Kapitel 32

Neve hatte angenommen, dass sie sich auf dem Weg von Bloomsbury nach Camden Gedanken über das bevorstehende Treffen mit ihrem Vater machen würde. Stattdessen telefonierte sie eine geschlagene halbe Stunde mit Philip, wobei sie sich zusehends in eine künstliche Aufregung hineinsteigerte. Was, wenn man ihr Steine in den Weg legte, ihr den Einblick in Familiendokumente und den Zutritt zu Literaturarchiven verwehrte? Sie war so damit beschäftigt, herumzujammern, dass sie, als sie in den Parkway einbog, kurz überlegen musste, warum sie eigentlich hier war. Wie immer war sie zehn Minuten zu früh dran, und wie immer war ihr Vater bereits da. Er stand vor dem Kino und schüttelte den Kopf, während ihm ein Obdachloser irgendeine traurige Geschichte erzählte, in der Hoffnung, ihm damit fünfzig Pence aus dem Kreuz leiern zu können. Neve schob sich am Einkaufswagen des Obdachlosen vorbei, der bis oben hin mit vollen Plastiktüten beladen war.

»Zum allerletzten Mal: Zieh Leine und such dir einen Job«, bellte Barry Slater gerade. »Ach, da bist du ja«, sagte er, als er Neve bemerkte. »Lass uns reingehen, ich will die Vorschauen nicht verpassen.«

Nach einer kurzen Umarmung, die eigentlich eher eine Kollision von Ellbogen und Nasen war, betraten sie das Kino. Natürlich hatte ihr Vater die Tickets schon gekauft, und nun schickte er Neve auf die Toilette (»Deine Mutter geht nämlich immer erst zehn Minuten nach Beginn des Films aufs Klo, und dann löchert sie mich bis zum Schluss mit Fragen.«) Bis sie wieder herauskam, hatte er zwei Flaschen Wasser und eine kleine Tüte Popcorn besorgt.

»Gesalzenes«, sagte er, während sie auf Saal eins zusteuerten. »Darfst du das essen? Und ich? Wegen meines Cholesterinspiegels, meine ich.«

»Ich werde mir eine Handvoll genehmigen, aber du solltest nichts essen, das viel Natrium enthält.« Neve zwang sich, ihren Vater ganz bewusst zu betrachten, statt wie sonst gleich wieder den Blick abzuwenden. Er sah gut aus, braun gebrannt und mit merklich weniger Falten als beim letzten Mal, und auch seine Wampe war seitdem beträchtlich geschrumpft. »Mum hat erzählt, dass du jetzt gesünder lebst. Scheint ja Früchte zu tragen.«

Ihr Vater tätschelte sich den Bauch. »Das Bier fehlt mir«, brummte er. Das bedeutete dann wohl, dass die Unterhaltung über seinen Cholesterinspiegel beendet war, und wenn sie erst auf ihren Plätzen saßen, galt absolutes Sprechverbot.

Während sie auf den Beginn des Films wartete, fragte sich Neve, was sie eigentlich hier suchte. Ihr Vater wirkte kein bisschen bedrückt wegen all der Dinge, die er gesagt hatte – und auch nicht, weil er so manches nicht gesagt hatte. Vielleicht dachte er ja dasselbe über sie. Bei Barry Slater war das schwer zu sagen.

Neunzig Minuten später war Neve schon viel besser gelaunt. Es war alles da gewesen: Jennifer Anistons glänzendes Haar, ein attraktiver männlicher Hauptdarsteller mit markanten Gesichtszügen, eine leicht verrückte beste Freundin, eine nicht zu sehr auf Sex fixierte Handlung und am Schluss ein Kuss im frühlingshaften Central Park. Neve wusste, sie sollte sich dringend mal wieder einen Film aus Osteuropa ansehen, aber eine gute romantische Komödie war ihr allemal lieber.

»Na, hat’s dir gefallen, Dad?«, fragte sie auf dem Weg nach draußen. Ihr Vater legte ihr eine Hand an den Ellbogen, für den Fall, dass sie auf der Treppe stolpern sollte.

»Ja, war ganz okay. Aber mir ist wirklich schleierhaft, was Brad Pitt geritten hat, diese Frau zu verlassen.«

»Tja, man steckt eben nicht drin«, murmelte Neve, die keine Lust hatte, das Thema weiter zu vertiefen.

»Das Auto steht um die Ecke. Dachte, wir könnten ja bei Marco essen«, sagte ihr Vater, und Neve stellte sich auf zwei weitere angespannte Stunden mit ihm ein.

Auf dem Weg nach Finsbury Park herrschte Schweigen, unterbrochen von gelegentlichen wüsten Beschimpfungen, mit denen Barry Slater die anderen Verkehrsteilnehmer bedachte. Auch die Mütter der betreffenden Fahrer kamen nicht ungeschoren davon. Neve betätigte derweil immer wieder ein imaginäres Bremspedal.

Ihr Vater entspannte sich merklich, als sie die Tür zum Restaurant öffneten und ihnen der warme Duft nach Knoblauch und frischem Brot entgegenschlug. Marco, der Besitzer, eilte ihnen sogleich entgegen, um sie willkommen zu heißen.

»Signor Slater! Lange nicht gesehen.« Sie klopften einander mannhaft auf den Rücken und steuerten auf einen Tisch am Fenster zu, an ihren ehemaligen Nachbarn Mr und Mrs Chatterjee vorbei, die ebenfalls freundlich grüßten.

Spätestens als Neve ihrem Vater versicherte, sein Herz könne ohne Weiteres eine Pizza verkraften, solange sie nicht zu dick mit Käse belegt war, war er bestens gelaunt, und sobald sie ein Glas Rotwein in der Hand hielt, war auch sie davon überzeugt, dass alles gut werden würde. Anfangs waren sie beide etwas verunsichert gewesen, aber das war ja auch kein Wunder, nachdem sie drei Jahre lang nicht besonders viel miteinander geredet hatten.

Sie schenkte ihrem Vater ein mildes Lächeln, als er eine zusammengerollte Ausgabe der Verbraucherschutz-Zeitschrift Which? Computing aus der hinteren Hosentasche zog und sie aufschlug. »Hast du was zu lesen dabei?«

Und da wusste Neve, dass alles noch beim Alten war. Wenn sie einander wie früher lesend gegenübersaßen, hieß das beileibe nicht, dass alles gut war. Es bedeutete lediglich, dass ihr Vater ihr nichts zu sagen hatte, und ihr selbst fiel auch nichts ein, worüber sie mit ihm hätte reden können. Sie kramte eines ihrer Chalet-School-Bücher aus der Tasche. Lesen für die Seele statt Essen für die Seele.

Sie hatte noch nicht einmal einen Absatz gelesen, da schnaubte ihr Vater: »Du liest immer noch diese albernen Mädchenbücher?«

»Naja, nicht immer noch, sondern wieder, aber …«

»Weißt du noch, wie Onkel George damals bei einer Entrümpelung in Lytham St Annes die komplette Sammlung gefunden hat? Fünfzig Stück …«

»Achtundfünfzig«, korrigierte ihn Neve.

»Ich bin die ganze Nacht gefahren, um den Karton zu holen, und du hast geheult wie ein Schlosshund, als du ihn am nächsten Morgen geöffnet hast«, fuhr Barry Slater fort, als fände er die Erinnerung daran nach wie vor verstörend.

»Es waren Tränen der Freude.«

»Wozu vor Freude heulen, wenn es auch so schon genügend Gründe zum Weinen gibt?« Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.

Neve murmelte etwas Unverbindliches und widmete sich dann wieder ihrem Buch.

»Ich erinnere mich an Eustacia Goes to the Chalet School«, verkündete ihr Vater stolz, sodass Neve gezwungen war, erneut den Kopf zu heben.

»Wieso das denn? Hast du etwa heimlich meine Bücher gelesen, wenn ich im Bett war?«

»Unsinn«, brummte er. »Du hast mir die ganze Geschichte erzählt, als wir uns damals auf dem Weg nach Morecambe an der Raststätte abgesetzt haben. Das hat mir deine Ma übrigens bis heute nicht verziehen.«

»Celia und Douglas auch nicht, nur damit du’s weißt«, informierte sie ihn, und diesmal war ihr Lächeln nicht aufgesetzt, sondern echt, und ihr Vater grinste ebenfalls.

»Warum zum Teufel liest du diesen Schund noch einmal? Du hast doch schließlich in Oxford studiert.«

Also erklärte ihm Neve, dass sie Trost bei ihren alten Kinderbüchern gesucht hatte, als sie kürzlich im Archiv so gestresst gewesen war. Sie erzählte von der denkwürdigen Jahreshauptversammlung, und als Marco kam, um ihren Tisch abzuräumen, berichtete sie von ihrem ersten Treffen mit ihrem Agenten und dem Buch, das sie schreiben sollte.

»Ich gebe mir Mühe, deswegen nicht total auszuflippen«, schloss sie, nachdem ihr Vater einen koffeinfreien Kaffee und eine Tasse Pfefferminztee bestellt hatte.

»Du konntest schon immer gut Geschichten erzählen. Du hast Celia oft bei den Englisch-Hausaufgaben geholfen. Einmal sollte sie Romeo und Julia nacherzählen, und du hast das Stück in die zeitgenössische Atmosphäre der Coronation Street verpflanzt. Nicht, dass ihr deine Hilfe viel gebracht hätte.«

»Naja, sie hat immerhin eine Arbeit, die sie liebt.«

Ihr Vater schnaubte erneut, denn seiner Ansicht nach war ein Job in der Modebranche kein ordentlicher Job und würde es auch nie sein. »Hätte nicht gedacht, dass wir mal eine Schriftstellerin in der Familie haben würden. Deine Großmutter wäre sehr stolz auf dich, Neve.«

»Ach, ja?«, fragte Neve vorsichtig, denn ihr Vater redete nie über seine Mutter, und sie wollte den eben erst eingekehrten Frieden nicht aufs Spiel setzen.

»Sie war eine sehr intelligente Frau, aber ihr Vater, also dein Urgroßvater, fand, Bildung sei an Mädchen verschwendet. Sie hat es stets bereut, dass sie mit fünfzehn die Schule verlassen und arbeiten gehen musste, um zu Hause etwas beizusteuern.«

»Sie muss dir sehr fehlen … Ich meine, du hast sie ja schon mit achtzehn verloren. Ich habe keine Ahnung, was ich tun würde, wenn euch etwas zustoßen würde.«

Ihr Vater hob eine Augenbraue. »Du würdest schon zurechtkommen, Kleines.«

Neve holte tief Luft. »Dad, es tut mir echt leid, dass …«

»Ich bin auch stolz auf dich, auch wenn ich es nicht immer zeige. Du bist die Erste in unserer Familie, die studiert hat, noch dazu in Oxford. Ich weiß ja nicht, was genau du in dieser Bücherei treibst, aber du solltest jede Gelegenheit nutzen, die sich dir bietet. Du kannst alles schaffen, wenn du dich erst einmal dazu entschlossen hast. Und damit meine ich nicht nur diese Biografie.«

Sie war froh, dass er es dabei beließ, denn im Laufe der vergangenen Stunde waren der Schmerz und die Verbitterung der vergangenen drei Jahre allmählich etwas abgeebbt, wenn auch nicht vollkommen verschwunden. »Weißt du, Dad, ganz egal, wie viele Titel vor meinem Namen stehen, ich bin und bleibe ich selbst. Ich werde nie vergessen, wo ich herkomme.«

»Du bist durch und durch eine Slater«, stellte ihr Vater stolz fest. »Daher hast du auch deine Klugheit. Ich liebe deine Ma, aber als der liebe Gott den gesunden Menschenverstand ausgeteilt hat, stand ihre gesamte Familie ganz hinten in der Schlange.«

Als sie das geklärt hatten, wusste Neve, was sie als Nächstes sagen musste, nämlich: »Kommst du noch mit zu mir? Mein Duschkopf tropft, und an der Besteckschublade ist der Griff locker.«

Kleinere Reparaturen im Haushalt zu erledigen, war für Barry Slater das größte Glück auf Erden. Nachdem Neve Keith ins Schlafzimmer gesperrt hatte, weil Männer mittleren Alters, die eine Werkzeugkiste in der Hand hielten, offenbar auch zu den zahllosen Dingen gehörten, bei denen er einen Anfall bekam, machte sich ihr Dad an die Arbeit. Er hängte außerdem ein Bild neu auf und stellte die Digitaluhr an ihrem Backofen richtig ein, und als Neve ihn zur Tür brachte, bot er ihr an, unten im Korridor einen großen Haken zu montieren, damit sie künftig ihr Rad an die Wand hängen konnte.

»Dann wäre es nicht mehr im Weg«, bemerkte er.

»Nein, schon gut, danke. Es stört niemanden«, wehrte Neve ab, sonst nahm Charlotte womöglich noch an, dass es ihretwegen geschehen war.

Sie wollte gerade die Tür öffnen, da legte ihr Vater ihr einen Arm um die Schulter. »Also, dieser Bursche, von dem mir deine Mutter erzählt hat … Ich hoffe, er behandelt dich anständig.«

Neve errötete. Der besagte Bursche würde in einer halben Stunde anrufen und ihr übers Telefon ein paar höchst unanständige Sachen ins Ohr säuseln. »Aber natürlich.«

»Das will ich hoffen. Ich finde es nicht gut, dass er dir diesen Hund aufgebürdet hat. Das Vieh könnte dich jeden Augenblick anfallen«, brummte er in einem Tonfall, der perfekt zu seiner finsteren Miene passte. Neve hatte sich fast damit abgefunden, dass ihr Treffen mit dieser bissigen Bemerkung zu Ende gehen würde, da breitete er die Arme aus. »Wie wär’s mit einer Umarmung für deinen alten Vater?«

Kein Mensch außer ihrem Vater konnte Neve mit einer Umarmung dieses Gefühl absoluter Sicherheit und Geborgenheit geben. Also trat sie bereitwillig einen Schritt nach vorn, begrub das Gesicht an seiner Schulter und inhalierte den Duft des Weichspülers, den ihre Mutter benutzte, den Staub aus den Löchern, die er in ihre Wand gebohrt hatte, und diesen anderen undefinierbaren, unbeschreibbaren Geruch, den nur ihr Vater verströmte.

»Tja, jetzt können wir uns umarmen«, bemerkte er mit rauer Stimme und versuchte, sich von ihr zu lösen, doch Neve drückte ihn noch fester an sich, bis er sie nach ein, zwei langen Minuten auf den Scheitel küsste und die Arme sinken ließ. »Ich mache mich jetzt besser auf den Weg, sonst denkt deine Mutter noch, ich wäre entführt worden.«

Neve öffnete die Tür, und als er nach draußen trat, fragte sie: »Wollen wir uns nächstes Mal einen Film mit Cameron Diaz anschauen?«

»Liebend gern, auch wenn sie Jennifer Aniston nicht das Wasser reichen kann.«