Kapitel 23

Neve wusste, dass sie über 80 Kilo abgenomen hatte. Dass ihr Hüftumfang von 152 auf 110 Zentimeter geschrumpft war. Dass sie jetzt BH-Größe 75F statt 120I trug. All das war ihr theoretisch bewusst.

In der Praxis jedoch, etwa, wenn sie wie jetzt in der von Neonlicht erhellten Umkleidekabine eines 08/15-Kleiderladens der gehobeneren Kategorie stand und ihr schwabbelndes weißes Fleisch sah, fühlte sie sich nach wie vor fett. Und sie war überzeugt, dass sie auch fett aussah.

Und das Schlimmste war, dass Neve bei jeder Shoppingtour mit ihrer Mutter unweigerlich an die schrecklichen Augustnachmittage denken musste, an denen sie sich gemeinsam auf die Suche nach einer neuen Schuluniform für sie gemacht hatten. Mit vierzehn war sie bereits zu dick für den größten Schuluniformrock gewesen, den es bei Marks & Spencer gab, und musste stattdessen einen marineblauen aus der Übergrößenabteilung nehmen. Ein oder zwei Jahre später war sie wegen ihres Blazers mit demselben Problem konfrontiert gewesen, und ihre Mutter hatte die Erlaubnis erhalten, von ihrer Freundin Agnes einen für Neve nähen zu lassen. Das Ergebnis spannte über der Brust, sah den anderen Schuluniformblazern mit seinen Biesen an den Nähten nicht im Entferntesten ähnlich und war obendrein aus billigem Polyester, sodass Neve jedes Mal einen elektrischen Schlag bekam, wenn sie das Physiklabor betrat.

Charlotte lief zu Höchstform auf, als sie sie das erste Mal darin sah.

Neve kauerte auf dem Bänkchen ihrer Umkleide und vermied es tunlichst, in den Spiegel zu sehen. Wer sah in diesem Licht schon gut aus, noch dazu in der figurformendsten Unterwäsche, die es hierzulande zu kaufen gab? Und was trieb Celia so lange da draußen? Neve hatte gehofft, sie hätte sich klar ausgedrückt, als sie gesagt hatte, sie sei auf der Suche nach einem schwarzen Kleid, aber Celia versuchte ihr stattdessen einen schwarzen Hosenanzug mit smokingartigem Jackett einzureden. »Darin siehst du aus wie Marlene Dietrich.«

Neve hatte sie nur ungläubig angestarrt. Um auszusehen wie Marlene Dietrich hätte sie sich einer umfassenden Schönheits-OP samt Fettabsaugung unterziehen oder besser noch einen Genaustausch vornehmen lassen müssen.

Natürlich hatte auch ihre Mutter gleich ihren Senf dazugeben müssen: »Mit einer schicken schwarzen Hose ist man immer gut angezogen, sei es bei Vorstellungsgesprächen oder wenn man vor Gericht aussagen muss … und natürlich bei Beerdigungen.«

Celia war gut geschult und wusste, dass sie die Umkleide ohne ausdrückliche Erlaubnis nicht betreten durfte. »Hier, probier die mal an.« Sie reichte Neve zwei Hosenanzüge durch den Spalt zwischen den dünnen Baumwollvorhängen.

»Bringst du mir dann bitte ein paar schwarze Kleider?«, rief Neve. Keine Antwort. Sie hängte die beiden Anzüge wenig begeistert auf. Warum hatte ihr Celia Größe 42 gebracht? Den in Größe 44 würde sie anprobieren, um ihren guten Willen zu zeigen – und um zu demonstrieren, dass »Mission Marlene« an ihrem gebärfreudigen Becken scheiterte. Und dann würde sie darauf bestehen, dass jetzt die schwarzen Kleider dran waren.

Die Hose ließ sich einigermaßen mühelos über ihren Po ziehen und sogar zumachen, doch sie spannte über der Hüfte und an den Oberschenkeln, während der Bund etwas abstand. Aus reiner Neugier nahm Neve das Jackett vom Bügel und schlüpfte hinein. Immerhin das passte ihr; die Knöpfe gingen zu, aber …

»Na, wie läuft’s da drin?«, ertönte die grelle Stimme ihrer Mutter, und dann wurde zu Neves Entsetzen der Vorhang aufgerissen. »Lass dich mal ansehen.«

»Die Hose passt nicht«, sagte Neve und hielt sich schützend die Arme vor den Bauch. »Das Jackett ist okay, finde ich.«

»Zeig mal.« Ihre Mutter besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit, ihre Arme beiseitezuschieben und prüfend eine Hand in den Hosenbund zu stecken. »Die ist dir zu weit.«

»Sie ist zu eng. Sie spannt am Hintern und an den Beinen.«

»Unsinn. Sie ist zu groß, und das Jackett hängt wie ein Sack an dir runter.« Mrs Slater knöpfte Neve die Jacke auf.

»Mum! Lass das!« Neve versuchte, sie davon abzuhalten.

»Ich habe diesen Körper zur Welt gebracht – was übrigens kein Honigschlecken war, das kannst du mir glauben –, und außerdem sind wir unter uns. Kein Grund, sich zu schämen.«

Jetzt knöpfte ihre Mutter ihr die Jacke auf. »Oh, deine Brust ist viel kleiner als ich dachte.«

»Mum! Was hab ich dir vorhin gesagt?« Celia schob den Vorhang beiseite und bedachte ihre Mutter mit einem bitterbösen Blick. »Du kannst doch nicht einfach so da reinmarschieren und ungefragt deine Meinung raustrompeten! Und lass die Finger von Neve!«

»Also, wo gibt’s denn so was?«, brummte Mrs Slater und ließ die Hände sinken. »Du brauchst dich für nichts zu schämen, Neve. Du bist ja nur noch ein Strich in der Landschaft!«

»Ein reichlich dicker Strich«, maulte Neve und knöpfte die Jacke wieder zu, um sich Celia zu präsentieren.

»Der ist dir zu groß. Probier den kleineren«, sagte diese.

»Hört ihr mir nicht zu? Ja, der Hosenbund ist zu weit, aber sie spannt über der Hüfte und über meinem Nilpferdhintern.«

»Bitte, zieh einfach den kleineren an, ja? Mir vergeht schön langsam die Lust am Leben«, flehte Celia.

»Okay, meinetwegen.« Neve griff nach dem zweiten Anzug und drehte sich zu Celia und ihrer Mutter um, die man für Zwillinge hätte halten können, wenn ihre Mutter nicht fünfundzwanzig Jahre älter gewesen wäre – dieselbe Statur, derselbe indignierte Gesichtsausdruck. Allerdings schminkte sich Mrs Slater etwas dezenter, seit ihre Haare nicht mehr ganz so feurig rot waren wie früher. »Ich brauche kein Publikum, danke schön.«

Ihre Mutter ließ sich auf das gepolsterte Bänkchen plumpsen. »Himmel, tun mir die Füße weh. Also, nun erzähl mal, auf wessen Hochzeit gehst du eigentlich?«

Neve warf Celia einen verzweifelten Blick zu.

»Wie gesagt, es ist jemand, den Neve über drei Ecken kennt«, schaltete sich Celia sogleich ein und startete dann wie vereinbart das Ablenkungsprogramm, denn wenn sich ihre Mutter erst einmal in ein Thema verbissen hatte, ließ sie nicht so schnell locker. Sich in etwas zu verbeißen war quasi Margaret Slaters Daseinszweck. »Hab ich dir eigentlich erzählt, dass Douglas und Charlotte in einer Tour streiten? Ich fürchte, es gibt bald die erste Scheidung in unserer Familie.«

»Hm. Wenn ich daran denke, wie vielen netten Mädchen er den Hof gemacht hat! Und dann heiratet er ausgerechnet sie.« Mrs Slater spitzte die Lippen und hob den Blick zum Himmel. »Ich sollte Pfarrer Slattery bitten, mal bei ihnen vorbeizuschauen. Aber sie ist ja nicht katholisch, oder?«

»Nein, kein bisschen«, antwortete Celia scheinheilig. Sie war seit einer halben Ewigkeit nicht in der Kirche gewesen und hätte, um all ihre Sünden zu büßen, wahrscheinlich einen ganzen Tag im Beichtstuhl knien müssen, gefolgt von einer Woche des Gebets und der Selbstgeißelung. »In konfessionellen Mischehen sind Probleme eben quasi vorprogrammiert.«

Dieses Thema war als Ablenkung eine todsichere Sache. Jetzt konnte sich Neve in aller Ruhe umziehen, während ihre Mutter sich des Langen und des Breiten über jene gottlosen Massen ausließ, die in ihren Augen für alle Geißeln der Menschheit von Messerstechereien bis hin zur Schweinegrippe verantwortlich waren.

Neve zog sich die Hose über die Knie, wo sie jedoch nicht wie erwartet hängenblieb, nein, sie passte wie angegossen.

Aber der Reißverschluß würde sich nie und nimmer …

Irrtum! »Ich glaube, du hast mir zweimal dieselbe Größe gebracht, Celia«, sagte Neve. »Diese Hose ist mir obenrum ebenfalls zu weit und um die Hüften zu eng. Aber die Jacke wirkt kleiner. Ist sie zu klein?«

»Lass mich mal sehen.« Celia schob entgegen ihrer »Don’t touch«-Vereinbarung die Hand hinten in den Hosenbund, um das Etikett herauszufischen. »Nein, das ist Größe 42. Und sie ist nicht zu eng, sie soll ab der Hüfte locker fallen, und genau das tut sie, und am Bauch soll sie anliegen.« Sie drehte Neve um hundertachtzig Grad und zupfte da und dort ein wenig an ihr herum. »Die passt dir viel besser, und siehst du, wie schmal deine Taille darin wirkt?«

»Aber das kann nicht sein! Ich habe 110 Zentimeter Hüftumfang! Für Größe 42 müssten es 107 Zentimeter sein.« Neve schüttelte den Kopf. »Und du findest wirklich, sie ist nicht zu eng?«

»Natürlich nicht«, rief Mrs Slater und drängte Celia beiseite, um nun selbst an Neve herumzuzupfen. »Du hast wenigstens eine richtige Figur, Mädel; im Gegensatz zu Celia, die aussieht wie ein Besenstiel. Die Hose ist dir so zwar etwas zu lang, aber wenn du dazu halbhohe Pumps anziehst, passt die Länge.«

»Besenstiel? Meine fehlenden Kurven hab ich von dir geerbt, Mum«, fauchte Celia. »Und ich opfere meine wertvolle Zeit ganz sicher nicht für den Kauf von halbhohen Pumps. Neve, ich glaube, du bist bereit für einen Acht-Zentimeter-Stöckelschuh. Keine Sorge, wir besorgen dir was mit Riemchen.«

»Ich kann nicht fassen, dass ich eine Hose Größe 42 trage«, murmelte Neve benommen und verrenkte sich beinahe den Hals, um ihren Hintern im Spiegel zu betrachten. Sie konnte beim besten Willen nicht beurteilen, ob die Hose gut an ihr aussah oder nicht, aber sie musste sie haben. Größe 42! »Und was soll ich unter dem Jackett anziehen?«

»Ehrlich gesagt würden die meisten Frauen nur einen BH darunter anziehen … Aber ich weiß ja, dass du nicht wie die meisten Frauen tickst«, fügte Celia hastig hinzu, als Neve entsetzt die Augen aufriss. »Ich hab dir draußen ein paar Teile hingehängt.«

Unter den »Teilen« befand sich eine hübsche, mit Kirschblüten bedruckte Chiffonbluse mit Gummizug am Bund und an den Ärmeln, die Neve ausnehmend gut gefiel, sowie ein austerngraues Satinkleid mit schwarzer Spitze und geraffter Taille, das Celia wohl für den Fall ausgesucht hatte, dass sich Neve in puncto Hosenanzug als uneinsichtig erweisen sollte. Es hatte Dreiviertelärmel, einen Schalkragen und einen glockigen Rock, der Neve beim Gehen um die Beine schwang. Jetzt war sie hin und her gerissen – dieses Kleid wäre für die Hochzeit mindestens genauso passend wie der Hosenanzug. Ihre Mutter war sprachlos, als sie sie darin sah.

»Ach, Neve«, seufzte Mrs Slater nach einer Minute (ihre Sprachlosigkeit dauerte nie länger als eine Minute), »du siehst toll aus, und um deinen Busen bist du wirklich zu beneiden.«

»Kann ich damit in einen Nachtklub gehen?«, fragte Neve ihre Schwester hoffnungsvoll.

Diese verdrehte die Augen. »Nur, wenn es ein Nachtklub aus den Vierzigerjahren ist.« Sie senkte die Stimme. »Es sieht umwerfend aus, aber es ist weder WAG-freundlich noch so vielseitig einsetzbar wie der Hosenanzug. Ich habe dir noch etwas für den Nachtklub gebracht, und ich will nicht gleich ein Nein hören, auch wenn das vielleicht deine erste Reaktion sein mag, ja?«

»Warum? Was ist denn damit?«

»Nichts.« Celia griff mit einer Hand durch den Vorhangspalt. »Es entspricht nur nicht so ganz deinem üblichen Stil, der übrigens reichlich konservativ ist.«

»Er ist klassisch«, belehrte Neve sie, obwohl sie wusste, dass sie im Grunde genommen nicht wirklich einen eigenen Stil hatte. Bei ihr war jedes Outfit ein Erfolg, sobald es Oberschenkel, Hüften, Bauch und Oberarme bedeckte. Aber der Anzug bewies doch, dass sie für alles offen war … »Oh Gott, vergiss es. So einen Glitzerfummel ziehe ich nicht an!«

Das Minikleid, das Celia ihr unter die Nase hielt, war über und über mit Pailletten bestickt. Das einzig Gute daran waren die langen Ärmel – und nur die waren der Grund dafür, dass Neve sich dazu überreden ließ, es anzuprobieren.

Als sie sich im Spiegel betrachtete, konnte sie außer dem Gefunkel der Pailletten und ihren stämmigen Beinen kaum etwas sehen. »Es ist zu kurz, und außerdem sehe ich darin aus wie eine Oma, die auf Teenager macht. Und ich habe nichts, das dazu passt. Es sieht albern und lächerlich und unvorteilhaft aus.«

»Es ist leicht ausgestellt geschnitten. Einen vorteilhafteren Schnitt gibt es gar nicht! Und dazu trägt man Leggings.«

»Leggings?«, echote Neve. »Ich und Leggings? Niemals!«

»Eine Oma, die auf Teenager macht? Du bist doch erst fünfundzwanzig«, mischte sich Mrs Slater ein. »Das ist ein sehr hübsches Kleid für die Disco, und es überlässt wenigstens noch etwas der Fantasie. Heutzutage gehen manche Mädchen ja quasi in der Unterwäsche aus dem Haus.«

Neve blickte erneut in den Spiegel. Sie war ganz rot angelaufen vor Ärger, und ihr panischer Gesichtsausdruck passte so gar nicht zu ihrem in Pailletten gehüllten Körper. Und dann ihre riesigen Oberschenkel!

»Ich sehe schauderhaft aus«, sagte sie matt, in der Hoffnung, die Diskussion damit beenden zu können.

Doch weit gefehlt – Celia explodierte regelrecht, was vermutlich darauf zurückzuführen war, dass sie nun schon ungewöhnlich viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht hatten. »Warum siehst du nicht ein Mal das, was wir sehen?«, tobte sie und umklammerte Neves Schultern und zwang sie, in den Spiegel zu blicken. »Du siehst klasse aus! Sexy! Jedenfalls würdest du klasse aussehen, wenn du nicht immer so ein Gesicht ziehen würdest! Herrgott, Neve …«

»Celia! Du sollst den Namen des Herrn nicht achtlos ausspr…«

»Das ist ein Kleid Größe 42. Du hast Größe 42, und du siehst kein bisschen fett aus, ganz egal, was du trägst. Dafür müsstest du dich schon in ein Chanel-Kleid zwängen, und ganz ehrlich, in der Welt von Chanel gilt Größe 32 bereits als fettleibig.«

»Das ist nicht hilfreich, Celia«, presste Neve hervor. Es war nur ein dämliches, glitzerndes Kleid. Kein Grund also, so zu tun, als ginge es um Leben und Tod. »Hör zu, ich finde schon etwas für den Nachtklub, das ein paar Pailletten am Ausschitt oder am Saum hat.«

Celia verschränkte die Hände vor der Brust und baute sich vor dem Vorhang auf. »Du kaufst dieses Kleid.«

»Celia, ich bin erwachsen und durchaus in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen. Du kannst hier rumstehen und dein Kampfgesicht machen, solange du willst; es wird dir nichts nützen.«

»Dann kaufe ich es eben für dich«, beharrte Celia so aggressiv, wie man jemandem ein paar Ohrfeigen androht.

Höchste Zeit für die großen Geschütze. »Mum! Sag’s ihr!«

Mrs Slater erhob sich schwerfällig. »Celia, du wirst Neve dieses Kleid nicht kaufen, weil ich ihr nämlich beide Kleider und den Anzug kaufen werde. So, wo gibt es die Schuhe, von denen du vorhin geredet hast?«

Celia ließ sich normalerweise von einem strengen Tonfall und einem eisernen Blick einschüchtern, doch bei ihrer Mutter kam Neve damit nicht weit, da konnte sie noch so oft beteuern, dass sie das Pailettenkleid gar nicht haben wollte und dass sie den Anzug bar und das andere Kleid mit ihrer Kreditkarte bezahlen würde.

»Ich bezahle, und du wirst dich gefälligst darüber freuen!«, herrschte ihre Mutter sie an. Sie standen mittlerweile an der Kasse. »Und jetzt raus vor die Tür mit euch beiden. Ihr seid nämlich noch nicht zu alt dafür, dass ich euch mal wieder übers Knie lege!«

Neve wäre am liebsten im Boden versunken, und Celia, die gerade protestieren hatte wollen, schloss den Mund mit einem hörbaren Schnappen.

»Danke, Mum«, murmelte Neve kleinlaut, als Mrs Slater gleich darauf mit einer steifen Papiertüte aus dem Laden kam. »Ich weiß es zu schätzen.«

»Nun, ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit dir shoppen war, Neve, und es ist schön, zur Abwechslung mal nicht zu Evans zu gehen. So. Und jetzt die Schuhe.«

Bei Office fanden sie die perfekten Schuhe: schwarzes Veloursleder, sogar mit zwei Riemchen, und der solide Absatz sah so aus, als könnte selbst Neve damit gehen, wenn sie sich eine gepolsterte Innensohle zulegte. »Das war’s, oder?«, fragte sie eifrig, als sie nach der zweiten Einkaufstüte griff. »Wie wär’s mit einer Kaffeepause?«

»Ich muss noch zu Marks & Spencer; ich brauche Handtücher für die Wohnung in Spanien, dort gibt es keine richtig flauschigen Frotteetücher. Wie kann es sein, dass es in einem Shopping-center mitten in London kein John-Lewis-Kaufhaus gibt?« Mrs Slater schüttelte den Kopf.

»Na gut, also erst noch die Handtücher, und dann gehen wir Kaffee trinken«, sagte Neve entschlossen. »Meine Kollegin Chloe hat erzählt, in der obersten Etage gibt es ein nettes Café.«

»Solange wir uns hinsetzen können … Meine entzündeten Fußballen würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen.« Mrs Slater zurrte den Riemen ihrer Handtasche zurecht. »Also, wo geht’s zu Marks & Spencer?«

Celia lächelte gewinnend. »Können wir noch bei Topshop reinschauen? Die neue Kollektion von Kate Moss ist gerade rausgekommen und …«

»Du bekommst heute nichts«, unterbrach Mrs Slater sie scharf. »Mit Neve war ich seit ihrem Schulabschluss nicht mehr einkaufen, und sie ruft mich auch nie an und jammert mir die Ohren voll, weil sie kein Geld für die Stromrechnung oder für ihre U-Bahn-Monatskarte hat. Ich finde, du hast deinen Vater und mich schon genug ausgenommen.«

»Celia verdient eben nicht viel, Mum.« Neve legte den beiden beschwichtigend jeweils eine Hand auf den Arm, denn sie war nicht scharf auf eine Auseinandersetzung mitten im Einkaufszentrum. »So ist das eben in der Modebranche.«

»Stimmt«, bestätigte Celia, »und London ist die teuerste Stadt der Welt, mal abgesehen von Tokio oder so.«

»Aber du musst weder Miete noch eine Hypothek bezahlen«, erinnerte ihre Mutter sie verärgert. »Genau deshalb habt ihr doch eine Wohnung bekommen. Und wenn du nicht anrufst, dann ist es Douglas, der mich anbettelt. Aber hat Neve das schon jemals getan? Nein. Und weißt du warum?«

»Weil sie immer zu Hause hockt und sich von gedünstetem Fisch und braunem Reis ernährt«, brummte Celia. »Nichts für ungut, Neve.«

»Von wegen! Ich habe gerade versucht, dich zu verteidigen!«

»Neve bettelt uns nicht an, weil sie sich ihr Geld besser einteilt. Sie verdient in dieser Bücherei doch auch nur einen Hungerlohn, und das, obwohl sie ihr Studium in Oxford mit der Bestnote abgeschlossen hat.«

»Hältst du mir jetzt schon wieder vor, dass ich nicht studiert habe? Meine Güte, wie oft muss ich mir das noch anhören?«

»Du hättest deinen Schulabschluss nachholen können, aber du hast es ja vorgezogen, nach New York zu verschwinden, ohne uns Bescheid zu geben …«

Oje. Das konnte dauern. Neve sank auf die nächstbeste Bank und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie hatte eine SMS von Max erhalten. Inzwischen schickte er ihr fast täglich eine.

Muss immerzu an all die unanständigen Dinge denken, die ich mit dir anstellen werde. Wie geht’s Keith? Und dir? Und Lucy? x Max

Ich nehm dich beim Wort, schrieb sie zurück. Das Verfassen einer anzüglichen SMS gehörte nicht zu ihren Stärken. Lucy geht es gut, Keith ebenfalls, soll dich grüßen. Hoffe, die PR-Leute in LA benehmen sich einigermaßen. x Neve

Obwohl sie noch nichts von Jacob Morrison gehört hatte, arbeitete sie weiter fleißig an Lucys Biografie. Im Laufe der vergangenen Woche hatte sie sich angewöhnt, jeden Tag mindestens fünfhundert Wörter zu schreiben, was sie auch Keith verdankte, der das letzte Mal, als Charlotte heraufgekommen war, um Neve anzubrüllen, einen glaubwürdigen Auftritt als Kampfhund hingelegt hatte.

»Mir doch egal, wie das war, als du in meinem Alter warst!«, wetterte Celia. »Damals haben die Leute doch nur geheiratet, damit sie Sex haben konnten!«

Das Schreiduell zwischen Celia und ihrer Mutter war noch in vollem Gange, und die Vorbeikommenden verrenkten sich die Hälse. Neve rutschte ans andere Ende der Bank, damit niemand auf die Idee kam, sie mit den beiden rothaarigen, rotgesichtigen Furien in Verbindung zu bringen.

»Es ist immer noch besser, jung zu heiraten, als sich die Nächte in Discos um die Ohren zu schlagen und mit jedem dahergelaufenen Kerl ins Bett zu gehen. Es würde dir ganz guttun, wenn du zur Abwechslung mal ein bisschen weniger trinken und ein paar Abende zu Hause verbringen würdest! Bei deinem liederlichen Lebenswandel ist es ja kein Wunder, wenn du so aufbrausend bist. Nimm dir doch mal ein Beispiel an Neve! Mit ihr hatten wir nie solche Probleme!«

Neve wünschte, ihre Mutter würde sie aus der Angelegenheit heraushalten, und Celia war offenbar derselben Meinung, denn ihr Gesicht wurde so rot wie noch nie. Sie richtete den Zeigefinger anklagend auf ihre Schwester und kreischte: »Neve hat einen Freund, den sie nur benutzt, um sexuelle Erfahrungen zu sammeln, und verliebt ist sie in einen anderen! Sorry, Mum, aber deine ach so brave Tochter führt ein Lotterleben!«

»Du dämliche Kuh«, knurrte Neve drohend, während ihre Mutter zum zweiten Mal an diesem Tag eine Schweigeminute einlegte.

»Ich hab jetzt die Schnauze voll von diesem Mutter-Tochter-Scheiß«, keifte Celia, aber ihr war anzumerken, dass sie ihren Ausbruch bereits bereute. Sie drehte sich um und marschierte davon, mitten durch ein paar Mädchen im Teenageralter, die erschrocken auseinanderstoben. Neve blieb mit ihrer Mutter zurück, die sie anstarrte, als wäre ihr auf der Stirn plötzlich ein drittes Auge gewachsen.

»Es klingt schlimmer, als es ist«, sagte Neve zaghaft. »Ich hab dir bloß nichts davon erzählt, weil …«

»Handtücher. Marks & Spencer«, sagte ihre Mutter mechanisch, als könnte ihr womöglich der Kopf explodieren, sobald sie etwas über Neves Liebesleben hörte.

Sie begaben sich zu Marks & Spencer, wo Mrs Slater zwei Sets pfirsichfarbene Frotteetücher für das in Herbsttönen gehaltene Gästebad ihrer spanischen Villa besorgte, dann machten sie sich auf den Weg nach Finsbury Park, wobei sie die ganze Zeit über munter vor sich hinschnatterte.

Neve erfuhr alles über den Cholesterinspiegel ihres Vaters (»Er ist viel niedriger, seit er das Kochen übernommen hat, aber wenn du mich fragst, ist eine Soße ohne Butter oder Sahne keine richtige Soße.«), über das stille Leiden ihrer Tante Catherine in New Jersey, die eine Sklavin ihres Reizdarmes war, und über das lückenhafte Wissen ihrer Mutter, was Neves beruflichen Alltag anbelangte.

Sie betraten das Haus, in dem Neve aufgewachsen war und dessen unteres Stockwerk mittlerweile an ein paar Zeugen Jehovas vermietet war (»Ich halte ja nicht viel von Leuten, die gegen Bluttransfusionen sind, aber als Mieter sind sie in Ordnung. Zumindest bezahlen sie pünktlich die Miete.«)

»Habt ihr in eurer Bücherei eigentlich auch DVDs?«, fragte Mrs Slater, die der Ansicht war, dass es Büchereien nur gab, damit sie sich dort Liebesromane ausleihen konnte, für die sie keine 6,99 Pfund ausgeben wollte. »Mal ehrlich, Neve, zu hast doch nicht studiert, um alten Leuten zu zeigen, wo die Großdruckbücher stehen. Du könntest doch unterrichten!«

»Es ist keine Bücherei, sondern ein Literaturarchiv, Mum.« Neve folgte ihr nach oben. Sie hatten diese Unterhaltung schon tausend Mal geführt. »Und ich glaube nicht, dass ich zum Unterrichten geschaffen bin.« Es wäre die Hölle für sie, vor einer Meute eingebildeter Teenager zu stehen, die lieber eine SMS nach der anderen verschickten als sich anzuhören, was Neve zur Literatur der Postmoderne zu sagen hatte.

»Du solltest es dir überlegen«, sagte Mrs Slater und schlüpfte aus den Schuhen. »Vielleicht bekommst du ja einen Job an einer guten Privatschule, an der es keine Kinder mit Kapuzenpullis gibt und …«

»Ich stelle mal Teewasser auf, ja?«, unterbrach Neve sie rasch. Diese Gespräche machten ihr stets schmerzlich bewusst, wie weit die Erwartungen ihrer Mutter von ihrer beruflichen Realität entfernt waren.

Sie setzten sich mit dem Tee ins Wohnzimmer, das früher das Elternschlafzimmer gewesen war und wie das Gästezimmer in Spanien in den Herbsttönen eingerichtet war, die ihre Mutter so liebte: rostroter Teppich, braune Sitzgarnitur und orangefarbene Vorhänge, deren Anblick Neve auf Dauer Augenschmerzen bescherte.

»Willst du wirklich keine Kekse?«, fragte Mrs Slater zum wiederholten Male. »Einer kann doch nicht schaden. Gönn dir mal was.«

Es gab ihre Lieblingskekse, die in Schokolade getunkten aus Vollkornmehl, von denen sie früher eine ganze Packung auf einmal gefuttert hatte. Doch Neve schüttelte den Kopf und knabberte weiter an dem Proteinriegel, den sie ganz unten in ihrer Handtasche entdeckt hatte.

Mrs Slater ließ verzweifelt den Blick schweifen, und Neve wusste, dass sie sich das Hirn nach einem Gesprächsthema zermarterte, um nicht über ihre sexuellen Eskapaden reden zu müssen. Nicht, dass sie selbst so scharf darauf gewesen wäre. Vielen Dank auch, Celia.

»Hab ich dir schon erzählt, dass Auntie Catherine schreckliche Probleme mit ihrem Darm …«

»Komm schon, Mum, bringen wir’s hinter uns«, unterbrach Neve sie ruhig, obwohl sie alles andere als ruhig war. »Ich bin mit jemandem zusammen, der sehr nett ist, aber es ist nichts Ernstes, und deshalb habe ich es euch verschwiegen.«

»Warum ist es nichts Ernstes?«, wollte ihre Mutter wissen. Auf ihren Wangen erschienen zwei kleine rote Flecken. »Du bist ein wunderschönes Mädchen. Er sollte bis über beide Ohren in dich verliebt sein.«

Neve hatte keine Ahnung, wer diese tolle, superintelligente junge Frau war, von der ihre Mutter sprach, aber sie wäre gern ein bisschen mehr wie sie gewesen. »Es ist nichts Ernstes, weil er mich nicht liebt und ich ihn auch nicht. Ich liebe einen anderen Mann … William«, sagte sie tollkühn, weil es sich so anfühlte, als würde sie das Schicksal herausfordern, wenn sie auch nur seinen Namen aussprach. Allerdings fiel ihr bei dieser Gelegenheit auf, dass sie heute kaum an William gedacht hatte, was ihr seltsam vorkam. Und falsch. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihr erster Gedanke morgens beim Aufstehen stets ihm gegolten, und meist hatte sie sich noch vor dem Zähneputzen nach unten geschlichen, um nachzusehen, ob ein Brief von ihm gekommen war.

Aber ihre Mutter schien noch weniger als sie an William gedacht zu haben. »Welcher William? Ist er einer deiner Freunde aus der Bücherei?«

»Es ist ein Archiv … William! William aus Oxford, der mich einmal hierhergefahren hat, als ich meinen Aufsatz vergessen hatte. Er ist damals zum Abendessen geblieben.« Mrs Slater konnte sich offenbar nicht erinnern. »Und als ich im dritten Semester war, kam er nach Weihnachten vorbei, und du hast ihm ein Truthahnsandwich gemacht. Und bei meiner Uniabschlussfeier hat er dir einen Brandy gebracht, nachdem du erwähnt hattest, dass du nervös bist, weil keine der anderen Mütter einen Hut aufhatte.«

»Ach, der William.«

Neve stellte ihre Tasse ab. »Was soll denn dieser Tonfall? Er war immer sehr zuvorkommend zu dir.«

»Ja, das schon, zugegeben. Er hatte gute Manieren, aber …« Ihre Mutter zögerte, was sehr untypisch für sie war. »Findest du nicht, dass er … nun ja … in einer etwas anderen Liga spielt?«

»Was soll denn das jetzt heißen? Eben hast du noch behauptet, ich wäre wunderschön! Ich weiß, dass William sehr attraktiv ist, aber das, was uns verbindet, geht viel tiefer. Es spielt sich nicht auf der ästhetischen Ebene ab.«

»Komm mir nicht mit solchen hochgestochenen Ausdrücken, ja?« Ihre Mutter sah aus, als würde sie es zum ersten Mal in ihrem Leben bereuen, dass sie immer so frei von der Leber weg redete. »Du bist ein sehr hübsches Mädchen, Neve, aber Männer wie William suchen sich keine Frauen wie dich, und das hat nichts mit dem Aussehen zu tun, sondern mit der Herkunft.«

»Ich komme aus Finsbury Park, William aus Fulham. Na und? Das hat doch nichts zu sagen.«

»Er gehört der feinen Gesellschaft an und du nicht. Ich weiß, du drückst dich sehr gewählt aus, und ich habe keine Ahnung, wie das kommt, wo du doch auf dieser schrecklichen Schule warst und dein Vater spricht, als wäre er in einem Kohlebergwerk aufgewachsen. Egal, du gehörst zur Arbeiterklasse, und dieser William … Was machen seine Eltern denn beruflich?«

Neve hätte nur zu gern darauf hingewiesen, dass man als Besitzer von zwei Reihenhäusern in London, einem Landhaus in Yorkshire und einer Villa in Spanien unbestreitbar der gehobenen Mittelschicht angehörte, ob es einem gefiel oder nicht, aber sie wusste, ihre Mutter würde ihr nur wieder mit dem Bergarbeiterstreik und der Großen Hungersnot in Irland kommen, und damit, dass man sich für seine Wurzeln nicht zu schämen brauchte.

»Sein Vater ist Jurist«, gab sie zu, behielt jedoch für sich, dass er den Titel Kronanwalt trug. »Und seine Mutter ist Ärztin.«

»Siehst du? Ich wette, er war auf einer teuren Privatschule, und nach dem Abendessen gibt es bei ihnen kein Dessert, sondern eine Käseplatte.« Ihre Mutter lächelte grimmig. »Es würde niemals funktionieren.«

»Nun, bei mir gibt es auch kein Dessert, deshalb bin ich sicher, dass es mit Will und mir ganz prima laufen wird.«

»Wenn du dir da so sicher bist, warum lässt du dich dann mit diesem anderen ein? Wie heißt er überhaupt?«

Zum ungefähr hundertsten Mal versuchte Neve, ihr Arrangement mit Max zu erklären, obwohl ihrer Mutter eigentlich sonnenklar sein musste, dass sie null Beziehungserfahrung hatte. »Ich will einfach, dass es mit William dann perfekt läuft. Mit Max bereite ich mich darauf vor, wie auf eine große Prüfung.«

»Du … Also … Was …? Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank? So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört. Auf eine Beziehung kann man sich nicht vorbereiten, und es gibt auch keine perfekten Beziehungen. So etwas ist immer harte Arbeit«, sagte Mrs Slater. »Im ersten Ehejahr haben dein Dad und ich uns ständig gestritten. Einmal habe ich sogar die Butterdose nach ihm geworfen.« Bei der Erwähnung ihres Vaters wurde Neve flau im Magen. Dieses Thema stand als Nächstes auf ihrer Tagesordnung. »Ich weiß, dass eine Beziehung harte Arbeit ist, aber die meisten Mädchen in meinem Alter haben bereits viel mehr Erfahrung und wissen, wie man es richtig macht.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich überhaupt für so etwas interessierst. Ich hatte angenommen, du kommst nach Großtante Sinead.«

»Das kann man doch nicht vergleichen! Sie ist Nonne, ich war fettleibig«, entgegnete Neve empört. »Und sie mag ja ganz nett sein, aber ich bin total anders als sie!« Ehrlich gesagt fand sie Großtante Sinead ziemlich unsympathisch und gemein, und Celia meinte oft, sie wäre wahrscheinlich netter, wenn sie hin und wieder einen Quickie und ein paar Gläser Jack Daniel’s bekäme.

»Ich hoffe nur, du passt auf dich auf … Du weißt schon … beim …«

»Darüber musst du dir wirklich nicht den Kopf zerbrechen, Mum«, versicherte ihr Neve hastig.

»Ich weiß, ihr Kinder haltet mich für altmodisch, aber du solltest das Wertvollste, das du einem Mann – idealerweise deinem Ehemann – schenken kannst, nicht einfach verschleudern, nur weil dich dieser Max – oder meinetwegen auch William – unter Druck setzt. Wenn es nämlich erst einmal passiert ist, gibt es kein Zurück mehr.«

Noch vor einem Jahr, als sich Neve niemals hätte träumen lassen, dass sie je in ein Kleidungsstück Größe 48 passen würde, hätte sie ihrer Mutter recht gegeben. Doch nun, da sowohl die mystische 38 als auch eine Beziehung allmählich in greifbare Nähe rückten, stellte sie fest, dass ihr wertvolles Geschenk eher eines der Hindernisse war, die es zu überwinden galt. Außerdem hätten die meisten Männer, die sie kannte, einen iPad oder einen Plasmafernseher dem wertvollen Geschenk ihrer Jungfräulichkeit eindeutig vorgezogen. »Ich weiß, Mum.« Sie musste das Thema wechseln, aber wie?

»Dann tu mit diesem Max nichts, das du später vielleicht bereuen könntest«, beharrte ihre Mutter.

»Es geht überhaupt nicht um Max«, erklärte Neve, denn Max war für sie nun einmal bloß Mittel zum Zweck. Und das Ziel, das sie damit erreichen wollte, hieß William. »Es geht um William. Ich … Nun, ich liebe ihn, und es kommt mir so vor, als würde ein Teil von mir fehlen, seit er weg ist. Aber sobald er zurückkommt, wird alles anders. Besser.«

»Dasselbe hast du über das Abnehmen gesagt«, erinnerte ihre Mutter sie scharf, begleitet von einem gestrengen Blick. »Und, ist nicht schon vieles besser geworden?«

»Natürlich, aber wenn ich erst einmal Größe 38 tragen kann und mit William zusammen bin, dann wird alles perfekt sein.« Neve hatte prompt ein Bild von einem Picknick auf einer grünen Wiese vor Augen – William trug ein weißes Hemd und lag auf einer Decke, und eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn, während er mit leiser, samtener Stimme zu ihr sprach. Sie selbst war auch irgendwo dort, aber es war ihr immer noch unmöglich, sich selbst in einem Sommerkleid Größe 38 zu sehen, also konzentrierte sie sich auf William und sagte lächelnd: »William ist mein Seelenverwandter.«

»Also ehrlich, Neve, du klingst wie ein verliebter Teenager. Ich hätte dir früher hin und wieder dein Buch wegnehmen und dich an die frische Luft schicken sollen.« Es klang nicht wie ein Scherz und sollte offenbar auch keiner sein. »Ich hoffe nur, du weißt, was du tust.«

»Ja, das weiß ich.« Stimmte ja auch, solange sie keinen Außenstehenden Erkärungen liefern musste. »Also, eigentlich wollte ich mit dir über über etwas ganz anderes reden, nämlich über Dad.« Es wollte schon etwas heißen, wenn sie erleichtert darüber war, zur Abwechslung über ihre nicht-existente Beziehung zu ihrem Vater zu reden.

»Und worüber genau?«, wollte ihre Mutter wissen.

»Nun, Celia und Douglas sind der Ansicht, dass ich Dad aus dem Weg gehe, weil ich sauer auf ihn bin. Wegen dem, was er damals gesagt hat … Du weißt schon.« Neve konnte den Satz nicht vollenden, aber ihre Mutter nickte und wirkte auch nicht sonderlich überrascht darüber, dass das Thema nun zur Sprache kam.

»Bist du denn sauer auf ihn?« Es hatte zuweilen auch sein Gutes, dass sich Margaret Slater nicht mit Nettigkeiten aufhielt, sondern gleich zur Sache kam.

»Ich glaube, am Anfang war ich sauer«, antwortete Neve bedächtig. »Ich dachte, er würde mich hassen. Verabscheuen.« Sie schluckte schwer und spürte, dass sie den Tränen nah war.

»Dein Vater liebt dich über alles. Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben«, stellte ihre Mutter energisch fest. »Ganz unter uns gesagt bist du sein Lieblingskind, und er macht sich heute noch schreckliche Vorwürfe wegen dem, was er damals zu dir gesagt hat. Er würde es zu gern ungeschehen machen.«

»Aber er hat es nun einmal gesagt, und danach hat er es nie wieder erwähnt. Er hat sich auch nie dafür entschuldigt«, sagte Neve mit erstickter Stimme. »Wenn er es nämlich getan hätte …« Sie brach ab.

»Ts, ts. Komm her, du Dummerchen.« Mrs Slater tätschelte neben sich auf das Sofa, und Neve erhob sich, obwohl sie mit fünfundzwanzig schon viel zu alt war, um sich an ihre Mutter zu kuscheln und den Kopf an ihre äußerst knochige Schulter zu lehnen. »Du weißt doch, was für ein alter Sturschädel dein Dad ist, schließlich bist du genauso stur wie er. Er hält schon an guten Tagen nichts von Gefühlsduseleien, von Entschuldigungen ganz zu schweigen. Er setzt auf Taten statt Worte.«

»Deshalb mailt er mir ständig und fragt, ob in meiner Wohnung etwas repariert werden muss?«, schniefte Neve und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.

»Erinnerst du dich an den fürchterlichen Streit, den wir mal auf dem Rückweg aus Brent Cross hatten? Ich hatte ihm gesagt, dass er falsch abgebogen war, aber er wollte mir nicht glauben, und dann standen wir eine Ewigkeit in Neasden im Stau, und er war viel zu beschäftigt damit, mich anzubrüllen, um auf den Verkehr zu achten …«

»Und dann ist er auf das Zivilauto eines Polizisten aufgefahren, ich weiß. Was hat das damit zu tun?«

»Er hat sich nie bei mir entschuldigt, aber ein paar Monate später habe ich die neue Küche bekommen, um die ich jahrelang gebettelt hatte«, sagte ihre Mutter zärtlich.

»Schon möglich, dass es ihm leidtut, aber gesagt hat er es trotzdem. ›Ich kann deinen Anblick kaum mehr ertragen.‹« Diesmal brach es förmlich aus ihr heraus; von der Emotionslosigkeit, mit der sie es neulich Max erzählt hatte, keine Spur. Ihre Mutter streichelte ihr übers Haar und gab beruhigende Laute von sich, bis sich Neve wieder gefangen hatte und sich mühsam aufrichtete.

»Na, besser?«, fragte ihre Mutter und rieb ihr den Rücken. »Er war betrunken und sauer auf Celia und Douglas, aber nicht auf dich, Neve. Und er hätte nie so mit dir sprechen dürfen, aber er war schrecklich in Sorge um dich. Das waren wir beide. Wir hätten dringend ein ernstes Wort mit dir reden müssen, damit du mal ein paar Pfund abnimmst. Beim Treppensteigen hast du geklungen wie eine Dampflok.«

»Das ist es ja, Ma. Er musste es sagen, und ich musste es hören, um endlich zu begreifen, dass ich abnehmen muss, und zwar nicht bloß ein paar Pfund. Aber es hat trotzdem furchtbar wehgetan.«

»Du hast deine Großmutter väterlicherseits nie kennengelernt, weil sie lange vor deiner Geburt starb. Wie dem auch sei, sie war ziemlich dick.« Ihre Mutter biss sich auf die Unterlippe, sprach aber weiter. »Dein Dad redet nicht gern darüber, aber ich finde, du solltest es wissen. Sie hatte Herzprobleme, und dann hat sie sich mit Diabetes infiziert …«

»Mit Diabetes infiziert man sich nicht, Mum«, sagte Neve. Sie konnte einfach nicht anders, wenn jemand ein Verb falsch verwendete.

»Also, sie bekam Diabetes, aber sie wollte ihre Ernährung partout nicht umstellen, und dann wurde sie auf einem Auge blind und hatte riesige Probleme mit den Zähnen und den Füßen … Man musste ihr zwei Zehen amputieren, und als sie starb, war sie gerade mal einundfünfzig und hinterließ drei minderjährige Kinder, die danach auf sich selbst gestellt waren. Das ist kein Alter um zu sterben, Neve. Und deine Tante Susan ist auf dem besten Weg, ihrem Beispiel zu folgen. So ist das eben in der Familie deines Vaters. Sie neigen zu Fettleibigkeit.«

Gustav hatte Neve vor der Ausarbeitung ihres Trainingsprogramms zum Arzt geschickt, damit sie ihre Blutwerte testen ließ, und zu ihrem Entsetzen war ihr Blutzuckerspiegel deutlich erhöht gewesen. Inzwischen lag der Wert konstant bei akzeptablen 90 Milligramm pro Deziliter. Ja, Typ-2-Diabetes war ihr bereits zu der Zeit, als sie noch 160 Kilo gewogen hatte, ein Begriff gewesen, aber das Wissen allein hatte sie nie davon abgehalten, sich noch einen Schokoriegel einzuverleiben.

»Inzwischen bin ich geradezu unfassbar fit, Mum«, versicherte Neve ihrer Mutter. »Ich bin zwar noch immer zu schwer, aber gesund; mein Körper ist gut in Schuss. Ich schnaufe nicht mehr wie eine Dampflok, es sei denn, Gustav zwingt mich zu einer Intensiv-Trainingseinheit ohne Pause.«

»Ich weiß ja nicht, wie so eine Intensiv-Trainingseinheit aussieht, aber dein Vater und ich sind sehr stolz auf dich. Er sagt oft, dass du genauso aussiehst wie seine Mutter, als sie jünger war. Letztes Jahr zu Weihnachten hat er gedacht, er sieht ein Gespenst, als du zur Tür hereinspaziert bist.« Sie tätschelte Neves Arm. »Es würde ihm unendlich viel bedeuten, wenn du ihn wieder etwas mehr an deinem Leben teilhaben lässt. Was ist denn schon dabei, wenn er dir mal einen tropfenden Wasserhahn repariert?«

»Ich überleg’s mir.« Neve legte den Kopf noch einmal an ihrer Schulter ab. »Danke, dass du mir von Grandma Slater erzählt hast. Zumindest verstehe ich jetzt, warum Dad das damals gesagt hat.«

»Dein Vater findet ja, ich rede zu viel, aber es ist auch nicht einfach, mit einem Mann verheiratet zu sein, der stundenlang nichts weiter sagt als ›Soll ich Teewasser aufstellen, Schatz?‹«

»Aber du würdest ihn nicht anders haben wollen, stimmt’s?«, fragte Neve.

Ihre Mutter verzog das Gesicht und ließ sich für Neves Geschmack etwas zu lange mit der Antwort Zeit. »Tja, ich hätte nichts dagegen, wenn er Pierce Brosnan ein bisschen ähnlicher sähe, aber ich mag ihn auch so«, schnaubte sie und brach dann in hyänenartiges Gelächter aus.