Kapitel 30
Jemand hatte Neves Welt in zwei Hälften geteilt. In der einen lebte Max, und dort war sie überwiegend nackt, was aber kein Problem darstellte, da Max es ebenfalls war.
In der anderen Hälfte stolperte sie chronisch übermüdet durch den Tag und blinzelte in den hellen Sonnenschein, an den sie sich nach dem kalten, grauen Frühling einfach nicht gewöhnen konnte. In dieser Hälfte kam sie sich vor wie eine Schlafwandlerin, und nur der Schmerz zwischen ihren Beinen und ihre wunden Lippen erschienen ihr real.
Wenn sie nicht mit Max zusammen war und nicht an ihn dachte, war sie froh, dass sie sich mit dem Sex so lange Zeit gelassen hatte. Nicht nur, weil sie sich damit das ungeschickte Gefummel erspart hatte, das andere Mädchen im Teenageralter über sich hatten ergehen lassen, ehe es richtig gut wurde, sondern weil sie niemals erwartet hätte, dass sie derart unersättlich sein würde.
Dabei hätte sie es eigentlich wissen müssen. Sie hatte lange zu den Menschen gehört, die nicht in der Lage waren, einfach nur einen Schokoladenkeks zu essen, wenn noch 29 weitere in der Schachtel waren. Kaum hatte sie sich die Fressorgien abgewöhnt, hatten die Angestellten in ihrem Fitnessstudio ein ernstes Wort mit ihr reden müssen, weil sie sich beim Trainieren regelmäßig in einen derartigen Endorphinrausch versetzt hatte, dass sie Gefahr lief, süchtig nach Sport zu werden.
Es war also ganz gut, dass sie so ein Spätzünder war. Hätte sie bereits mit sechzehn angefangen – und wäre der Sex schon damals so gut gewesen –, dann hätte sie nie die Schule beendet, von ihrem Studium ganz zu schweigen. Die vielen Prüfungen hätten doch nur ihrem Verlangen nach Orgasmen im Weg gestanden.
Sie erschien dieser Tage nur deshalb in der Arbeit, weil Max morgens aufstehen musste, und dann saß sie mit abwesender Miene im Büro und träumte vor sich hin, sehr zum Missfallen von Rose und Mr Freemont, die zum allerersten Mal einer Meinung waren. Und Max verließ das Bett auch nur, weil ihn sein Agent, seine Chefin bei Skirt und seine Verlagslektorin regelmäßig telefonisch zur Schnecke machten, nachdem er zum wiederholten Male seine Abgabetermine verschlafen hatte.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, warum wir es treiben wie die Karnickel«, sagte er eines Morgens zu Neve, als sie beschlossen hatten, dass noch Zeit für einen Quickie war, obwohl Neve bereits vor einer Stunde im Archiv aufschlagen hätte sollen. »Wir haben zwei Monate lang keinen Sex gehabt, und selbst wenn wir es nur einmal täglich getan hätten, dann sind uns damit mindestens sechzig Orgasmen durch die Lappen gegangen. Wir haben einen riesigen Nachholbedarf, und wir haben nicht genügend Zeit.«
Neve schaffte es immerhin zu ihren drei wöchentlichen Trainingseinheiten mit Gustav, weil er anderenfalls schonungslos Jagd auf sie gemacht hätte, aber von ihrer üblichen Ausdauer war nicht mehr viel übrig. »Das liegt an diesem Knaben«, schnarrte Gustav finster, als Neve nach fünf erleichterten Liegestützen kraftlos auf den Boden sank. »Ich wusste, dass das passieren würde.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte Neve keinen Hunger, deshalb war es nicht sonderlich tragisch, wenn sie es mit dem Training nicht mehr so genau nahm. Sie schaffte es mit knapper Not, zu Mittag etwas zu essen, aber um zu frühstücken hätte sie eine halbe Stunde eher aufstehen müssen, und das Abendessen fiel ein ums andere Mal aus, weil sie entweder nach der Arbeit zu Max fuhr, oder er zu ihr kam, und dann fanden sie gerade mal genügend Zeit für ein »Wie war dein Tag?«, ehe sie mit dem Knutschen begannen, und Knutschen reichte ja mittlerweile nicht mehr …
Gegen elf kämpften sie sich kurz aus dem Bett, um mit Keith eine Runde zu drehen und im nächstgelegenen 24-Stunden-Laden eine Packung Toastbrot und einen wie auch immer gearteten Belag zu erstehen. Neve lebte von Sex, schwarzem Kaffee, Nudeln auf Toast, Käse auf Toast und Erdnussbutter auf Toast – egal was, solange es sich auf zwei Scheiben leicht gebräuntes Brot legen, streichen oder häufen ließ.
Vier Wochen führten sie praktisch ein Dasein wie siamesische Zwillinge, die an der Hüfte (oder anderen angenehmen Körperstellen) zusammengewachsen waren, dann mussten sie das Undenkbare tun – sie mussten eine Nacht getrennt schlafen. Max musste zu einem Termin mit einem PR-Manager und anschließend zu einem Galadiner samt Preisverleihung. Neve nützte die Zeit, um ihre Wäsche zu waschen und mal wieder einen Abend mit Celia zu verbringen, auch wenn das bedeutete, sich einem Verhör zu unterziehen, gegen das sich die spanische Inquisition wie ein angenehmer Zeitvertreib ausnahm.
»Was ist denn mit dir los?«, platzte Celia heraus, sobald Neve die Tür geöffnet hatte. »Ich habe dich seit Wochen nicht mehr gesehen, und ich habe gehört, wie Charlotte dich angebrüllt hat, weil dein Bett so einen Krach macht, und du hast drei, nein, vier Knutschflecken, einen davon über dem Knie, wie kommt der da hin? Und seit wann läufst du zu Hause in Slip und Unterhemdchen rum?«
Neve wusste, sie hätte der Fragelawine Einhalt gebieten sollen, aber wann immer sie den Mund öffnete, kam nur ein Gähnen heraus. Also ging sie ins Bad, um ihre Seidennachthemden vorsichtig im Waschbecken zu waschen, während Celia mit einer Packung Krabbenchips auf dem Badewannenrand hockte und ihr darlegte, wie albern sie sich benahm.
»Ich weiß genau, was los ist«, zeterte Celia. »Du treibst es mit Max! Ich dachte ja, ihr würdet es schon länger tun, was ein Irrtum war, zugegeben, aber jetzt weiß ich es sicher.«
»Solltest du nicht mal kurz Luft holen, Celia?«, fragte Neve, während sie ihr dunkelblaues Nachthemd über den Kleiderständer in der Badewanne drapierte.
»Luft holen wird total überbewertet«, winkte Celia ab. »Und lenk nicht vom Thema ab. Hier geht es nicht nur darum, dass ihr es treibt wie die Karnickel. Max flirtet nicht einmal mehr mit den Mädchen aus der Beautyredaktion, wenn er ins Büro kommt, und du hast dieses selige Grinsen im Gesicht, sobald sein Name fällt. Ihr seid bis über beide Ohren ineinander verknallt. Ist das wirklich noch eine Pfannkuchenbeziehung, oder ist es jetzt doch etwas Ernstes? Und wirst du Willy McWordy sagen, dass er Geschichte ist? Wo soll das hinführen?«
Das war eine gute Frage, aber eine, die Neve nicht beantworten konnte, denn sie redete mit Max nicht darüber, wo das hinführen sollte. Sie redeten oft darüber, wie viele Tage ihnen noch blieben und wie viel Zeit sie davon in der Horizontalen verbringen konnten. Sie murmelten einander allerlei Dinge zu, aber sie redeten nicht darüber, was sie hier taten oder welche Konsequenzen es hatte und ob sie es nicht besser bleiben lassen sollten. Und das fand Neve ganz gut so, denn sie hatte ihr Leben lang große Reden geschwungen und Hypothesen aufgestellt, und es hatte sie noch nie besonders weit gebracht.
Also drehte sie sich einfach zu Celia um und zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, wo das hinführen soll. Ich meine, wen interessiert’s?«
Den Blick, den ihr diese Worte eintrugen, würde sie ihr Lebtag nicht mehr vergessen. So geschockt hatte Celia nicht einmal an dem Tag ausgesehen, als sie erfahren hatte, dass sich Charlotte dieselbe Chloe-Tasche gekauft hatte, auf die sie monatelang gespart hatte. Sie verschluckte sich an einem Krabbenchip, und als sie wieder sprechen konnte, keuchte sie: »Oh mein Gott, Neve! Du hast dich in mich verwandelt!«
Neve hätte sie um ein Haar darauf aufmerksam gemacht, dass sie dazu siebzehneinhalb Zentimeter wachsen und achtzehn Kilo hätte abnehmen müssen. Doch dann dachte sie daran, wie Max darauf reagieren würde. Sie hörte förmlich das laute Klatschen seiner Hand auf ihrem nackten Po und schauderte wohlig. »Bedeutet das etwa, dass du dich dann in mich verwandelst?«, fragte sie mit einem schelmischen Grinsen. »Hast du in letzter Zeit irgendwelche guten Bücher gelesen? Und nein, die neueste Ausgabe der Vogue zählt nicht.«
»Grins nicht so dämlich, und hör auf, Witze über die Vogue zu reißen. Du jagst mir ja Angst ein«, jammerte Celia. Aber sie schien auch Gefallen an ihrer neuen, entspannten Schwester zu finden, wenngleich es ihr nicht in den Kram passte, dass diese neue, entspannte Neve keinen vollen Kühlschrank hatte und keine Details über ihr Liebesleben ausplauderte.
»Ist er größer als deine Brotdose?«, wollte sie wissen, nach dem sie Neve stundenlang mit Fragen bombardiert hatte. »Okay, so groß ist er wohl kaum, aber ist er größer als ein King-Size-Snickers?«
»Ich weiß nicht mehr, wie groß ein King-Size-Snickers ist«, erwiderte Neve. Dann hörte sie, wie ihre Wohnungstür aufgesperrt wurde.
»Scha-hatz, bin wieder da«, ertönte Max’ Stimme. »Ich bin nach den Dankesreden gegangen.«
»Er hat sogar einen Wohnungsschlüssel«, stieß Celia hervor, während Neve aufsprang und in den Flur eilte.
»Du hast dich gar nicht angezogen? Gut, so sparen wir uns wertvolle Minuten.« Er selbst trug Jeans und ein T-Shirt von The Clash; sein Sakko legte er gleich ab.
Neve kam nicht mehr dazu, ihm zu sagen, dass ihre neugierige kleine Schwester zu Besuch war, denn er packte sie und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie völlig vergaß, dass sie überhaupt eine kleine Schwester hatte.
»Hey, ihr zwei, nehmt euch ein Zimmer«, brummte es irgendwann hinter ihnen. »Die Treppe rauf, zweite Tür links. Ich gehe, ehe ich für den Rest meines Lebens traumatisiert bin.«
Neve lächelte Celia abwesend an, in Max’ Arme geschmiegt, während er etwas murmelte, das sowohl »Hallo« als auch »Tschüss« heißen hätte können – oder auch »Pass auf, dass dir beim Rausgehen nicht die Tür auf den Hintern knallt«.
Neve hatte leichte Gewissensbisse, weil sie ihre Schwester aus ihrem zweiten Zuhause vertrieben hatte, aber die verflüchtigten sich bald wieder. Celia konnte sie den Rest ihres Lebens tagtäglich sehen, aber die Zeit mit Max, vor allem die Zeit, die sie nackt verbringen konnten, war begrenzt.
Aus Mai wurde Juni, und Neve hatte das Gefühl, als würde ihr die Zeit durch die Finger rinnen. Ihnen blieb jetzt nur noch etwas mehr als ein Monat. Nur noch ein paar Wochen, falls William tatsächlich zum angegebenen Zeitpunkt zurückkam. Doch William war zu einer sehr verschwommenen Figur geworden, auf die sich Neve nicht konzentrieren konnte. Sie konnte nur noch an Max denken. William hatte ihr zwei Briefe und zahlreiche Mails geschickt, und sie hatte sie zwar alle sofort gelesen, aber eher aus Gewohnheit und nicht unbedingt, weil sie dieses Kribbeln spüren wollte, das sich bei der Lektüre seiner Briefe und Mails für gewöhnlich einstellte. Sie schrieb ihm mit sehr schlechtem Gewissen eine kurze Mail: Habe furchtbar viel im Archiv zu tun. Melde mich ausführlicher, wenn ich wieder mehr Zeit habe.
Manche Themen hatte sie bei ihrer Korrespondenz mit William ausgeklammert, etwa ihr neues Körpergewicht oder ihre Abenteuer in puncto Dating, aber sie hatte ihn noch nie angelogen. Doch es musste sein, auch wenn sie nicht stolz darauf war. William war ihre goldene Zukunft, und Max war das Hier und Jetzt.
Dann wurde Max spontan nach LA geschickt, um ein Cover-Shooting für Skirt zu retten, das ein Riesenfiasko zu werden drohte. Die Starstylistin, der Starfotograf und der Star selbst hatten sich total in die Haare gekriegt, weshalb dessen PR-Managerin jede Nacht gegen drei Uhr früh anrief, um Max anzubrüllen. Er musste binnen 24 Stunden aufbrechen, und es fühlte sich an wie ein Weltuntergang, auch wenn Neve für den Rest der Woche auf Keith aufpassen durfte.
Max musste sie nicht lange überreden, am Montag etwas früher Feierabend zu machen und ihn zum Flughafen zu begleiten, damit sie vor der Passkontrolle eng umschlungen Abschied nehmen konnten, als würde er in den Krieg ziehen.
»Am Wochenende bin ich zurück«, sagte Max, nachdem seine Gate-Nummer aufgerufen worden war, was bedeutete, dass sie ihre Knutscherei beenden mussten.
Neve machte ein langes Gesicht. Der Samstag schien Lichtjahre entfernt. »Versprochen?«
»Versprochen. Und wenn ich das Fotoshooting mit meiner Handykamera erledigen muss.« Er legte ihr eine Hand auf die Wange. »Du hast doch selbst gesagt, dass du diese Woche jede Menge zu erledigen hast.«
»Ja, lauter Sachen, die ich vor mir hergeschoben habe, weil ich keine Lust darauf habe.« Neve nestelte am Kragen seines schwarzen Hemds herum. »Es fühlt sich seltsam an, dich zu küssen, wenn …«
»Wenn wir angezogen sind?«
»Das auch, aber eigentlich wollte ich sagen, wenn so viele Leute um uns herum sind.« Neve wusste, sie sollte endlich aufhören, an Max herumzufummeln, aber sie konnte nicht anders. Sie fuhr ihm ein letztes Mal durch die Haare. Die nächsten fünf Tage würden die Hölle werden. »Was hältst du eigentlich von Telefonsex?«
»Ich bin sehr dafür«, sagte er nachdrücklich. »Und auch für E-Mail-Sex und SMS-Sex. Zu schade, dass dein Laptop im Gegensatz zu meinem keine Webcam hat.«
Neve spähte auf die Anzeigetafel mit den Abflügen. »Dein Flug geht in einer halben Stunde. Du musst los.«
Max zog sie an sich, um sie noch einmal zu küssen, und Neve war gerade zu dem Schluss gekommen, dass es auf weitere fünf Minuten wohl auch nicht ankam, da schob er sie wieder von sich. »Du gehst zuerst.«
»Nein, du zuerst.«
»Ich kann nicht gehen, wenn du mit deinem einladenden Kussmund hier rumstehst.«
»Wenn du zuerst gehst, kann ich dir wenigstens noch zwei Minuten nachschauen, ehe du aus meinem Blickfeld verschwindest.«
»Pff! Du willst dich doch bloß an meinem Hintern aufgeilen.« Er rümpfte die Nase, dann musterte er sie sanft. »Im Ernst, geh du zuerst.«
»Nein, du.« Neve hatte keine Ahnung, wann sie sich in eines dieser albernen, gefühlsduseligen Mädchen verwandelt hatte, die ihr früher über alle Maßen auf die Nerven gegangen waren, wenn sie im Bus mit ihrem Freund telefonierten und »Nein, leg du zuerst auf« säuselten.
Wenigstens kicherte sie nicht.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie entschieden. »Ich habe eine ellenlange To-do-Liste abzuarbeiten, und das geht am besten, wenn du nicht in meiner Wohnung herumhängst und mich ablenkst.«
Max presste sich eine Hand aufs Herz, als hätten ihn ihre Worte tödlich verwundet. Dann wurde erneut sein Flug aufgerufen. »Ich muss jetzt wirklich los«, sagte er ernst. »Wenn ich diesen Flug verpasse, kann ich mir einen neuen Job suchen.«
Neve zog einen allerletzten Kuss in Erwägung. Nein. Sie musste sich umdrehen und gehen, ohne sich noch einmal umzusehen, sonst würde sie es nie schaffen.
Es war die reinste Qual, wieder ihr langweiliges altes Tagesprogramm abzuspulen. Acht Stunden Schlaf jede Nacht, morgens zwei Stunden Sport, drei ordentliche Mahlzeiten plus zwei kalorien- und kohlehydratarme Snacks pro Tag. Morgens kam sie pünktlich zur Arbeit, abends saß sie mit dem Laptop auf den Knien und den Kopfhörern über den Ohren in der Badewanne – sobald Charlotte spitzgekriegt hatte, dass Neve keinen Herrenbesuch mehr hatte, verwendete sie den Besenstiel mit besonderer Hingabe.
Außerdem musste sie sich nun endlich einmal um die ausstehende Korrespondenz kümmern. Jacob Morrison hatte ihr eine Mail geschickt und sie zu sich bestellt, vermutlich, um ihr schonend beizubringen, dass er nicht interessiert war, denn er hatte die sechseinhalb Kapitel, die sie ihm geschickt hatte, mit keinem Wort erwähnt. Oder er wollte, dass sie ihm sämtliche Dokumente übergab, damit sich ein richtiger Schreiberling ihrer Biografie annehmen konnte. Oder aber er hatte Lucys Kurzgeschichten und Gedichte gelesen und für so schlecht befunden, dass er das Projekt abblasen wollte. Außerdem hatte Neve eine Mail von ihrem Vater erhalten, der gegen Ende der Woche nach London kam und zwei Tickets für den neuesten Film mit Jennifer Aniston reservieren wollte.
Neve beschloss, beide Termine quasi in einem Aufwasch zu erledigen, dann hatte sie diesen Gefühlstsunami innerhalb von sechs Stunden hinter sich, statt dass er sich über die ganze Woche erstreckte. Sie beschloss, beide am Donnerstag zu treffen; auf diese Weise hatte sie danach noch bis Freitagmittag Zeit, um ihre schlechte Laune auszuleben und konnte sich dann gebührend auf Max’ Rückkehr freuen.
Am Donnerstagmorgen (ihrem D-Day, wie sie ihn nannte, wobei D für deprimierend und diffizil stand) holte sie dann auch die beiden Briefe aus der Schublade, die ihr William kürzlich geschickt hatte. Sie hatte sie nur einmal kurz überflogen und konnte sich gar nicht mehr genau an den Inhalt erinnern, obwohl sie sich sonst jede einzelne Silbe einprägte. Nun strich sie das zerknitterte dünne Papier glatt, um die Briefe noch einmal mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu lesen.
Die Überzeugung, dass sie eines Tages ein Paar sein würden, hatte sie in den vergangenen drei Jahren konstant begleitet, und Neve stellte erleichtert fest, dass sie noch immer an dieser tröstlichen Vorstellung festhielt. Das mit Max war toll, aber es hatte ein Ablaufdatum; und die Gefühle, die sie für William empfand, gingen weit über eine rein sexuelle Anziehungskraft hinaus.
Er hielt ihre Seele in seinen Händen.
Liebste Neve,
in Kalifornien scheint stets die Sonne, und du glaubst gar nicht, wie langweilig und monoton ewiger Sonnenschein sein kann.
Ich sehne mich nach einem Spaziergang im Regen, nach grauen, feuchten Tagen mit Tee und Toast und einer Ausgabe der Times. Ich sehne mich danach, von frischem, feucht glänzendem, vielversprechendem Grün umgeben zu sein.
Die Sonne in England ist ephemer, kurzlebig, eine Illusion, ganz anders als das goldene Licht im Napa Valley oder die über LA schwebende Hitzeglocke.
Du siehst schon, ich habe Heimweh. Es gibt vieles, das mir fehlen wird, wenn ich LA verlasse, und ich wünschte, ich könnte das eine oder andere in meinem Handgepäck mitnehmen, aber ich freue mich unheimlich auf London und darauf, mit dir an der Themse spazieren zu gehen – egal bei welchem Wetter – und über alles und nichts zu plaudern. Oder auch einfach gemeinsam zu schweigen. Das wäre himmlisch.
Zum Schluss noch zu einem etwas prosaischeren Thema: Darf ich dich bitten, mir noch einmal Tee und eine Tafel Vollmilchschokolade von Cadbury’s zu schicken?
Herzliche Grüße
von William
Neve seufzte und öffnete den zweiten Umschlag. Früher hatten Williams Worte gewirkt wie ein Allheilmittel; jetzt war ihr, als würde sich jedes einzelne wie ein Dolch in ihr Herz bohren, als würde er ahnen, dass nun ein Teil davon für Max reserviert war.
Liebe Neve,
hast du mich vergessen? Sonst erhalte ich – den Launen der Royal Mail zum Trotz – immer blitzschnell eine Antwort, doch jetzt sind bereits zwei Wochen ohne einen Brief von dir vergangen.
Ich habe deine E-Mail erhalten, in der du schreibst, dass du viel zu tun hast, und ich frage mich erneut, ob du deine akademischen Fähigkeiten inmitten all dieser staubigen Bücher und Akten voll ausschöpfen kannst, aber darüber können wir uns unterhalten, wenn ich wieder im Lande bin. Ich verzehre mich nach wie vor nach einer ordentlichen Tasse Tee und einer guten Schokolade und wäre dir ewig dankbar, wenn du mir beides zukommen lassen könntest.
Eine sehr liebe Freundin aus LA hat mich übrigens auf den Geschmack von »Frozen Yogurt« (oder »Froyo«, wie ich es bestimmt niemals nennen werde) gebracht, ein recht erfrischender Genuss.
Nun dauert es nicht mehr lange, bis wir wieder gemeinsam eine Kanne Tee trinken können.
Alles Liebe einstweilen
William
Neve las beide Briefe zweimal, dann piepste ihr iPhone. Eine SMS von Max. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, genau wie früher, wenn sie einen Brief von William erhalten hatte.
Telefondate heute 23 Uhr (deine Zeit). Passt das? Möchte dich via Orange bewusstlos vögeln.
X Max
Ein Dutzend Wörter von Max reichte aus, um ihre Brüste anschwellen und tief in ihrem Inneren das Verlangen pulsieren zu lassen. Das schafften Williams Briefe nicht.
Die Gefühle, die Max bei ihr hervorrief, waren aufregend, aber sie hatten nichts mit Romantik zu tun und definitiv nichts mit Liebe, sondern ausschließlich mit Sex. Kein Grund also, ein schlechtes Gewissen zu haben. Neve tippte Das lässt sich einrichten! X N, dann machte sie sich für ihre Besprechung mit Jacob Morrison fertig.