Kapitel 40

»Du lieber Himmel!«, entfuhr es ihm, und gleich noch einmal. »Du lieber Himmel.«

Der Kellner entschwand, sodass sich Neve hinter niemandem mehr verstecken konnte. Sie hatte sich noch nie derart exponiert und verletzlich gefühlt, nicht einmal vorhin auf der Liege der Depiladora oder damals, als sie im Hotelzimmer nackt vor Max gestanden hatte.

Sie hob kraftlos die Hand und winkte halbherzig. Dann beschloss sie, Williams verdatterte Miene ganz bewusst zu genießen, denn seine Erschütterung über ihre Verwandlung war der Beweis dafür, dass sich all ihre Anstrengungen gelohnt hatten – die unzähligen Trainingssessions am frühen Morgen, der Verzicht auf Kuchen, Schokolade und Süßigkeiten, selbst die grauenhafte Saftkur.

William ließ mehrmals den Blick über sie gleiten, vom Kopf bis zu den (immer noch verkrampften) Zehen und wieder zurück.

»Da bin ich«, krächzte sie schließlich, weil er nichts sagte, und er zuckte zusammen, als müsste er sich bewusst aus seiner Schockstarre lösen.

Dann erhob er sich geschmeidig. »Ja, da bist du endlich.« Er legte ihr einen kurzen, aufregenden Moment lang die Hand auf die Taille und streifte zur Begrüßung mit den Lippen ihre Wange. »Entschuldige, ich habe dich nicht gleich erkannt. Hast du eine neue Frisur?«

Neve tätschelte ihre Mähne, die minütlich weniger wuschelig wirkte. »Ähm, ja«, sagte sie, während William ihr den Stuhl zurechtrückte, damit sie sich setzen konnte. Sie hatte ja nicht erwartet, dass er sie fragen würde, wie viel genau sie abgenommen hatte, aber seine Bemerkung über ihre Frisur erschien ihr doch etwas scheinheilig. Doch dann setzte er sich und schenkte ihr ein warmes, aufrichtiges Lächeln, als wäre seine Welt endlich wieder in Ordnung, nur weil sie ihm gegenübersaß. Er hatte sie bloß nicht in Verlegenheit bringen wollen. Es war unhöflich, jemanden auf sein Körpergewicht anzureden.

Sie erwiderte sein Lächeln, und er legte flüchtig die Hand auf ihre Hand. »Gott, ist das lange her. Zu lange.«

Er war nicht mehr ganz so attraktiv wie in ihrer Erinnerung, aber er war immer noch ihre goldene Trophäe: Die kalifornische Sonne hatte sein seidiges blondes Haar etwas ausgebleicht, und die Augen wirkten dank der gebräunten Haut noch blauer. Er trug ein blütenweißes Hemd und Jeans, was ihn schnöseliger wirken ließ und nicht mehr so sehr an Wiedersehen mit Brideshead erinnerte wie früher. Er sah aus, als wäre er soeben über einen grünen Rasen in New England spaziert, statt mit der District Line aus Fulham zu kommen.

»Du hast mir so gefehlt«, sagte Neve, und er lächelte wieder, und in diesem Augenblick wurde alles, das in den vergangenen Monaten geschehen war, unwichtig. Ausgelöscht. Es gab nur noch William. »Drei Jahre, Will. Wag es ja nicht, noch einmal so lange wegzubleiben.«

»Werde ich nicht. Versprochen.« Er ergriff erneut ihre Hand und hielt sie fest, während er einem Kellner winkte. »Sollen wir uns ein Glas Champagner gönnen?«

Neve war noch immer übel vor Aufregung, und etwas Alkohol hätte zweifellos beruhigend gewirkt. Aber sie hatte sich wochenlang nur von Saft ernährt und wollte nicht riskieren, dass sie sich nach zwei Schlucken die Kleider vom Leib riss und einen Siegestanz aufführte. Schade, es wäre schön gewesen, auf ihre gemeinsame Zukunft anzustoßen und ihm dabei tief in die Augen zu blicken. »Für mich nur Wasser«, sagte sie. »Und dazu vier halbe Zitronen.«

Nach seinen drei Jahren in LA war William über ihre seltsame Getränkewahl nicht im Mindesten überrascht, sondern murmelte lediglich: »Du warst ja schon immer ein bisschen anders«, als sie die Zitronen über ihrem Glas ausquetschte, bis das Wasser trüb wurde.

Bei ihm klangen ihre Marotten nicht neurotisch, sondern liebenswert, dachte Neve dankbar und nahm einen Schluck. »Also, wie ist es dir ergangen? Erzähl mir alles.«

Er begann zu reden, und nach einer Minute lehnte sie sich zurück und entspannte sich endlich. Sie kicherte ein wenig, als William ihr einen seiner Studenten beschrieb, und nickte mitfühlend, als er ihr die Kämpfe schilderte, die er mit seinem Dekan ausgefochten hatte.

Dann sprach er eine Weile über lyrische Poesie, während Neve versuchte, die kaum merkliche Bewegung des Riesenrads draußen vor dem Fenster zu verfolgen und dabei gelegentlich auf ihrem Sessel hin und her rutschte. Es war diese dämliche Entschlackungskur – sie hätte vor Stunden ihren nächsten Saft trinken sollen. Kein Wunder, dass sie so abgelenkt war. Sie richtete sich auf, riss die Augen auf und konzentrierte sich wieder auf das, was William sagte.

»Und kann man die faschistische Ideologie bei Ezra Pound überhaupt getrennt von seinem Werk betrachten, oder ist beides untrennbar miteinander verknüpft?«

Neve hatte nicht den leisesten Schimmer, also lächelte sie unverbindlich, und William sprach weiter, was ihr ganz recht war, denn so konnte sie das Kinn in die Hand stützen und zusehen, wie sich seine wunderschönen Lippen bewegten, während er mit ihnen die Worte formte.

Er war so attraktiv … Und sie hatte immer noch das Gefühl, ihn nicht verdient zu haben. Aber wenn er sie anlächelte, so wie jetzt, als er seinen Monolog über Ezra Pound beendet hatte, dann war ihr, als wäre sie in Sonnenlicht getaucht.

Was auch an der riesigen Fensterfront liegen mochte, durch die man die Leute beobachten konnte, die unten am Flussufer entlangspazierten oder in einem der Ausflugsboote über die Themse tuckerten …

»Neve? Langweile ich dich?«

Sie zwang sich, mit ihrer Aufmerksamkeit zu William zurückzukehren. Worum ging es gerade? Sie hatte keine Ahnung. »Unsinn. Red nur weiter.«

Er runzelte die Stirn, als ahnte er, dass sie ihm schon eine ganze Weile nicht mehr zugehört hatte. »Also, wie gesagt, es bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen dem akademischen Betrieb in Großbritannien und in Amerika, wobei ich mit Amerika die Westküste meine. Wie du weißt, habe ich in Amherst einen Vortrag über die Dichter der Romantik gehalten, der mit einer viel ausgeprägteren intellektuellen Strenge aufgenommen wurde.« Neve fiel auf, dass er seinen Kragen aufgestellt hatte und sich immer wieder mit der Zunge über die Unterlippe leckte.

Gott, vor ihm könnte ich mich niemals nackt ausziehen. Der Gedanke war unerwartet, wenn auch nicht neu. Allerdings war es normalerweise ein eher allgemeines Gott, ich könnte mich vor niemandem nackt ausziehen, nicht einmal vor einem Arzt.

Ich würde ihn aber auch nicht nackt sehen wollen. Das war neu, denn, wie ihr nun zum ersten Mal auffiel, sie hatte sich überhaupt noch nie vorgestellt, dass ihre nackten Leiber kollidierten oder sich aneinander rieben, wie das nun einmal der Fall sein sollte, wenn man mit der Liebe seines Lebens im Bett lag und … sich liebte.

Neve betrachtete William aufmerksam, und er strahlte sie an, da er nun wieder ihre volle, ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Er sah gut aus, war gut angezogen und unglaublich intelligent und – sie fühlte sich sexuell kein bisschen zu ihm hingezogen.

Sie rutschte nicht etwa unruhig auf ihrem Sessel herum, weil sie dieses Pulsieren tief in ihrem Inneren verspürte, sondern weil sie sich langweilte. Sie rief sich die langen Nachmittage in Oxford in Erinnerung, an denen sie stundenlang in seinem Wohnzimmer gesessen und sich unterhalten hatten. Damals war Neve hundertprozentig überzeugt gewesen, dass sie ihn liebte, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Sie hatte sich nicht an ihm sattsehen können (daran hatte sich nichts geändert), und sie hatte sich geschmeichelt gefühlt, weil er ihr seine Zeit und seine Aufmerksamkeit schenkte, aber sie hatte sich nie gewünscht, er möge sie auf den Teppich vor dem Kamin zerren (in dem das Feuer eher rauchte als loderte), ihr die Kleider vom Leib reißen und sie leidenschaftlich lieben.

War es etwa doch bloß eine jugendliche Schwärmerei gewesen? Unmöglich. Sie liebte ihn wirklich.

William hatte seine kritische Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Schulsystem nun beendet, und Neve beschloss, ihre neueste Erkenntnis zu testen. Sie drückte die Arme an den Körper, um ihr Dekolleté etwas zu betonen, dann setzte sie ein Mona-Lisa-Lächeln auf und lugte durch die Wimpern zu ihm hoch.

Als sie das zum ersten Mal getan hatte, und zwar völlig unabsichtlich, hatte Max sie gebeten, es nie wieder zu tun, vor allem nicht, wenn sie gerade in einem Caffè Nero saßen, denn er war kurz davor gewesen, sie aufs WC zu schleppen und ein paar Dinge mit ihr anzustellen, für die sie in jeder Caffè-Nero-Filiale des Landes Hausverbot bekommen konnten.

Williams Blick fiel ganz automatisch auf ihre Brüste und verweilte dort einen Moment lang, und Neve wartete auf das Kribbeln und auf die plötzliche Atemnot, doch sie fühlte nichts. Nicht einmal, als er sich anders hinsetzte und dabei ihr Bein streifte.

Sie seufzte und verschränkte die Arme. »Also«, sagte sie. »Du hast mir zwei Überraschungen versprochen. Vielleicht fängst du am besten mit dieser wichtigen, lebensverändernden Frage an, die du mir stellen wolltest.«

Wenn er sie jetzt fragte, ob sie seine Freundin werden wollte oder ihr – Gott bewahre – seine Liebe gestand, dann würde sie bestimmt etwas fühlen. Sie musste etwas fühlen.

»Bist du bereit?«, fragte er sie grinsend.

»Bitte, William, die Spannung bringt mich noch um.« Neves Mund war wie ausgetrocknet, und sie zitterte leicht, aber es war schwer zu sagen, ob es an der Aufregung lag oder am Hunger.

»Was hältst du davon, mit mir nach Warwickshire zu ziehen?«

»Wie bitte?« Das war ja ein Mittelding zwischen einem »Willst du mit mir gehen?« und einem Heiratsantrag.

»Naja, nicht mit mir, aber du müsstest umziehen«, korrigierte sich William. Wenn er doch nur endlich Klartext reden würde! »Ich habe eine Stelle an der Universität Warwickshire angenommen, am Englisch-Institut, und du wirst meine wissenschaftliche Hilfskraft.«

»Ach, ja?« Neve verspürte nur eines: Erleichterung darüber, dass William ihr keine Frage gestellt hatte, die früher oder später dazu führen würde, dass sie sich nackt auszogen. Das, und eine grenzenlose Verwirrung. »Aber sind die wissenschaftlichen Hilfskräfte nicht meist Doktoranden?«

»Ich habe mit dem Dekan gesprochen; er wäre begeistert, wenn du dort promovierst. Die Finanzierung ist bestimmt kein Problem, und ich könnte dir natürlich ein kleines Stipendium zahlen, und ab dem zweiten Jahr kannst du dir dann ja dein Einkommen als Dozentin aufbessern. Ich bin sicher, deine Magisterarbeit lässt sich zur Doktorarbeit ausbauen. Worüber hast du noch gleich geschrieben?«

»Über die Rückbesinnung auf den feministischen Roman der Zwischenkriegszeit«, antwortete Neve mit belegter Stimme. Er hätte sich an das Thema ihrer Arbeit erinnern sollen – sie hatte ihm so viele Briefe darüber geschrieben. »Entschuldige, William, ich bin vielleicht etwas schwer von Begriff, aber wie kommst du darauf, dass ich vorhabe, eine Doktorarbeit zu schreiben?«

William starrte sie an, als wäre sie nicht nur schwer von Begriff, sondern als würde sie sich absichtlich dumm stellen. »Na, du musst doch promovieren, um meine wissenschaftliche Hilfskraft zu sein«, sagte er ungeduldig. »Ich weiß, du wolltest dir noch ein paar Jahre Zeit lassen damit, aber mit jedem Tag, den du in dieser Bücherei verbringst, schwindet deine intellektuelle Muskelmasse.«

»Es ist keine Bücherei, sondern ein Literaturarchiv«, entgegnete Neve pikiert. »Ich arbeite gern dort, und im Übrigen trainiere ich meine intellektuellen Muskeln jeden Tag.«

»Natürlich tust du das«, sagte er besänftigend. »Oder du glaubst zumindest, dass du es tust. Aber das liegt nur daran, dass du so lange ohne lebhafte wissenschaftliche Streitgespräche gelebt hast.«

Sie führte im Archiv jede Menge lebhafte Streitgespräche, auch wenn es meist darum ging, woher die Flecken auf Mr Freemonts Krawatte kamen oder in welchem Strickjäckchen Unsere liebe Frau vom gesegneten Taschentuch wohl diesmal aufkreuzen würde.

»Ich arbeite gern dort«, wiederholte Neve fest. »Ich mag meine Kollegen, und meine Arbeit ist sehr abwechslungsreich. Im Herbst mache ich sogar eine Fortbildung zum Thema Buchrestaurierung, und ich schrei…«

»Ich möchte ein Buch schreiben«, platzte William heraus und nahm ihr damit quasi die Worte aus dem Mund.

»Oh …«

»Ja, ich dachte mir schon, dass dich das überzeugen würde. Ich denke da an ein mehrbändiges Werk über die Korrelation zwischen Romantik und Neuzeit.«

»Aber die Romantik ist nicht mein Fachgebiet.«

»Schon, aber du schreibst das Buch ja nicht, sondern ich. Wobei ich natürlich auf deine Hilfe angewiesen bin.«

»William …«

»Wir könnten zunächst ein Exposé und die ersten drei Kapitel ausarbeiten und dann einige Agenten kontaktieren …«

»William!«, sagte Neve scharf, um die Aufmerksamkeit von ihm auf sich zu lenken. »Ich schreibe bereits ein Buch. Naja, ich habe zumindest damit angefangen.«

»Du schreibst ein Buch?« Musste er das gar so ungläubig und spöttisch sagen? »Einen Roman?«

»Nein, eine Biografie, und zwar über Lucy Keener, und ich werde auch ihre Gedichte und Kurzgeschichten herausgeben, obwohl mein Agent der Ansicht ist, dass wir damit lieber noch warten sollten, bis wir einen Verlag für ihren Roman gefunden haben.« Neve hätte ihm diese Neuigkeit gern voller Stolz präsentiert, aber er runzelte die Stirn und wirkte nicht sonderlich erfreut, also brachte sie die Worte leise und in einem entschuldigenden Tonfall vor.

»Du hast einen Agenten?«, fragte er mit einem Anflug von Gereiztheit.

»Ja – Jacob Morrison, der nach seinem Studium in Cambridge im Archiv gejobbt hat und jetzt im Kuratorium sitzt.« Neve zuckte die Achseln. »Vielleicht wird ja auch gar nichts daraus, aber …«

»Das ist doch toll. Ich freue mich für dich. Ich war nur etwas überrascht.« William schluckte schwer, als müsste er seinen Ärger und seine Enttäuschung überwinden, doch dann schenkte er ihr eines dieser Lächeln, für die sie in Oxford gelebt hatte. »Meinen Glückwunsch.«

»Es tut mir leid.« Jetzt war sie es, die seine Hand ergriff. »Ich wollte dich nicht so damit überfallen. Eigentlich wollte ich es dir schreiben, aber ich war in den letzten Wochen ja nicht besonders kommunikativ …«

»Ja, es klang, als wärst du sehr beschäftigt gewesen.« Er verschränkte die Finger mit den ihren, und Neve empfand nur Traurigkeit darüber, dass sie so viel Zeit darauf verschwendet hatte, einen Mann zu lieben, der nur in ihrem Kopf existiert hatte. »Aber du lässt mich doch nicht ernsthaft allein in die Wildnis von Warwickshire ziehen, oder?«

Sie diskutierten die Angelegenheit fast eine Stunde lang, wobei William die Vorzüge der Universität von Warwickshire aufzählte, die wunderschöne Landschaft und die florierende Künstlerszene pries und davon redete, dass er sie dringend brauchte. Nichts davon konnte sie überzeugen.

Neve versuchte noch immer die schockierende Erkenntnis zu verarbeiten, dass sie William nicht wild und leidenschaftlich liebte, aber selbst wenn sie es täte … »Ich bin ein Stadtmensch. Warwickshire ist auf dem Land, und da tummeln sich eine Menge großer, schwerfälliger Tiere, und ich hasse Gummistiefel.«

William schenkte ihr erneut sein Lächeln, das mittlerweile beträchtlich an Strahlkraft eingebüßt hatte. »Es würde mich nicht stören, wenn du in deiner Freizeit an deinem Projekt bastelst.«

Er schien ihr überhaupt nicht zugehört zu haben. Neve musterte ihn mit schmalen Augen und wollte gerade zu einer neuerlichen, weitaus nachdrücklicheren Abfuhr ansetzen, da glitt sein anerkennender Blick über sie. Wollte er ihr damit zu verstehen geben, dass er eine literarische Liaison zum Zwecke der gegenseitigen geistigen Befruchtung anstrebte, nach dem Vorbild von Elizabeth Barrett und Robert Browning oder Scott und Zelda Fitzgerald? Wobei sich diese Konstellation weder für Elizabeth noch für Zelda als sonderlich vorteilhaft entpuppt hatte. »Es tut mir leid, aber ich muss dein großzügiges Angebot leider schweren Herzens ablehnen«, scherzte Neve.

William runzelte die Stirn. »Hat das vielleicht etwas mit deiner … ähm … Verwandlung zu tun?« Er deutete auf ihren auf die Hälfte geschrumften Körper. »Ich meine, entschuldige meine etwas plumpe Ausdrucksweise, aber hast du das Gefühl, dass du dich jetzt, wo du so aussiehst, intellektuell nicht mehr so ins Zeug legen musst?«

Neve sah ihm an, dass er seine Worte bereute, sobald er sie ausgesprochen hatte, aber das konnte auch auf ihren bitterbösen Blick zurückzuführen sein. »Also, entschuldige mal!«, fauchte sie, und Douglas und Celia hatten völlig recht mit ihrer Behauptung, dass sie es gar nicht nötig hatte, zu fluchen, weil bei ihr ein »Entschuldige mal!« so klang wie bei anderen ein »Fick dich doch ins Knie!«

»Du glaubst, ich hätte so viel abgenommen, weil ich meinem überarbeiteten Hirn mal eine kleine Pause gönnen wollte? Wolltest du das damit sagen?«

Er hob die Hände. »Tut mir leid, das war sehr unglücklich formuliert.« Dann schob er sich die Haare aus der Stirn. »Du kommst also definitiv nicht mit nach Warwickshire?«

Neve schüttelte stumm den Kopf. Sie war so wütend auf ihn, dass sie es noch nicht wagte, den Mund aufzumachen.

»Du steckst ja heute voller Überraschungen.« William fummelte an seinem Kragen herum und fühlte sich unter ihrem zornigen Blick sichtlich unwohl in seiner Haut. »Du hast dich verändert, und zwar nicht nur äußerlich.«

»Du warst drei Jahre weg.« Neve beschloss, ihren Ärger ganz bewusst loszulassen. Er war es nicht wert, und William konnte nichts dafür, dass er ihre Erwartungen nicht erfüllt hatte. Der Mann, dem das gelingen hätte können, musste erst noch geboren werden. So perfekt war nicht einmal der Dalai Lama. Aber sie war ja auch alles andere als perfekt. »Und ich fand nicht alle Veränderungen unbedingt positiv.«

»Ich glaube, das nennt man Älterwerden.«

»Egal wie man es nennt, es nervt.«

Sie schwiegen sich ein Weilchen an, und Neve fragte sich, wie lange sie wohl noch hier sitzen musste, ehe sie nach Hause gehen konnte. Dieses Treffen war ein Desaster auf der ganzen Linie, und sie sehnte sich danach, allein zu sein. Sie wollte nur noch ihre metaphorischen Wunden lecken, sich von ihren albernen Jugendträumen verabschieden und sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass William nicht ihr goldenes Ticket in die Zukunft war und ihr ein tristes, einsames Leben ohne Max bevorstand.

Sie hob den Kopf, um eine entsprechende Bemerkung zu machen, doch William sah sie nicht an, sondern spähte auf einen Punkt irgendwo hinter ihr. Und dann lächelte er.

Neve hatte angenommen, sie hätte sich jede einzelne Version seines Lächelns genau eingeprägt, aber diese hier hatte sie noch nie gesehen. Er hob die Hand und begann heftig zu winken.

Neve warf einen Blick über die Schulter und sah eine junge Frau auf sie zukommen, die William genauso strahlend anlächelte wie er sie.

Er stand auf, und sie fiel ihm um den Hals und hauchte mit amerikanischem Akzent: »Baby! Ich hab dich vermisst.«

»Ich dich auch«, säuselte William und selbst seine Stimme klang fremd: weicher, heller, glücklicher. »Der Nachmittag hat sich ewig hingezogen.«

Sie kicherte über seine Worte, und gleich noch einmal, als er sie in die Taille kniff. Die Einzige, die nicht kicherte oder lächelte, sondern einfach nur mit starrer Miene dasaß, war Neve.

William zog los, um einen dritten Sessel zu organisieren, während die junge Frau sie freundlich, aber etwas ratlos musterte, als hätte sie nicht erwartet, sie hier anzutreffen. Neve versuchte ein Lächeln, das zur Grimasse geriet.

Neve konnte sich nicht entsinnen, je eine so schöne Frau gesehen zu haben. Sie war groß und schlank und durchtrainiert, und sie strich sich mit einer nervösen Handbewegung das karamellfarbene Haar über die Schulter, sodass Neve ihr wunderschönes, perfektes, ungeschminktes Gesicht besser sehen konnte. Schon erstaunlich, dass sie beide Augen, eine Nase und einen Mund hatten, doch während diese bei Neve völlig unauffällig waren, wirkten sie bei ihrem Gegenüber, als wären sie von einer göttlichen Hand gemeißelt worden.

Die Erscheinung trug natürlich verwaschene Jeans, ein weißes T-Shirt und Flipflops, und zwar mit einer lässigen Eleganz, die das Outfit zur Haute Couture machte, während Neve in ihrem geborgten Kleid und BH, einem figurformenen Miederhöschen und unbequemen Riemchensandalen dasaß, mit müden Wellen in den Haaren und einem »frischen Naturlook«, den sie zwei Kosmetikerinnen und einer Stunde Arbeit verdankte.

»Hier, Baby.« William stellte so stolz einen Ledersessel vor ihr ab, als hätte er ihn gerade aus dem Laden von Möbeldesigner Terence Conran geholt und auf den Schultern hierher getragen. »Was möchtest du trinken?«

Die Vision wollte einen Chardonnay, William bestellte sich noch ein Bier und Neve wusste, dass sie nun anstandshalber noch mindestens eine halbe Stunde bleiben musste, die sie nüchtern nicht überstehen würde.

»Ein großes Glas Sauvignon blanc«, sagte sie zum Kellner.

»Also, Amy, das ist Neve. Dank ihr waren meine letzten drei Jahre in Oxford einigermaßen erträglich«, sagte William, und Amy streckte Neve die Hand hin. »Neve, das ist die andere Überraschung – Amy, eine gute Freundin aus LA, die … naja, irgendwie habe ich es geschafft, sie zu überreden …« Er holte tief Luft. »Lass es mich noch einmal versuchen. Neve, das ist meine Verlobte Amy.«

Neves Hände waren schweißnass, aber Amy lächelte nur vorsichtig, als sie sich die Hand schüttelten. »Ach, Neve! Du bist ja richtig hübsch!« Sie kicherte verlegen. »William hat mir so viel von dir erzählt.«

Seltsam, dachte Neve. Dich hat er nämlich nie erwähnt.

»Du hast mir ja gar nie …« Sie brach ab. Er hatte zwar nicht klipp und klar geschrieben, dass er bis über beide Ohren verliebt war und heiraten wollte, aber er hatte einmal von einer sehr lieben Freundin geschrieben, die ihn … wie war das noch? … auf den Geschmack von Frozen Yogurt gebracht hatte. Neve befahl ihrer gehässigen inneren Stimme, gefälligst zu schweigen. William hatte wenigstens eine Andeutung gemacht. Sie dagegen hatte ihm unzählige Details aus ihrem Leben verschwiegen.

Der Kellner brachte ihre Getränke, und Neve riss ihm praktisch das Glas vom Tablett und nahm einen zügigen Schluck. Sie spürte richtig, wie der Alkohol in ihren leeren Magen floss.

Die beiden verfolgten es nervös, als würde ihr künftiges Eheglück von Neves Reaktion abhängen. Nun, was brachte es denn, verbittert oder eifersüchtig zu sein, wo sie doch bereits jegliche Ansprüche auf William aufgegeben hatte?

Sie hob das Glas, sodass sich der Wein im Schein des spektakulären Sonnenuntergangs draußen in flüssiges Gold verwandelte, und sagte: »Herzlichen Glückwunsch. Auf eine lange, glückliche Ehe.«

Amy kicherte wieder, und William atmete erleichtert auf. Er hatte ja auch allen Grund, nervös zu sein, schließlich hatte er in seinem leidenschaftlichen Plädoyer vorhin mit keinem Wort erwähnt, dass sie in Warwickshire das fünfte Rad am Wagen spielen sollte.

»Ich wollte dich überraschen«, sagte er lahm.

»Tja, das ist dir gelungen«, sagte Neve, die schon der erste Schluck Wein in einen benommenen, redseligen Zustand versetzt hatte. »Und es ist eine schöne Überraschung. Woher kennt ihr euch denn?«

Sie hatten sich in dem Café kennengelernt, in dem Amy gearbeitet hatte – nicht, weil sie nebenher Schauspielunterricht genommen oder große Ambitionen gehegt hatte, von einem Talentscout oder einem Agenten entdeckt zu werden, sondern »weil ich dachte: Ist ja eigentlich egal, ob du in Des Moines, Iowa, oder in Hollywood kellnerst«. Amy hatte Williams Bestellung (Chai Latte und Vollkornmuffin) mit der eines anderen Gasts durcheinandergebracht, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er hatte sie auf seine Abschiedsreise von einer literarischen Sehenswürdigeit zur nächsten mitgenommen und festgestellt, dass er es nicht ertragen würde, wenn Amy auf der falschen Seite des Atlantik lebte, weshalb er ihr in Oxford, Mississippi, genauer gesagt im Foyer von Rowan Oak, dem ehemaligen Domizil von William Faulkner, einen Antrag gemacht hatte.

Neve wäre es lieber gewesen, wenn Amy eine unsympathische Tussi gewesen wäre, damit sie sie ein klein wenig hassen konnte, aber Amy war entwaffnend sympathisch, als wäre ihr gar nicht bewusst, dass man einer so schönen Frau wie ihr einfach alles verzeihen würde. Ihre einzige negative Eigenschaft – abgesehen von der Tatsache, dass sie nichts von Büchern verstand, und auch sonst nicht allzu viel – war ihr Gekicher, das Neve allmählich ganz schön auf die ohnehin schon strapazierten Nerven ging.

»Ich dachte, in England regnet es ständig«, sagte Amy zu Neve, »dabei scheint schon die ganze Zeit die Sonne. Was meinst du, ist es in War-wick genauso sonnig?«

»Baby, wie oft muss ich es dir noch sagen: Das zweite w spricht man nicht«, meldete sich William zu Wort.

Amy sah noch immer zu Neve, weshalb ihr entging, dass er die Augen verdrehte und Neve mit einem kläglichen Lächeln ansah, das sie offenbar erwidern sollte.

Doch Neve lächelte nicht. Amy war zwar nicht gerade die Hellste, aber William wollte sie trotzdem heiraten. Er hatte sich für Schönheit statt Verstand entschieden, und das seinem IQ und seinem Wissen über die vierte Welle des Feminismus zum Trotz. Er wollte eine Frau heiraten, die zwar atemberaubend schön war, aber in einer Tour kicherte und noch nicht einmal fähig war, den Namen Heideggers auszusprechen, geschweige denn, über die Feinheiten von Sein und Zeit zu diskutieren. Und da hatte er den Nerv, Neve zu unterstellen, ihre drastische äußerliche Veränderung hätte sich negativ auf ihre Intelligenz ausgewirkt!

Während Amy aufgeregt kundtat, sie könne es kaum erwarten, War-wick zu sehen, lächelte Neve unverbindlich und verspürte einen weiteren Stich des Bedauerns darüber, dass William nun endgültig von seinem Podest gestürzt war. All die Jahre hatte sie sich nach seinem Geist und seinem attraktiven Äußeren gesehnt und dabei völlig übersehen, was ihm alles fehlte: Er war nicht witzig, er war nicht einfühlsam, er verstand sie nicht, und – er war nicht Max. »… einen Freund, Neve?«

Sie blinzelte, als sie ihren Namen hörte. Ihr Glas war fast leer, um sie drehte sich alles, und William und Amy sahen sie erwartungsvoll an.

»Tut mir leid, wie war das?«

»Amy will wissen, ob du einen Freund hast.« William musterte Amy mahnend. »Du bist nicht mehr in Kalifornien, Baby. Hier stellt man Leuten, die man gerade erst kennengelernt hat, keine so persönlichen Fragen.«

»Oh entschuldige, Neve, ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Warst du nicht.« Neve warf William einen finsteren Blick zu. »Ich kenne Will schon ewig, und du bist seine Verlobte, also betrachte ich dich als meine Freundin. Wir kennen uns zwar noch nicht so gut, aber das lässt sich ja ändern.«

Amy nickte. »Das wäre schön.«

»Finde ich auch.« Neve stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie es ernst meinte. Sie empfand Mitleid mit Amy, die die sonnige US-Westküste hinter sich gelassen hatte, um in eine englische Provinzstadt zu ziehen, in der sie niemanden kannte außer William. »Warwick ist nur zwei Zugstunden von London entfernt.«

»Das ist sehr nett von dir«, sagte William, doch es klang nicht so, als wäre er sonderlich erbaut über die Aussicht, dass sie womöglich dicke Freundinnen werden würden.

»Also, du hast doch bestimmt einen Freund«, beharrte Amy, und William seufzte. »Will hat immer davon geschwärmt, wie klug du bist, aber er hat nie erwähnt, dass du auch so toll aussiehst. Ich meine, ich habe Bilder von dir gesehen, aber du … du hast dich total verändert.«

»Amy …« William seufzte erneut, was ihm ein Achselzucken und einen gekränkten Blick eintrug.

»Ja, ich hab ziemlich abgenommen, seit William mich zuletzt gesehen hat«, sagte Neve, und es schwang kein Funken Stolz in ihrer Stimme mit. »Das sollte meine Überraschung sein.«

»Ja, nun … Es steht dir«, sagte William verlegen, denn er wollte nicht akzeptieren, dass sich die Neve, die er gekannt hatte, in dieses fremde, toll aussehende Mädchen verwandelt hatte, das war Neve nun klar. Wenn er sie je geliebt hatte, und sei es nur ein ganz kleines bisschen, dann bloß wegen ihrer Klugheit und ihrer sklavischen Verehrung seiner Person. Die Tatsache, dass sie mehr zu bieten hatte, dass sie ein sexuelles Wesen war, musste für ihn genauso schockierend sein wie für Neve die Entdeckung, dass sie ihn nicht liebte, und dass er, selbst wenn sie es täte, ohnehin eine andere zu heiraten gedachte.

Es war alles so unglaublich verzwickt und peinlich, dass sie sich am liebsten unter dem Tisch verkrochen hätte. Stattdessen lächelte sie dümmlich, während Amy kicherte und William mit einem etwas überzogenen Grinsen jeweils eine ihrer Hände ergriff und sagte: »Tja, ist das nicht toll? Endlich lernen sich die zwei wichtigsten Frauen meines Lebens kennen.«

Amy und Neve murmelten etwas Zustimmendes, und Neve fragte sich, wie lange sie dieses ganze Theater noch aushalten würde. Das war alles so …

»Jetzt weiß ich noch immer nicht, ob du einen Freund hast, Neve«, sagte Amy, wohl eher, um die peinliche Gesprächspause zu füllen, denn aus wirklichem Interesse. Zum Glück hatte sich Neve eine Antwort zurechtgelegt, wenngleich sie bislang angenommen hatte, dass ihr William diese Frage stellen würde. Er sollte wissen, dass sie nicht mehr das unerfahrene, dicke Mädchen von vor drei Jahren war, sondern eine Frau von Welt.

Doch statt ganz lässig und unbekümmert zu antworten, wie sie es sich vorgenommen hatte, musste sie schlucken, weil sie plötzlich einen Kloß im Hals hatte. »Ja, ich hatte eine Zeitlang einen Freund, aber wir haben uns getrennt.«

»Wie schade«, flötete Amy. »Hatte er Beziehungsangst?«

Neve schüttelte den Kopf und versuchte, sich zusammenzureißen. Allmählich wurde ihr alles zu viel – die ganze Aufregung, die Enttäuschung, das Wissen, dass sie die Causa William ad acta legen musste, und vor allem die Sehnsucht nach Max.

»Es war nur meine Schuld«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich habe alles kaputt gemacht, und er hat furchtbare Dinge zu mir gesagt, und ich habe sie alle verdient.«

Sie blieb noch eine Stunde, trank noch ein Glas Wein, während William immer wieder unauffällig auf die Uhr sah und Amy sich auf die Unterlippe biss und ihm gequälte Blicke zuwarf, während Neve von Max erzählte. Sie vermied es wohlweislich, den Begriff Pfannkuchenbeziehung in den Mund zu nehmen, aber es gab auch so genügend zu berichten – was sie alles falsch gemacht hatte und wie sehr sie Max vermisste.

Irgendwann bemerkte sie, dass William sie mit jener warmherzigen, zärtlichen Miene betrachtete, die ihr so vertraut war, und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Was sie für Zuneigung gehalten hatte, war Mitleid, sonst nichts. Und da fing sie an zu weinen.

Irgendwann behauptete er dann, er hätte für sich und Amy einen Tisch in einem Restaurant in Fulham reserviert, was ganz offensichtlich eine Lüge war, denn er lief dabei rot an und zupfte an seinem Hemdkragen herum, und Amy sagte: »Ich dachte, wir verbringen den Abend bei dir zu Hause.« Tja, Neve konnte ihn nur zu gut verstehen.

Mittlerweile waren ihre Tränen versiegt, und sie hatte einen Schluckauf, als sie zu dritt nach unten gingen. »Sollen wir dich noch über die Brücke bis zur Haltestelle Embankment bringen, oder ist Waterloo auch okay?«, fragte William, während sich Amy bei Neve unterhakte.

»Ich muss mit dem Taxi fahren«, schniefte Neve. »Ich habe Klebeband auf den Schuhsohlen.«

Sie wusste nicht, bei wem von ihnen die Erleichterung am größten war, als sie endlich auf der Rückbank eines schwarzen Taxis saß und über die Themse zurück in den Norden fuhr.

Der Fahrer war äußerst gesprächig und redete die ganze Zeit nur über die miese Leistung von Arsenal in der vergangenen Saison. Wahrscheinlich brach sie nur deshalb erneut in Tränen aus, damit er endlich den Schnabel hielt.

»Schlimme Trennung? Er ist es nicht wert.«

Und ob er das war. Max war jede einzelne Träne wert, dachte sie, als sie in die Stroud Green Road einbogen. Durch den Tränenschleier hindurch sah sie draußen den Perückenladen und die Leichenbestattungsfirma vorbeigleiten, und dann die tröstliche Leuchtreklame von Tesco.

»Lassen Sie mich gleich hier raus, bitte!«, rief sie.

Sie legte vier, fünf Schritte in ihren mit Klebeband versehenen Sandalen zurück, deren Lederriemchen ihr ins Fleisch schnitten, dann streifte sie die Dinger ab und marschierte barfuß in den Supermarkt.

Der Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang musterte sie mit schmalen Augen, als sie sich einen Einkaufskorb schnappte, aber inzwischen war ihr alles egal. In ihr gähnte ein riesiges Loch, und sie kannte nur einen Weg, um es zu stopfen, denn nun, da sie fast ihre Traum-Kleidergröße erreicht hatte, ging es ihr schlechter denn je.

Als sie noch dick gewesen war, hatte ihr Fett sie vor der Welt beschützt. Die Leute hatten nicht sie gesehen, sondern nur ihren Körper, und sie hatten sie für dumm und faul gehalten. Es ist einfach, Erwartungen zu übertreffen, die von vornherein nicht besonders hoch sind.

Ihr Fett war ihre Carte blanche gewesen, eine praktische Ausrede dafür, dass sie mal wieder eine Jobabsage bekommen hatte oder dass sie nie einen Freund gehabt hatte. Eine Rechtfertigung für all ihre Bruchlandungen, Misserfolge und Zurückweisungen. Doch jetzt, wo das Fett nicht mehr da war, konnte sie sich nicht mehr dahinter verstecken. Jetzt war sie das Problem. Mit Körpergröße 58 hatte sie sich sicher und behütet gefühlt. In diesem Augenblick hätte sie alles für diesen Schutzpanzer gegeben. Alles.