Kapitel 19
Eine Stunde nachdem sie nach Hause gekommen war, saß Neve voll angezogen mit ihrem Laptop auf den Knien in ihrer Badewanne. Sie hatte ein Handtuch unter die Tür gestopft, damit Charlotte auch bestimmt nichts hören konnte, als sie nun mit ihrem Exposé für Jacob Morrison begann.
Bis jetzt war es hervorragend gelaufen, auch wenn sie das lieber gar nicht denken sollte, um den Bann nicht zu brechen. Sie hatte ihren Namen und den Arbeitstitel ihrer Biografie, Der Sturz vom Rand der Welt, in einem Schwung getippt und dann auch gleich den ersten Absatz geschrieben, in dem sie erklärte, warum sie eine Biografie über eine Frau verfasste, von der noch nie jemand gehört hatte. Danach starrte sie eine Weile auf einen Riss in der Decke. Musste sie den Namen des Gymnasiums erwähnen, das Lucy Keener besucht hatte?
Neve betrachtete die Tagebücher, die ordentlich aufeinandergestapelt auf ihrem Badezimmerhocker lagen, und hoffte auf eine Eingebung, da klingelte ihr Telefon.
Sie tappte hastig danach, denn das war genau die Art von Lärm, die Charlottes Tobsuchtsanfälle auslöste.
»Hallo?«, flüsterte sie.
»Hallo, mein Engel, hier ist Max. Wie geht es dir?«
Jetzt, da die Jahreshauptversammlung vorbei war und Neve den Eindruck hatte, diesen Bereich ihres Lebens wieder einigermaßen im Griff zu haben, fühlte sie sich auch für den Umgang mit Max etwas besser gewappnet. Sie wusste zwar nicht, ob sie den Mut haben würde, Schluss zu machen, aber sie würde sich definitiv keine Frechheiten mehr gefallen lassen. Oder zumindest nicht mehr so viele.
»Es geht mir gut«, sagte sie leise. »Und dir?«
»Großartig, jetzt, wo ich deine Stimme höre, meine Schöne«, säuselte er, und Neve wusste, wenn ihr jemand derart offensichtlich Honig ums Maul schmierte, dann konnte das nur eines bedeuten.
»Wenn du mich um einen Gefallen bitten willst, dann raus mit der Sprache, und wenn ich Lust darauf habe, dann mache ich es.«
Er atmete hörbar ein. »Wie, darf ich dir etwa kein Kompliment mehr machen?«
Dafür hatte sie jetzt wirklich nicht die Energie; nicht nach einem emotional derart anstrengenden Tag und zwei Gläsern Pinot grigio – ohne einen Schluck Mineralwasser. »Max, ich will mich nicht mit dir streiten. Willst du irgendetwas von mir?«
Schweigen. Wenn er ihr jetzt auch nur ansatzweise doof kam, würde sie ihre Pfannkuchenbeziehung auf der Stelle für beendet erklären. Oder ihm zumindest eine entsprechende E-Mail schicken, sobald er aufgelegt hatte.
»Äh, nun ja, ich wollte dich tatsächlich um einen klitzekleinen Gefallen bitten«, bekannte Max. Na, toll, dachte Neve misstrauisch. Wenn sie um einen klitzekleinen Gefallen gebeten wurde, hieß das ihrer Erfahrung nach entweder, dass sich jemand (Celia) Geld von ihr leihen wollte oder dass sie eine unangenehme Aufgabe erledigen sollte (für Rose die Ablage machen zum Beispiel). »Schieß los«, sagte sie, um einen ermunternden Tonfall bemüht.
»Mein Hundesitter hat gerade angerufen. Er will Keith nicht nehmen, während ich in Los Angeles bin – er behauptet, Keith würde seinen Cockerspaniel terrorisieren. Wenn du mich fragst, ist es genau umgekehrt. Ich meine, das Vieh heißt Aloysius! Mit so einem Namen ist man doch fürs Mobben prädestiniert. Keith bellt zwar beim Anblick anderer Hunde, aber es ist ein nervöses Bellen, und er würde niemals …«
»Ich soll auf Keith aufpassen, während du weg bist?«, unterbrach Neve ihn eilfertig. »Liebend gern!«
»Derek hat versprochen, tagsüber mit ihm Gassi zu gehen, aber du müsstest ihm einen Schlüssel geben und … Ich weiß, es ist viel verlangt …«
»Kein Problem, Max. Ich fände es schön, eine Weile einen vierbeinigen Mitbewohner zu haben.«
»Du sprichst schon wieder in diesem süßlichen Tonfall«, sagte Max streng. »Also, macht es dir wirklich nicht aus?«
»Nicht das Geringste«, versicherte sie ihm. »Wer weiß, vielleicht hält er mir ja Charlotte vom Leib. Sie kann ein nervöses Bellen bestimmt nicht von einem ›Wenn du nicht aufhörst, Neve anzubrüllen, beiß ich dir die Halsschlagader durch‹-Bellen unterscheiden.«
»Nicht, dass er das je tun würde.«
»Natürlich nicht, aber das weiß Charlotte ja nicht. Bring ihn einfach am Sonntag mit zu mir, dann kann er sich schon mal eingewöhnen, und ich nehme ihn zum Joggen mit. Das wird ihm gefallen.«
»Ich kann ihn echt unmöglich eine Woche lang in eine Hundepension geben. Er würde einen Nervenzusammenbruch erleiden.«
»Das ist ja auch gar nicht nötig. Mal ehrlich, du wusstest doch von vornherein, dass ich Ja sagen würde, oder?«
»Ehrlich gesagt dachte ich nach Montagmorgen, dass du mir sagen würdest, ich soll mich verpissen.«
Neve hörte ein Geräusch aus der Wohnung unter ihr und erstarrte. Eine Tür wurde zugeknallt, doch die Schritte auf der Treppe wurden nicht lauter, sondern leiser. Trotzdem senkte sie die Stimme. »Das hätte ich nicht gesagt; schon weil ich solche Ausdrücke nicht verwende.«
»Naja, du hättest es vermutlich etwas vornehmer ausgedrückt.« Er gluckste. »Warum flüsterst du eigentlich? Ist jemand bei dir?«
»Ich bin in meiner Wohnung«, flüsterte Neve. »Ich glaube, Charlotte hat gerade das Haus verlassen. Sie streitet sich schon die ganze Woche mit Douglas und setzt den Besen noch öfter als sonst ein, deshalb arbeite ich neuerdings im Bad. Da hört sie mich nur, wenn sie mal muss.«
»Das ist doch kein Leben, Süße«, sagte Max sanft. »Du solltest dir von ihr nicht so viel gefallen lassen.«
Neve hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Sein »Süße« gerade eben hatte ausnahmsweise nicht wie ein gedankenlos ausgesprochener und spöttisch gemeinter Kosename geklungen, sondern so, als hätte er genau das gesagt, was er empfand. »Ich weiß, aber ich habe keine Ahnung, wie ich den Teufelskreis, in dem wir uns befinden, durchbrechen soll.«
»Klingt fast wie diese dämlichen Auseinandersetzungen, die wir zwei immer haben, nicht?« Das hatte Neve nun wirklich nicht erwartet. »Hör zu, Neve, ich rede wie ein Wasserfall, und das meiste davon ist totaler Mist, den du dir nicht zu sehr zu Herzen nehmen solltest.« Jetzt, am Telefon, und dank der Akustik in ihrem Badezimmer, die jedes Schnüffeln und Schniefen und jeden seiner Atemzüge vervielfachte, konnte Neve die Befangenheit in seiner Stimme hören. »Aber am Montagmorgen hast du richtig niedergeschlagen und traurig gewirkt. Mache ich dich denn so unglücklich?«
Neve schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber nein. Nein! Ich meine, es macht mich fertig, dass ich nicht neben dir schlafen kann, und überhaupt ist dieser ganze Beziehungskram viel schwieriger als erwartet, aber das war nicht der Grund für meine Laune am Montagmorgen.« Sie stockte. »Es … Es hatte mit meinem Job zu tun. Aber jetzt ist alles wieder gut.«
»Was war denn los?«
»Nett, dass du fragst, aber wir wissen doch beide, dass mein Job kein sonderlich spannendes Gesprächsthema ist.«
»Du machst mich fertig, Neve«, stöhnte Max. »Würdest du mir jetzt bitte erzählen, was da bei euch im Archiv los war?«
Er legte sich richtig ins Zeug, und er hatte das LLA nicht »Bücherei« genannt, dabei hatte Neve längst zugestimmt, den Hundesitter für Keith zu spielen. »Also gut. Wir hatten unsere Jahreshauptversammlung mit dem Kuratorium«, begann sie zögernd, und dann berichtete sie Max vom Geflüster ihrer Kollegen und von ihrem paranoiden Misstrauen und ihren absurden Befürchtungen. Sie erzählte von dem Putsch gegen Mr Freemont und von der Biografie und davon, dass sie nun, da sie ein zweiseitiges Exposé verfassen sollte, plötzlich nicht mehr weiterwusste. »Ich verstehe das nicht. Ich habe sechs Kapitel der Biografie geschrieben, und jetzt habe ich eine Schreibblockade. Schlimmer noch! Eine Schreiblähmung! Und ich fürchte, Jacob Morrison wird von Lucys Roman nicht sonderlich begeistert sein, und von meinem amateurhaften Versuch, eine Biografie zu verfassen noch viel weniger. Aber ich muss es zumindest versuchen. Oh Gott, ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
Max versicherte ihr nicht, dass sie es schaffen würde, und er sagte auch nicht, sie solle sich zusamenreißen. Er sagte nur: »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Keine Ahnung. Meine Arbeit ist eben nicht besonders interessant, und außerdem glaubst du ja, bei uns würden sich nur Lesben in Wolljäckchen tummeln.«
»Ich frage mich, ob du eine schlechte Meinung von mir hast oder eine schlechte Meinung von dir selbst.« Max seufzte. »Und wie gesagt, gib nicht so viel auf mein Gelaber.«
»Tut mir leid«, murmelte Neve. »Ich wünschte, ich wäre nicht so … so anstrengend und langweilig.«
»Du bist nicht langweilig, Neve«, widersprach Max, und es klang ernst gemeint. »Und es ist sauschwer, ein Exposé zu schreiben. Ich hasse Exposés. Schreib einfach alles auf, was dir wichtig erscheint, und dann lass es mindestens vierundzwanzig Stunden liegen, ehe du dich ans Korrigieren machst.«
»So habe ich es in Oxford immer gemacht, wenn ich einen Aufsatz schreiben musste. Gute Idee, danke.«
Aber Max war noch nicht fertig. »Und du kannst mir solche Sachen ruhig erzählen. Ich erzähl dir doch auch alles.«
Neve kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und beschloss, genauso offen zu sein wie er. »Max, wir wissen beide, dass du mir eine ganze Menge nicht erzählst. Ich musste von Celia erfahren, dass du am Wochenende Geburtstag hast.«
Er schnaubte geringschätzig. »Geburtstage sind dämlich.«
»Also, was hast du am Wochenende vor?«, hakte sie nach.
»Nicht explodieren, okay?«
»Warum sollte ich explodieren?«, fragte sie misstrauisch.
»Am Samstagabend bin ich … ähm … Mandy hat einen Tisch im Ivy reserviert. Ich treffe mich mit ihr und unseren beiden Agenten, um über unser nächstes Buch zu sprechen.«
Neve war erschüttert. »Aber es ist dein Geburtstag! Da solltest du etwas mehr geplant haben als ein als Geburtstagsfeier getarntes Geschäftsessen.«
»Naja, wir gehen danach in irgendeinen Klub, und eigentlich habe ich erst am Sonntag Geburtstag, aber am Montagmorgen muss ich ja bereits nach LA …«
»Wir könnten bowlen gehen. Celia und ich gehen immer bowlen, wenn eine von uns Geburtstag hat.«
»Bloß nicht. Nie wieder. Hast du schon vergessen, was für ein Anti-Talent ich bin, wenn es ums Bowlen geht?«
»Aber falls du an deinem Geburtstag etwas mit mir unternehmen möchtest …« Sie brach ab, weil sie sich aufdringlich vorkam. »Ich weiß, du musst am Montag früh raus, aber du musst ohnehin Keith vorbeibringen, und – ich könnte dir dein Lieblingsessen kochen, sofern es keine hausgemachten Nudeln sein müssen. Ich mache dir sogar etwas, das vor Fett und Butter und Sahne trieft.«
»Kann ich ein Brathähnchen mit Ofenkartoffeln haben? Und weißt du, wie man Yorkshire-Pudding macht?«, fragte er sehnsüchtig. »Das wäre toll.«
»Aber klar doch. Es läuft ja schließlich Yorkshire-Blut durch meine Adern«, verkündete Neve, obwohl sie gar nicht sicher war, ob sie überhaupt eine Rührschüssel besaß. »Und du darfst die DVD aussuchen, und es muss kein Frauenfilm sein. Ich seh mir auch einen Mafiafilm an oder irgendetwas Blutrünstiges von Quentin Tarantino, das vor Popkultur-Zitaten strotzt, die ich nicht verstehe.«
»Angebot angenommen«, sagte Max, und Neve war überzeugt, dass er lächelte. Es war an der Zeit aufzulegen.
»Tja, dann …«
»Neve? Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber Mandy heiratet in ein paar Wochen in Manchester, und ich möchte, dass du mich begleitest. Es wird ein rauschendes Fest, das von Donnerstag bis Montag dauert, und ich weiß gar nicht, ob du dir überhaupt so lange freinehmen kannst, aber …« Er schluckte. »Was sagst du dazu?«
»Wen heiratet sie denn? Ach, warte, diesen Fußballer namens Darren Soundso.«
Max schnaubte. »Wie kommt es, dass du so etwas nicht weißt? Liest du keine Zeitungen?«
»Muss ich nicht. Mein Spezialgebiet ist die britische Literatur der Zwischenkriegszeit, und in den Zeitungen steht doch nur deprimierendes Zeug über Terrorismus und die Wirtschaft, das ich nicht wissen muss. Warum dauert die Hochzeit so lange?«
»Die Hochzeit selbst findet am Samstag statt, nachdem sämtliche Gäste ihre Kameras und Handys abgegeben haben; Mandy hat die Rechte nämlich an die Zeitschrift Voilà verkauft. Es geht am Donnerstagabend mit einer Cocktailparty los. Mandy ist total sympathisch, und ihre Familie war echt nett zu mir, und ich möchte, dass du sie kennenlernst.«
»Und wie stellst du mich vor? Als deine Freundin? Das werden sie dir nicht abnehmen.«
»Warum denn nicht?«
»Wegen meines Aussehens, wegen meiner Kleider und weil ich nicht allzu viel zu erzählen habe, von der britischen Literatur der Zwischenkriegszeit mal abgesehen.«
»Und ich dachte, ich wäre derjenige, der viel Mist von sich gibt«, sagte Max genervt. »Kommst du nun mit oder nicht?«
»Kann ich es mir noch überlegen?«
»Nein, du musst jetzt sofort eine Entscheidung treffen.«
»Das ist nicht fair!«
»Wenn ich dir Zeit gebe, um darüber nachzudenken, fallen dir hunderttausend dämliche Gründe ein, die dagegen sprechen. Und wer weiß, Neve, vielleicht hast du auf dieser Hochzeit ja Spaß. Das war doch eines unserer Ziele, nicht?« Da er es in humorvollem Tonfall vorgebracht hatte, konnte sie es ihm kaum übel nehmen – dummerweise, denn eine WAG-Hochzeit würde für sie garantiert die Hölle werden.
»Ich erinnere mich dunkel, dass ich im Jahr 2005 Spaß hatte«, warf sie ein, um die harten Verhandlungen etwas aufzulockern.
»Was ist denn das Schlimmste, das passieren kann?«, wollte er wissen. »Du bekommst Gratis-Champagner und die Gelegenheit, mit ein paar Spitzenfußballspielern und ihren Frauen und Freundinnen zu plaudern. Alles halb so wild.«
»Das Schlimmste, das passieren kann, ist, dass mich alle für ein schlecht gekleidetes, langweiliges, fettes Rhinozeros halten.« Hoppla. Da hatte sich ihre ständig nörgelnde innere Stimme zu Wort gemeldet. Neve konnte nicht fassen, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Sie hörte Max unterdrückt ächzen. »Zum Beispiel.«
»Ich kenne niemanden, der so wenig Selbstwertgefühl hat wie du«, sagte er leise. »Es wird bestimmt lustig. Wir machen uns hübsch und bringen zweiundsiebzig Stunden damit zu, über alles und jeden in unserer unmittelbaren Umgebung herzuziehen. Alleine kann ich das nicht.«
Das klang tatsächlich nach Spaß. »Bedeutet es dir wirklich so viel, dass ich mitkomme und mit dir über die anderen herziehe?«
»Klar, sonst hätte ich dich nicht gefragt. Ich hätte auch eines von den Skirt-Mädels fragen oder mir am Freitagabend eine Begleiterin in einem Nachtklub in Manchester aufreißen können.« Neve spürte, wie sich etwas in ihr, möglicherweise ihr Herz, schmerzhaft zusammenzog. »Aber das wollte ich nicht. Nicht nur deshalb, weil es mir zum Hals raushängt, sondern weil ich mit dir hingehen will.«
Die Schmerzen in ihrer Brust ließen nach. »Aber ich habe nichts anzuziehen!«
Max lachte. »Du klingst wirklich allmählich wie eine richtige Freundin. Zieh doch das Kleid an, das du anhattest, als wir uns kennengelernt haben.«
»Das ist aber schwarz. Bringt es nicht Unglück, auf einer Hochzeit ein schwarzes Kleid zu tragen?« Was noch nicht hieß, dass sie wirklich mitkam.
»Es hieß, die Gäste dürften ausschließlich schwarz oder weiß gekleidet sein. Wahrscheinlich, damit Mandy in ihrem Brautkleid in Knallpink oder mit Leopardenmuster auch richtig auffällt. Sie steht auf Leopardenmuster«, erzählte Max. »Wir sind im Hotel Malmaison untergebracht, und ich fahre mit dem Auto hin. Ich hole dich ab und bringe dich bis vor die Haustür …«
»Okay, okay, du kannst aufhören. Ich komme mit, ich trage Schwarz und ziehe mit dir über die anderen Gäste her.«
»Cool. Hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht.« Er gluckste erneut. »Dann ist das also abgemacht?«
Neve murmelte etwas Zustimmendes und klappte missmutig ihren Laptop zu, der mittlerweile auf Stand-by-Modus geschaltet hatte.
»Und am Sonntag starten wir einen letzten Versuch, was das Schlafen angeht, und wenn du da wieder kein Auge zutust, lassen wir es bleiben.«
Neve war fast genauso erleichtert wie vor ein paar Stunden, als sie begriffen hatte, dass ihre Freunde sie noch mochten und dass sie nicht entlassen werden sollte. »Wenigstens waren wir, was das Küssen angeht, schon sehr erfolgreich. Ich finde, das habe ich schon ganz gut raus.«
»Oh ja, absolut erste Sahne«, stimmte Max ihr zu. »Und denk daran, dass du mir alles sagen kannst, wenn du mal etwas auf dem Herzen hast. Solange du mich nicht darauf hinweist, wie viele Kohlehydrate ich zu mir nehme, habe ich immer ein offenes Ohr für dich.«
»Dasselbe gilt für dich«, sagte Neve so gerührt, dass ihre Stimme zitterte. »Selbst wenn es um die Arbeit geht. Vor allem dann. Schließlich bin ich eine unbeteiligte Dritte.«
Sie schwiegen einen Augenblick, aber diesmal war es kein peinliches Schweigen. Im Gegenteil. Es schien etwas in der Luft zu liegen, etwas Positives, das Neve nicht benennen konnte.
»Fühlt sich irgendwie an wie ein besonderer Moment, nicht?«, sagte Max.
»Absolut.« Dann fiel ihr Blick auf eines der Bücher auf dem Hocker, das ihr die Lösung für ihr aktuelles schriftstellerisches Problem lieferte. »Entschuldige Max, aber ich fürchte, der Moment ist vorüber. Ich hatte gerade eine Eingebung.«
»Tja, deswegen nennt man es wohl einen besonderen Moment, weil er nicht allzu lange dauert. Also, mach dich wieder an die Arbeit. Wir sehen uns am Sonntag.«
Neve legte auf und griff nach dem Buch, das ihr gerade ins Auge gestochen war, dann klappte sie ihren Laptop auf und begann zu tippen.
Im Laufe der Woche plagte Neve zunehmend eine vage, quälende Unruhe, ungefähr so, als hätte sie ihre Schlüssel verlegt oder als wäre sie weggefahren, ohne zu überprüfen, ob sie den Herd ausgeschaltet hatte. Arbeit, Sport, Arbeit, und dann ihr Exposé – die Routine, die sie normalerweise als behaglich oder beruhigend empfunden hätte, erschien ihr nun wie eine Stagnation. Es kam ihr so vor, als würde sie auf der Stelle treten, obwohl es sie vorwärtsdrängte. Der einzige Lichtblick war der Tag, an dem sie Mein Tanz am Rand der Welt samt ihrem (von Chloe, Rose und Philip abgesegneten) Exposé an Jacob Morrison schickte. Als Neve das Paket einem Postbeamten überreichte, nahm sie sich fest vor, das Thema vorerst aus ihren Gedanken zu verbannen.
Dann war da die Aussicht auf einen Samstagabend ohne Max, die ihr höchst befremdlich vorkam, war er doch in den vergangenen Wochen ein fixer Bestandteil ihrer Samstagabende geworden. Als sie Gustav nachmittags erzählte, dass sie noch nichts vorhatte, lud er sie ein, mit ihm und seinem Freund Harry essen zu gehen, was immer eine besondere Ehre war.
Es war ungewöhnlich, Gustav nicht in Sportklamotten zu sehen, obwohl er auch in seiner Freizeit ausschließlich Schwarz trug. Sein stets gut gelaunter Freund Harry war ein strammer australischer Hüne, der Gustav mit dem Zeigefinger drohte, wann immer sich dieser ganz offensichtlich ausmalte, wie er dafür sorgen würde, dass Neve jede einzelne der soeben konsumierten Kalorien wieder herunterschwitzte.
Das Beste an einem Abend mit Gustav und Harry war jedoch, dass es Harry stets gelang, Gustav abzufüllen (was nicht weiter schwer war, da Gustav noch weniger Alkohol vertrug als Neve), und dass Gustav sehr lustig wurde, wenn er betrunken war. Als Harrys Nachtisch – mit drei Löffeln – serviert wurde, hatte Gustav den Kopf an Neves Schulter gelehnt und tätschelte ihr zum wiederholen Male onkelhaft die Brust, obwohl sie ihn schon mehrfach aufgefordert hatte, das zu unterlassen.
»Wenn ich nicht homosexuell wäre, würde ich dich noch viel mehr lieben als ohnehin schon, Neve«, versicherte er ihr und vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge. »Du erinnerst mich an meine Mutter«, worauf Harry in schallendes Gelächter ausbrach.
»Ach, Schätzchen, das macht dich doch bestimmt unheimlich stolz«, keuchte er schließlich, während Neve zu verhindern versuchte, dass ihr Gustav auf das Kleid sabberte, das nur chemisch gereinigt werden durfte.
»Gustav! Wenn du nicht sofort aufhörst, esse ich Harrys Schoko-Karamell-Kuchen ganz allein auf«, drohte ihm Neve, erntete aber bloß ein zufriedenes Schniefen.
»Du riechst immer so gut«, lallte Gustav. »Sogar, wenn du total verschwitzt bist.«
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dieses Leichtgewicht ins Bett zu stecken«, stellte Harry fest, und Gustav grinste Neve vielsagend an.
»Harry liebe ich auch«, vertraute er ihr an. »Er hat einen riesigen Penis.«
Neve lachte noch immer, als sie Harry dabei half, Gustav auf die Rückbank eines Taxis zu verfrachten. »Das merke ich mir, und ich werde es jedes Mal erwähnen, wenn du von mir verlangst, dass ich Hampelmänner mache«, sagte sie zu Gustav, der den Kopf ermattet auf die Rücklehne sinken ließ und ihr Luftküsschen schickte, bis das Taxi anfuhr.
Und dann stand sie allein mitten auf der Old Compton Street. Es war Samstagabend, neun Uhr, und obwohl sie wusste, dass Charlotte auf einem Junggesellinnenabschied in Brighton war, hatte Neve keine Lust, nach Hause zu fahren.
Max hätte ihr jetzt garantiert ein halbes Dutzend Lokalitäten nennen können, an denen eine Party stieg, aber er hatte schließlich nicht das Spaß-Monopol. Sie marschierte die Rolltreppe der U-Bahn-Station Leicester Square hinunter und begab sich in einem Anfall von Verwegenheit auf den Bahnsteig, von dem die Bahnen Richtung Süden abfuhren. Chloe gab mit ihrer Band, den Fuck Puppets, ein Konzert in Brixton, und obwohl Neve sonst unter allen Umständen versuchte, kreischenden Gitarren und dem Süden von London fernzubleiben, beschloss sie, dass sie heute ausnahmsweise beides ein paar Stunden aushalten würde.
»Du meine Güte, haben sie dich an der Grenze aufgehalten?«, ätzte Chloe, als sie Neve in der Schlange vor dem Klub entdeckte. Dann drückte sie sie einmal kräftig an sich. »Ich lasse dich gleich auf die Gästeliste setzen.«
Es war ein unheimlich gutes Gefühl, einfach so, ganz spontan auf einem Gig (einem Gig!) aufzukreuzen, und der Adrenalinschub, den sie seit ihrer tollkühnen Entscheidung verspürte, hielt den ganzen Abend an, obwohl die Songs der Fuck Puppets praktisch nur aus kreischenden Gitarrensoli bestanden und ihr jemand seinen Drink über das Kleid kippte. Das Publikum setzte sich aus einer seltsamen Mischung aus Emo-Kids und jungen Akademikern zusammen. Neve unterhielt sich nicht bloß mit ihren Kollegen vom LLA, sondern auch mit ein paar alten Bekannten aus Oxford. Dann plauderte sie eine Weile mit einem Mann, dem sie ein paar Mal in der British Library begegnet war und erfuhr, dass auch er von Unserer lieben Frau vom gesegneten Taschentuch besessen war, die der British Library gelegentlich einen Gastbesuch abstattete. Er murmelte sogar etwas von wegen einen Kaffee trinken gehen, wenn sich ihre Wege das nächste Mal im geisteswissenschaftlichen Lesesaal kreuzten. Es war kein Date, denn er hatte fürchterlichen Mundgeruch, und sie hatte Max, aber trotzdem zauberte die Aussicht ein stolzes Lächeln auf Neves Gesicht, das sich hartnäckig hielt, bis sie – wer hätte das gedacht! – um halb drei Uhr morgens nach Hause kam.