Epilog
Ein Jahr später
Miranda lobte sich selbst. Das Haus in Glencolmcille sah großartig aus. Sie war den ganzen Tag über beschäftigt gewesen, hatte bunte Lampions in die Bäume gehängt, im Haus Blumen arrangiert und Kühlschrank und Eisschrank mit Vorräten bestückt.
Es war kühl, sie zündete das Feuer im Kamin an und stellte überall Kerzen auf. Sie würde sie aber erst anzünden, wenn sie die Autos hörte. Sie wollten alle gegen sieben Uhr kommen. Mit drei Wagen.
Da fiel ihr etwas ein. Die Betten waren noch nicht fertig. Miranda lief treppauf und treppab, die Arme voller Bettwäsche. Wie hatte Juliet das bloß all die Jahre bewältigt? Miranda machte das erst einen Tag und war schon erschöpft.
Eine Stunde später war alles fertig. Der Esstisch war gedeckt. Das Abendessen – ein reichhaltiges, würziges Bœuf Bourguignon – stand im Ofen. Natürlich hatte sie gemogelt. Sie hatte alles fertig zubereitet in Donegal gekauft und auf einer Kiste Eis durch die Lande gefahren. Sie hatte in Killybegs frischen Fisch gekauft. Käse aus der Region zum Nachtisch. Der Vorrat an Wein und Champagner sollte eigentlich eine Woche lang reichen. Aber sie würden die Flaschen wahrscheinlich sehr viel schneller leeren.
Sie hatte alle vorgewarnt. »Es kann sein, dass die Sonne nicht einen einzigen Tag zum Vorschein kommt, obwohl es mitten im Sommer ist. Es kann sein, dass es die ganze Zeit Bindfäden regnet.«
Alle hatten entgegnet, dass sie doch nicht wegen des Wetters kämen. Niemand kam nach Irland des Wetters wegen. Sie kamen wegen der Landschaft, der Atmosphäre und um dieses wunderliche Haus zu sehen, von dem ihnen Miranda seit Jahren erzählte.
Sie würden zu sechst kommen. George aus Griechenland. Zwei Freunde aus London. Ein Freund aus Barcelona, einer aus Sydney. Und ihr neuer Freund aus Hongkong. Er war Hotelmanager. Die Beziehung war noch sehr jung, aber es sah recht vielversprechend aus.
Ihre Schwestern waren sehr erstaunt gewesen, als Miranda angerufen und gefragt hatte, ob sie das Haus in der letzten Juli-Woche haben könnte. Ein halbes Jahr zuvor hatten alle entschieden, in diesem Juli die Weihnachtstradition nicht aufrechtzuerhalten. Sie hatten alle zu viele Verpflichtungen. Besonders Clementine. Aber dass ausgerechnet Miranda die Tradition dann doch fortführen würde, hatte niemand erwartet.
»Ich tue das doch nicht für mich, sondern für meine Freunde«, hatte sie gesagt. »Sie fanden das immer so kurios.«
Sie hörte das erste Auto. Die ersten Gäste. Dahinter der zweite Wagen. Fantastisch, gleich jede Menge Trubel. Miranda machte schnell die Kerzen an, lief zum Kühlschrank und öffnete die erste Flasche Champagner. Als die Autos in die Auffahrt einbogen, stand Miranda vor dem Haus, mit einem Tablett voller Gläser und einem breiten Lächeln.
Das ist das wahre Leben, dachte Miranda, als ihre Freunde hupten und winkten. Freunde, Festmahle, Flirten und Feiern.
Und Familie natürlich. Nur nicht immer.

Eliza versuchte, nicht allzu offensichtlich auf die Uhr zu schauen. Ihr Gegenüber war eine ihrer schwierigsten Klientinnen. Katherine kam nun seit über einem Jahr zu ihr, aber keiner von Elizas praktischen Vorschlägen hatte gefruchtet oder Katherine geholfen, ihre Ziele neu zu definieren. Sie kam einmal im Monat und es änderte sich absolut nichts.
»… also habe ich meinem Sohn gesagt, und das sage ich ihm ständig, wenn er nicht endlich diese Faxen sein lässt, dann werde ich …«
Eliza dachte an das Abendessen vom Vortag. Sie hatte sich mit Mark in einer Weinbar am Strand von St. Kilda getroffen. Er hatte ihr etwas Erfreuliches zu erzählen. Die Trennung stand bevor, noch dazu verlief sie freundschaftlich. Seine Frau war endlich bereit, die Ehe aufzulösen, denn sie war seit Jahren nicht mehr glücklich. Eliza hatte über Marks Gesichtsausdruck beinahe lachen müssen.
»Du wirkst nicht gerade begeistert.«
»Ich dachte, ich hätte wirklich alles getan, um sie glücklich zu machen.«
»Gehört dazu auch deine jahrelange Affäre mit mir?«
Er hatte sie beschämt angesehen.
Sie wollten es langsam angehen lassen. Eliza hatte ihm nicht angeboten, bei ihr einzuziehen. Er hatte es auch nicht vorgeschlagen. Er wollte sich eine eigene Wohnung suchen. Sie hatte gesagt, sie freute sich darauf, ihn dort zu besuchen.
»Das wird vieles für uns ändern, Eliza, oder?«, hatte er gesagt. Er hatte nervös geklungen. Es würde anders. Sie hoffte nur, es würde nicht zu alltäglich. Sie wollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um das zu vermeiden.
Katherine redete unentwegt. »Und dann hat mein Mann mir vorgeworfen, ich würde nicht abnehmen, sondern zunehmen, und da habe ich gesagt …«
»Bla, bla, bla«, sagte Eliza.
»Verzeihung?« Die Frau sah sie an. »Haben Sie gerade ›bla, bla, bla‹ gesagt?«
Eliza sah einen Augenblick lang entsetzt aus. »Ich weiß nicht, habe ich das?«
»Ja, allerdings.«
»Wie unhöflich.«
»Ja, in der Tat.«
»Warum sollte ich Ihrer Meinung nach so etwas sagen?«
Die Frau rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Ich weiß nicht.«
»Ich muss ja wohl einen Grund gehabt haben. Können Sie sich einen denken?«
»Weil Sie finden, dass ich mich heute ranhalte …?«
»Das könnte ein Grund sein. Ja. Fällt Ihnen noch einer ein?«
»Sie haben wahrscheinlich den Eindruck, dass ich bei jedem Treffen hier den gleichen Sermon herunterleiere.«
»Ja, das könnte ein weiterer Grund sein.«
Die Frau setzte sich aufrecht hin. »Sehen Sie das wirklich so? Dass ich nichts von dem umsetze, was Sie mir vorschlagen? Dass ich immer wiederkomme und jedes Mal nur ›bla, bla, bla‹ rede?«
»Sie nicht?«
Ein langes, unangenehmes Schweigen. Katherine starrte vor sich hin. Eliza zuckte nicht mit der Wimper.
Die Frau setzte sich noch ein wenig aufrechter hin. »Doch, irgendwie schon. Aber das wird sich jetzt ändern. Sie haben recht, Eliza. Ich habe mich gehen lassen. Aber von jetzt an wird sich etwas ändern. Ich hatte sogar vor, nicht mehr zu Ihnen zu kommen, denn Sie haben mir ja doch nicht geholfen. Aber jetzt. Von jetzt an komme ich alle vierzehn Tage. Und ich werde allen meinen Freundinnen raten, auch zu Ihnen zu gehen. Ich habe jemanden gebraucht, der mich einmal ordentlich wachrüttelt, und das ist Ihnen gelungen. Sie sind unglaublich.«
Mist, dachte Eliza.

Juliet stand nervös am Bühnenrand. Myles zwinkerte ihr von gegenüber zu. Seine Lippen formten Worte.
Was?, fragte Juliet lautlos zurück.
Er sagte es erneut.
Sie verstand es noch immer nicht.
Er nahm einen Zettel, schrieb etwas mit einem schwarzen Marker darauf und hielt das Blatt hoch. Sie konnte es gerade noch entziffern: Du wirst das ganz TOLL machen!
Danke, sagte sie lautlos. Sie hatte gerade noch Zeit, ihren Rock zu glätten, da stellte der Conferencier sie schon vor. Hoffentlich bemerkte niemand, dass ihre Beine zitterten.
Es war der Gala-Abend anlässlich ihres Wettbewerbs um den Titel als bester Jungkoch. Sie hatten es zehn Monate lang vorbereitet. Anfangs war es nur eine vage Idee, ein Keimling gewesen, der sich in ihre Köpfe gesetzt hatte, nachdem sie von Donegal zurückgekehrt waren. In dieser Zeit hatten sie mehr miteinander gesprochen als in den letzten Jahren. Sie hatten beide auch sehr viel geweint. Er hatte ihr gesagt, dass er sich von ihr verlassen fühlte. Sie hatte ihm erklärt, was für eine Leere in ihrem Leben war und dass nichts diese Leere füllen konnte. Sie wollte sich um etwas kümmern, etwas nähren, etwas wachsen und gedeihen sehen. Sie hatte immer angenommen, ein Kind würde diesen Wunsch erfüllen. Maggie hatte dies eine Weile getan, aber nun war sie erwachsen, unabhängig und brauchte ihre Tanten nicht mehr. Juliet glaubte, dass das mit dazu beigetragen hatte, dass sie sich von Myles trennen wollte. Und ihr fünfzigster Geburtstag.
»Vielleicht brauchst du einfach noch mehr Maggies«, hatte Myles gesagt. »Maggie-Jungs und Maggie-Mädchen, um die sich jemand kümmern muss.«
Sie hatten viel darüber gesprochen, mit Ideen gespielt. Zunächst hatten sie erwogen, ein Mentor-Programm für die vielen jungen Kellner und Kellnerinnen zu entwickeln, die in ihren Cafés arbeiteten. Myles hatte schließlich vorgeschlagen, mehr zu tun. »Du bist so eine begabte Köchin, Juliet. Darin bist du unschlagbar. Warum machen wir nicht etwas, womit wir jungen Köchen ein wenig auf die Sprünge helfen können?«
Sie waren es ganz offiziell angegangen und hatten es in all ihren Cafés angekündigt. Juliet hatte mit Lokalzeitungen und Radiostationen gesprochen. Auch in einer überregionalen Zeitung war ein Bericht über sie erschienen, der sie als leidenschaftliche Verfechterin guter Küche und gesunder Ernährung beschrieb. Als jemand, der an die Befähigung und Tüchtigkeit der Jugend glaubte.
Über hundert junge Leute hatten sich um die zwölf Stipendien beworben. Sie hatte sich mit allen getroffen und die unterschiedlichsten Nationalitäten und Persönlichkeiten erlebt, vom Fünfzehnjährigen, der gerade die Schule beendet hatte, bis zum Vierundzwanzigjährigen, der die Altersgrenze erreicht hatte. Juliet war fröhlichen, launischen, mürrischen Jugendlichen begegnet, solchen, die von Natur aus begabt waren, und solchen, die etwas Ermutigung brauchten. Juliet hatte zwölf Kandidaten ausgesucht und versucht, das Beste aus ihnen herauszuholen. Drei waren während der ersten Wochen gleich wieder abgesprungen. Juliet hatte erst lernen müssen, sich deshalb keine Vorwürfe zu machen. Sie nahm drei neue Bewerber ins Programm. Sie reiste durchs ganze Land, um in ihren Cafés die entsprechenden Workshops abzuhalten. Die Stipendiaten wurden ein halbes Jahr lang in ihrer Arbeit bewertet. Auf den Gewinner, der nun verkündet werden sollte, wartete eine Stelle als ihr persönlicher Assistent und langfristig die Geschäftsführung eines der Cafés. Die anderen elf wurden weiter ausgebildet und bekamen dann Vollzeitstellen in den anderen Cafés, in Großbritannien oder Australien.
Juliet war sehr realistisch geblieben. Sie sah in ihnen nicht ihre eigenen Kinder. Sie war nicht die Mutter und Myles nicht der Vater. Aber sie war stolz auf sie, sie glaubte an sie und wollte, dass sie erfolgreich und glücklich wurden. Und wenn das alles war, was ihr an Mutterglück vergönnt war, dann war es eben so.
Sie sah in die Menge, dann kurz zu Myles, der am Bühnenrand stand, und spürte förmlich seine Liebe und seinen Zuspruch. Als sie den Umschlag öffnete, zitterten ihre Hände nur ein klein wenig.
Sie lächelte. »Und der allererste Gewinner unserer Auszeichnung als bester Jungkoch ist …«

Clementine lachte. Da war sie bis ans Ende der Welt gereist, lebte in einer der Gemeinschaften, die am weitesten von der übrigen Zivilisation entfernt waren, und was musste sie feststellen? Sie feierten ein Juli-Weihnachtsfest.
Maggie hatte sich darüber köstlich amüsiert. Clementine hatte ihr eine E-Mail geschrieben.
Hier sind alle noch schlimmer als wir. Hier verkleiden sich alle. Spielen abwechselnd den Weihnachtsmann. Wenigstens das hat uns Leo erspart.

Verkleiden?, hatte Maggie zurückgeschrieben. Du etwa auch?? Als was??

Clementines Antwort war sehr knapp. Ich schicke Dir Bilder. Es lässt sich nicht in Worte fassen.
Sie war jetzt seit neun Monaten Down South, fünf Monate lagen noch vor ihr. Die Erforschung der Brutgewohnheiten des Adélie-Pinguins ging gut voran, wenn auch langsam.
Sie sah auf die Uhr und rechnete schnell nach. Maggie müsste jeden Augenblick landen. Clementine wusste, wie gerne ihre Tochter eine Willkommens-E-Mail bekam. Sie schrieb schnell eine Nachricht und schloss mit allen lieben und guten Wünschen für den nächsten Tag. Sie hatte die E-Mail gerade abgeschickt, als es an der Tür klopfte. »Clementine? Bist du so weit? Wir gehen rüber.«
»Komme!«, rief sie. Sie setzte ihr Stoffgeweih auf, prüfte noch einmal, ob sie den Rentieranzug richtig herum anhatte, und verließ das Zimmer.

Leo war furchtbar aufgeregt. Er hatte es mit seiner Rasenmähererfindung gut getroffen. Sein Zapfsäulen-Gerät war weltweit zum Einsatz gekommen. Aber das hier hatte noch größeres Potential. Das war die beste Erfindung von allen. Und sie sollte einen Namen tragen. Aber keinen beliebigen Namen, sondern seinen. »Der Faraday’sche Reiniger«. Kurz und bündig.
Die Idee hatte ihn nicht mehr losgelassen, seit er damals vor über einem Jahr die Putzfrau am Flughafen gesehen hatte. Er war seither in vielen Flughäfen gewesen, und die Situation war immer und überall die gleiche. Es war offensichtlich, die Maschinen hatten die falsche Form.
Er hatte gründlich recherchiert und Hersteller besucht, um jedes industrielle Reinigungsgerät auf dem Markt zu sichten. Er hatte sich als Reinigungsunternehmer ausgegeben, der seine Bestände aufstocken wollte. Auf diesem Weg hatte er viele Informationen erhalten. Er hatte Zeichnungen von alternativen Modellen entworfen, er war in Fabriken gegangen, die auf Kunststoffgehäuse, Reinigungsbürsten und Schwenkrollen spezialisiert waren, er hatte einen Prototyp entwickelt, der sich als Katastrophe entpuppt hatte, denn Leo hatte die Bürstenlänge falsch berechnet. Das Gerät machte mehr Dreck, als es beseitigte. Auch der Motor war nicht einmal ansatzweise stark genug.
Leo hatte von neuem begonnen. Er wollte kleiner anfangen. Der erste Prototyp hatte ihn viel Geld gekostet. Er baute eine Miniversion. Wenn es im kleinen Maßstab funktionieren würde, dann auch im Großen.
Und so war es. Es funktionierte sogar besser als erwartet. Leo lachte und machte sich daran, seinen Schreibtisch herzurichten. Er hatte sich vor einigen Monaten ein voll ausgestattetes Büro im Osten Londons gemietet. Die Entwicklung eines solchen Produkts war in England viel sinnvoller. Die Bevölkerung war größer, die Produktionsmöglichkeiten besser.
Er baute auf seinem Schreibtisch einige Hindernisse auf. Einen Stapel Bücher, das Telefon und das Faxgerät. Der Mini-Faraday’sche-Reiniger putzte mühelos außen herum, die Form passte perfekt in die Zwischenräume, die kleine Bürste darunter hob und drehte sich, wo nötig.
»Auch wenn ich mich selbst loben muss«, sagte er laut, »Leo Faraday, du bist ein Genie.«
Das war der erste Schritt. Nun wurde es ernst. Er musste herausfinden, ob seine Erfindung mehr konnte, als einen Schreibtisch zu putzen. Die Erprobungsphase stand an. Sein Gerät musste unter erschwerten Bedingungen funktionieren. Er hatte zunächst vorgehabt, Krankenhäuser und Hotels anzusprechen, bis ihm aufgegangen war, wie das wirken musste. Ein alter Mann mit einem Mini-Reinigungsgerät unter dem Arm? Eine Lachnummer.
Dann war ihm in der Nacht zuvor eine Eingebung gekommen. Im Zweifelsfall helfen Experten. Er musste mit den Endbenutzern seines Produktes sprechen, um im Jargon zu bleiben. Er hatte die Akte lange suchen müssen, aber schließlich hatte er sie gefunden. Das einzige Problem war, dass sie in Dublin ansässig waren, aber da konnte er ja hinfliegen.
Außerdem könnte er dann im Anschluss zu Miranda fahren! Das wäre bestimmt eine tolle Überraschung. Er war sehr glücklich, dass sie das Haus in Donegal nutzte. Selbst wenn die anderen sich dieses Jahr alle dagegen entschieden hatten – und er hoffte, das Juli-Weihnachtsfest würde nur in diesem Jahr ausfallen -, gefiel ihm der Gedanke sehr, dass trotzdem gefeiert wurde, dass Tessas wundervolle Idee weiterlebte. Irland war im Moment sehr en vogue, hatte ihm Miranda erklärt. Viel mehr als Griechenland oder Spanien. Sie hatte einigen Freunden sogar absagen müssen, die alle in ihr rustikales keltisches Refugium kommen wollten.
Er rückte das Telefon wieder in die Mitte seines makellos sauberen Schreibtischs und wählte. Null null, 353 für Irland, 1 für Dublin. Es klingelte.
Eine Frau ging an den Apparat. »Schönen guten Tag, O’Toole Reinigungsservice. Was kann ich für Sie tun?«
»Oh, guten Tag. Viel, hoffe ich. Mein Name ist Leo Faraday, und ich bin Erfinder. Das klingt jetzt vielleicht ein wenig seltsam …« Er sprach rasch und trug sein Anliegen präzise vor. »Ich bin nun in der Phase, in der einige Testläufe durch Profis nötig werden. Letztes Jahr hatte ich mehrmals« – er gestattete sich eine kleine Notlüge – »mit Mrs. Sally O’Toole zu tun. Ist sie zufällig im Haus? Ob ich sie wohl kurz sprechen könnte?«
»Es tut mir leid, Mr. Farrelly …«
»Faraday.«
»Verzeihung, Mr. Faraday, aber Mrs. und Mr. O’Toole sind momentan beide verreist. Ich kann gerne eine Nachricht hinterlassen, damit sie sich nach ihrer Rückkehr bei Ihnen melden.«
»Wann wird das sein?«
Frühestens in vierzehn Tagen, sagte sie. Leo dachte nach. Nein, so lange wollte er nicht warten. Er würde sich an ein anderes Reinigungsunternehmen wenden. Eines in Großbritannien. Vielleicht wäre das ohnehin sinnvoller.
»Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen, Sir?«
Er zögerte, schaute auf die Akte, die Geschäftsinformationen, auf das Bild der Frau, die Sadie so unheimlich ähnlich sah. Die Broschüren, in denen es hieß, dies wäre die erfolgreichste Firma ihrer Art. Aber er hatte keine Geduld. Er wollte jetzt mit jemandem sprechen, nicht erst in vierzehn Tagen.
»Nein, aber haben Sie recht herzlichen Dank. Auf Wiederhören.«
Er legte auf, räumte die Akte beiseite und nahm sich die Gelben Seiten vor.

Sadie lachte über Larrys Gesichtsausdruck. Sie waren jetzt seit vier Tagen dort, und er zeigte sich noch immer vollkommen unbeeindruckt von Landschaft und Aussicht.
»Wo ist der Asphalt? Wo sind die Autos? Und was ist das grüne Zeug da drüben?«
»So etwas nennt sich Gras.«
»Und das wässrige Zeug? Hinter dem sandigen Zeug hier?« Sadie lachte. »Das nennt sich Meer. Und das sandige Zeug hier ist ein Strand. Kinder lieben übrigens beides. Und deshalb sind wir ja schließlich hier, wie du weißt.«
»Constance merkt doch nicht, ob sie in einem Sandkasten oder einem Haufen Katzenstreu sitzt. Mach sie doch nicht für diesen entsetzlichen Urlaub verantwortlich.«
Aus dem Liegestuhl unter dem Sonnenschirm einige Meter entfernt kam ein weiteres Lachen. »Nun hör auf zu motzen, Dad. Ich weiß doch, dass du es toll findest. Du tust bloß so. Ich glaube sogar, am liebsten würde er hierherziehen, meinst du nicht auch, Mum?«
Das Haus war wunderschön, frisch renoviert, mit Blick über See und die Bucht, an der Südwestküste der Grafschaft Kerry, am Südzipfel Irlands. Es hätte keinen Sinn gemacht, die ersten gemeinsamen Sommerferien in Spanien oder Frankreich zu verbringen und alles dorthin zu schleppen. Sie hatten so viel mehr Gepäck. Sadie hatte ganz vergessen, wie viel man für ein Baby benötigte. Mit ihren zehn Monaten war Constance ein liebes Kind, fröhlich wie ihre Mutter und ihr Großvater, aber sie machte noch immer sehr viel Arbeit. Ein weiterer Grund, sich im Urlaub selbst zu versorgen. Die Waschmaschine lief ununterbrochen.
Sadie hatte entschieden hierherzufahren. Sie hatte einen Nachmittag an ihrem Computer verbracht und nach Ferienhäusern gesucht. Es war perfekt, nur vier Stunden von Dublin entfernt. Lorcan, Maudies Partner, würde eine ganze Woche zu ihnen stoßen, aber es war nah genug, dass er auch an den Wochenenden kommen konnte. Außerdem lag das Haus am entgegengesetzten Ende von Donegal.
Der Hauptgrund für diesen Urlaub aber war, dass sie Erholung suchten. Larry war gezwungen worden, ein wenig kürzerzutreten, denn ein halbes Jahr zuvor hatte er einen leichten Herzinfarkt gehabt. Es war eine der entsetzlichsten Nächte in Sadies Leben gewesen. Nun hieß es, mehr Vergnügen und weniger Arbeit.
Larry hatte nicht wirklich überredet werden müssen. Er hatte selbst Angst bekommen. »Ich möchte nicht, dass meine Enkelin ohne ihren Großvater aufwächst.«
Seine Worte hatten ihr einen Stich gegeben, doch Sadie hatte ihn ignoriert. Dazu hatte sie sich erzogen. Besonders im Laufe des letzten Jahres, als sie häufig darüber nachgedacht hatte, wie einfach es wäre, wieder Anschluss an ihre eigene Familie zu suchen. Hatte sie an jenem Tag die richtige Entscheidung getroffen? Sie wollte es glauben. Nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch wegen Larry, Maudie, Lorcan und Constance. Denn das gehörte dazu, wenn man Familie hatte. Einzusehen, dass jede Entscheidung nicht nur auf sie selbst, sondern auf alle Auswirkungen hätte. Welleneffekt oder Flutwelle – was es auch wäre, sie würde es gar nicht erst so weit kommen lassen. Sie würde Maggie nach wie vor schreiben und sich immer auf ihre Briefe freuen. Aber mehr als das könnte sie niemals tun. Sie hatte seit ihrem Treffen mit Maggie nur eines anders gemacht. Sie hatte einen neuen Satz auf die Geburtstagskarte geschrieben: »Bitte grüße Leo und die anderen herzlich von mir.« Es war ihr ernst damit. Sie hatte daran denken müssen, dass Leo sich die Mühe gemacht hatte, einen Privatdetektiv anzuheuern. Sie hatte sich an all die Briefe erinnert, die sie anfangs von ihren Schwestern erhalten hatte. Aber sie wusste, es konnte kein Wiedersehen geben. Sie konnte ihnen lediglich einen Gruß senden.
Sie sah zu ihrem Ehemann, der neben ihr in seinem Liegestuhl lag, mit einem albernen Hut auf dem Kopf. Er balancierte Constance auf den Knien und sang ihr ein Kauderwelsch-Lied vor, das sie zum Lachen brachte. Maudie stand summend in der Küche und machte für sie alle das Mittagessen.
Man konnte nicht alles haben. Aber fast alles.

Maggie nahm ihren Pass von einer Hand in die andere. Sie stand schon fast eine Stunde vor der Passkontrolle. Zur Ablenkung beobachtete sie die Leute ringsum, zählte sie die Wartenden in den Schlangen, die Anzahl der Schalter, die Anzahl der Mitarbeiter. Dann teilte sie die Summen durcheinander. Sie zählte die Poster mit den Warnhinweisen. Die Anzahl der Personen mit rotem, schwarzem und blondem Haar.
Sie zählte die Minuten, bis sie Gabriel endlich wiedersehen würde.
»Treten Sie vor, Ma’am.«
Sie ging zum Schalter und zeigte ihren Pass. Ihr Herz raste, obwohl all ihre Dokumente in Ordnung waren. Dora, Gabriels Mutter, hatte ihr geholfen. Doch nicht nur bei der Aufenthaltsgenehmigung, sie hatte ihr vor allem einen Job besorgt.
Dora hatte ihnen eine Nachricht geschickt, als sie gerade in Italien in einem Café am Meer gesessen hatten. Halbzeit auf ihrer sechsmonatigen Reise. Sie hatten in London begonnen, wo sie Leo besucht hatten, danach waren sie in Manchester bei Juliet und Myles gewesen. Von dort aus waren sie nach Paris geflogen. Danach waren sie aufs Geratewohl durch Europa gereist. Jeder mit einem Rucksack. Sie hatten auf Bahnhöfen auf die Anzeigetafeln geschaut und sich spontan ein Ziel ausgesucht. Wenn es ihnen irgendwo gefiel, waren sie mehrere Tage geblieben. Wenn nicht, wenigstens zwei Tage, damit sie ihren ersten Eindruck vielleicht doch noch revidieren konnten. Das waren die einzigen Regeln, die sie sich gesetzt hatten.
Doras Textnachricht war kurz und bündig gewesen. Toller Job für Maggie. Meldet Euch.
Eine Freundin von Dora, eine wohlhabende New Yorkerin, hatte eine philanthropische Stiftung gegründet. Sie war großherzig und steckte voller Ideen, aber sie hatte keinerlei kaufmännische Erfahrung. Sie hatte Dora gesagt, dass sie jemanden mit Verstand, einem Gewissen und einem Faible für Zahlen bräuchte. Aber so etwas gibt es wohl nicht, oder?, hatte sie geseufzt.
O doch, und ob, hatte Dora gesagt.
Maggie hatte mit Gabriel darüber gesprochen. Sie hatte Doras Freundin von einer Telefonzelle an der Promenade aus angerufen, und sie hatten eine Stunde lang miteinander geredet. Maggie hatte sich entschieden, noch bevor sie auflegte. Sie würde es tun.
Daraufhin hatten sie ihre Pläne geändert. Sie hatten vorgehabt, nach Tasmanien zu Clementine zu fliegen, bevor sie in die Antarktis ging. Sie hatte ihre Reise dann doch nicht verschoben, und Maggie hatte sie auch nicht darum bitten müssen. Außerdem wollte sie, dass Clementine ihre Forschungen weiter betrieb. Schließlich gab es E-Mails. Sie waren nicht vollständig voneinander abgeschnitten. Seit Clementine in der Antarktis war, schrieben sie sich sogar viel häufiger.
Außerdem würde Maggie das bald alles mit eigenen Augen sehen. Sie hatten vor, in die Antarktis zu fliegen. Die Tickets für einen der wenigen Touristenflüge waren schon gebucht. Sie konnten einen Abend mit ihr verbringen. Eine großartige Idee, hatte Miranda gemeint. Clementine in ihrem natürlichen Habitat.
»Alles in Ordnung, Ma’am, danke.«
Gabriel wartete draußen auf sie. Er war mit seinem amerikanischen Pass viel schneller durch die Kontrollen gekommen.
»Willkommen in New York«, sagte er und küsste sie, als hätten sie sich seit Monaten, und nicht nur Minuten, nicht mehr gesehen. »Ich hatte schon befürchtet, dass sie dich nicht reinlassen würden.«
»Ich habe mir auch schon Sorgen gemacht.«
»Komm, gib her.« Sie gab ihm ihre Tasche. Dabei blieb ein loser Faden an ihrem Ring hängen. Einem ihrer Ringe, genauer gesagt. Maggie und Gabriel beugten sich nach unten und versuchten, den Ring zu befreien.
»Mein Fehler, was muss ich auch so angeben«, sagte sie.
»Mein Fehler, was bin ich auch so ein großzügiger Verlobter«, gab er lächelnd zurück.
Sie trug seit einem halben Jahr die Verlobungsringe. Schlichte, zarte Silberreife – einer mit einem winzigen Brillanten, der andere mit einem kleinen Smaragd. Er hatte sie ihr wenige Wochen vor ihrer gemeinsamen Reise gegeben. Maggie war einen Monat davor aus dem Apartment von Mirandas Freundin ausgezogen, seitdem lebte sie mit Gabriel zusammen. Sein Arzt-Mitbewohner war mit seiner Freundin zusammengezogen, sein Schriftsteller-Freund nach New Orleans gegangen.
Seit der ersten gemeinsamen Nacht in Gabriels Apartment waren sie ein Liebespaar. Es war alles, was sich Maggie erhofft hatte, und seither war es nur besser geworden. Sie harmonierten sexuell genauso wie intellektuell. Sie genossen lange, faule Tage im Bett ebenso wie lange Gespräche in Bars und Restaurants. Sie waren hungrig nacheinander. Es fühlte sich richtig an. Maggie empfand immer noch eine heiße Freude, wenn sie ihn ansah, und sie empfand weit mehr: Liebe, Sicherheit und Erfüllung. Sie wusste, dass er ebenso empfand, denn er sagte es ihr oft.
Auf dem Rückweg vom Kino waren sie eines Nachts über den Washington Square gekommen. Dabei hatte sich Gabriel daran erinnert, dass Maggie ihm dort etwas versprochen hatte, an dem Abend, als sie sich vor über einem Jahr kennengelernt hatten. Als sie mit ihm gewettet und ihn dazu herausgefordert hatte, in der Öffentlichkeit zu singen.
Maggie hatte protestiert und gesagt, dass sie Schnecken hasste. Gabriel hatte gemeint, das täte ihm zwar sehr leid, aber eine Wette wäre eine Wette. Am Abend darauf hatte er sie in ein vornehmes französisches Restaurant ausgeführt. Sie hatten sich beide schick gemacht, Gabriel im Anzug, Maggie in einem schwarzen Kleid mit einer Kette aus Jettperlen. Die Kellner waren höflich und aufmerksam und legten ein gerade noch erträgliches Maß an Hochnäsigkeit an den Tag.
Die Schnecken, sechs an der Zahl, wurden auf einem speziellen Silberteller serviert.
Maggie sah angewidert nach unten. »Muss ich wirklich?«
»Ich würde sagen, ja. Unsere gesamte Beziehung hängt daran. Es ist alles ein Geben und Nehmen, Maggie. Das weißt du doch.«
Sie nahm die erste mit der kleinen silbernen Gabel. Der Knoblauchgeruch stieg ihr in die Nase. Butter lief ihr über die Finger.
»Ich kann das nicht.«
»Doch, du kannst. Wir können unseren Kindern später nicht erzählen, dass ihr Vater ihrer Mutter deshalb keinen Antrag machen konnte, weil sich ihre Mutter geweigert hat, den dafür nötigen Schritt zu tun.«
Maggie ließ die Schnecke fallen.
»Was für einen Antrag?«
»Der, den ich dir gleich antragen möchte. Man kann einen Antrag doch antragen, oder? Oder ist das schlecht formuliert?«
»Das ist sehr schön formuliert. Ich finde, es klingt großartig.« Sie sah auf ihren Teller und dann wieder zu Gabriel. »Der Antrag hängt davon ab, dass ich das hier esse?«
»Ich fürchte, ja.«
»Wieso?«
»Weil ich die Ringe in zweien der Schneckenhäuser versteckt habe und du sie suchen musst.«
»Die Ringe? Plural?«
»Im Grunde ist das ja schon unsere zweite Verlobung, und da ich dir beim ersten Mal keinen Ring gegeben habe, gleiche ich das jetzt aus.«
»Du hast die Ringe in die Schneckenhäuser getan?«
»Ich nicht. Der Koch.«
»O Gabriel.« Sie schluckte. »Ich bin nicht sicher …«
»Ob du mich heiraten willst?«
»Nein, da bin ich mir ganz sicher. Entschuldige, habe ich noch nicht Ja gesagt?«
»Nun, nein. Aber ich habe dich ja auch noch nicht richtig gefragt.«
»Könntest du das denn nicht jetzt gleich machen? So richtig romantisch? Um die Ringe können wir uns doch später noch kümmern.«
»Ohne Ringe wird das aber nicht sehr romantisch.«
»Romantischer, als wenn ich die Schnecken esse, glaub mir.«
Er schob den Teller beiseite, nahm ihre Hand und fragte sehr feierlich: »Maggie Faraday, würdest du mir bitte die Ehre erweisen, dich ein zweites Mal mit mir zu verloben? Diesmal aber richtig. Und dieses Mal müssen wir dann auch heiraten.«
»Gerne. Das möchte ich schrecklich gerne. Aber weißt du auch wirklich, worauf du dich da einlässt? Ich habe immerhin eine große Familie. Viel zu viele Tanten. Einen irren Großvater …«
»Deshalb heirate ich dich ja. Ihretwegen, nicht deinetwegen.« Er lächelte. »Nein. Ich heirate dich, weil du das Beste bist, was mir im Leben geschehen konnte. Und weil du die Schönste bist, und die Netteste …«
Er führte eine lange Liste von Gründen auf, warum er sie heiraten wollte. Sie nannte eine lange Liste von Gründen, warum sie einwilligte.
Als sie fertig waren, waren die Schnecken kalt.
»Oh, was für eine Schande, aber jetzt kann ich sie wohl kaum essen, oder? Das wäre eine Beleidigung für den Koch.« Sie hob eine hoch und schüttelte sie. Die Butter spritzte über den Tisch.
Gabriel duckte sich. »Was machst du da?«
»Ich suche die Ringe.«
»Dann dreh dich mal um.«
Hinter ihr stand ein Kellner mit einem Tablett. Darauf lagen zwei kleine Schächtelchen. Würdevoll überreichte er sie Gabriel. Ohne Tamtam, ohne kitschige Musik, ohne Luftballons.
»Die sind für dich, Maggie«, sagte Gabriel. »Als Ausdruck meiner tiefen Liebe.«
Sie nahm aus tiefer Liebe an. Sie hatte die Ringe seither nicht mehr abgelegt.
Um sie herum drängten sich immer mehr Menschen, die durch die Passkontrolle kamen. Gabriel gelang es schließlich, den Faden von ihrem Ring zu lösen. Er half ihr, ihren Rucksack wieder anzuziehen. Sie half ihm mit seinem.
»Fertig?«, fragte er.
Sie lächelte. »Fertig.«
Es war Zeit, nach Hause zu fahren.