. Ich will bloß, dass du mich streichelst.« Neve unterstrich ihre Worte mit einer entsprechenden Handbewegung, für den Fall, dass er es noch nicht kapiert hatte. »Und außerdem bin ich viel zu überdreht und kann ohnehin nicht schlafen.«

»Wo sind wir denn hier, im öffentlichen Dienst?«

»Äh, das ist wohl eher eine private Dienstleistung.« Sie ließ seine Hand los, denn er hatte angefangen, ihre Brust zu massieren, und sie presste den Hintern an ihn und war nicht sonderlich überrascht, als sie seinen harten Schwanz spürte.

»Soll ich dich noch woanders streicheln?«

»Ja, hier.« Sie packte ohne zu zögern seine Hand und schob sie nach unten in ihre Pyjamahose. Wozu sollte sie sich noch länger quälen?

Diesmal bedurfte es keiner weiteren Demonstration von ihrer Seite. Seine Hand schmiegte sich bereits an ihren Venushügel, und eine Fingerspitze testete, wie feucht sie war. Dann glitt der Finger etwas tiefer in sie und begann sich in ihr zu bewegen, während Neve sämtliche Muskeln anspannte.

»So, meinst du?«, fragte er heiser. »Gefällt dir das?«

»Ja«, keuchte sie und tastete ungeschickt mit einer Hand nach hinten. Zu ihrer Überraschung traf sie auf nackte Haut und einen Hüftknochen, und ihre Fingerknöchel streichelten seinen Schwanz, bis Max ihr die Schlafanzughose zu den Knien hinunterschob, damit sie mehr Bewegungsfreiheit hatten.

Er verstand sich hervorragend darauf, mit dem Daumen ihre Klitoris zu stimulieren, während sich sein Zeigefinger in ihr vor- und zurückbewegte, und Neve konnte hören, was er mit der anderen Hand tat, dabei vernahm sie das leise, klatschende Geräusch zum ersten Mal. Aber sie wusste, was es bedeutete, und war nicht überrascht, als Max irgendwann stöhnte und sich etwas Warmes, Feuchtes auf ihr Kreuz ergoss.

Man hätte meinen können, dass sie es ekelhaft finden würde, aber sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ein letztes Mal seine Hand dorthin zu dirigieren, wo sie sie brauchte. Und dann war sie plötzlich nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu tun. Sie schnappte nach Luft und kniff die Augen zu, und es fühlte sich an, als würde sie im freien Fall durch Zeit und Raum rauschen, und eine Sekunde, ehe sie auf dem Boden aufprallte, wurde sie von Max aufgefangen.

Danach – und nachdem sie einander wenig erfolgreich mit Taschentüchern trocken gelegt hatten – schmiegte sich Neve erneut in seine Arme. Nicht schlafen zu können ist echt so was von überflüssig, dachte sie und spürte, wie sie wegdämmerte.

»Und, flippst du nicht aus?«, fragte Max.

»Im Moment nicht.« Neve gähnte. Sie hatte das Gefühl, als würde Sirup durch ihre Adern und ihr Gehirn laufen. »Wahrscheinlich kommt das dann morgen früh.«

»Manchmal habe ich Angst, dass ich nie in der Lage sein werde, eine richtige Beziehung zu führen, wenn ich mich nur auf die sexuelle Befriedigung konzentriere. Jedenfalls sagt das meine Th… eine Freundin von mir. Was meinst du dazu?«

Neve versuchte, die Frage mit der gebotenen Sorgfalt zu überdenken, musste jedoch bald die Segel streichen. »Ich glaube, du brauchst neue Freunde.«