22
Das Licht war
gedämpft. Im Hintergrund spielte leise Musik. Obwohl das Büro in
Strandnähe lag, hatte keines der Fenster Meerblick. Zum Ausgleich
hatte Eliza den Raum mit Seestücken dekoriert und die Wände in
einem beruhigenden Hellblau gestrichen.
Der Mann ihr
gegenüber suchte nach den richtigen Worten. »Es ist nicht so, als
würde ich sie nicht lieben. Natürlich liebe ich sie.«
»Was also hält Sie
zurück?«
»Die Angst vor der
Verpflichtung.« Er grinste. Dieses Grinsen, dachte Eliza, hatte
bestimmt eine ziemliche Wirkung auf Frauen. »Der Gedanke, dass ich
dann nie mehr im Leben mit einer anderen Frau schlafen
kann.«
Hinter Eliza summte
es leise. »Richard, für diese Woche ist unsere Zeit um. Wenn Sie
weiter darüber sprechen möchten, vereinbaren Sie bitte draußen
einen Termin.«
»Ich danke Ihnen,
Eliza.«
»Gerne.« Sie stand
auf und überspielte das schmerzhafte Zucken, als ihr Bein gegen die
plötzliche Bewegung protestierte.
Sie nutzte die kurze
Pause zwischen ihren Terminen, um ihre E-Mails zu checken. Eine
Nachricht stammte von Leo, von seinem Blackberry
versandt.
Habe gerade mit Juliet gesprochen und gehört, dass Du nicht kommst. Wenn es eine Frage des Geldes ist, musst Du es nur sagen.
Sie schrieb, ohne nachzudenken.
Sie würde die Antwort ohnehin niemals absenden:
Nein, es ist keine Frage des Geldes. Ich will mir nur meine geistige Gesundheit erhalten.
Sollte sie
weiterschreiben?
Ich habe die Juli-Weihnachtsfeste sowieso immer gehasst. Wenn Maggie kommen würde, könnte ich es gerade noch ertragen, aber warum sollte ich mir das sonst antun? Insgesamt sechsundzwanzig Stunden Flugzeit von Australien, dann der Flug von London nach Belfast, die zweistündige Autofahrt, die sieben Nächte in einem unbequemen Bett, noch dazu in einem Zimmer mit klappernden Fenstern, das ungesund viele Essen, weil Juliet nicht aufhören kann zu kochen, die angespannte Atmosphäre, weil Miranda ständig mit ihr im Clinch liegt. Und über alldem schwebt Sadies Geist, doch keiner wagt, sie zu erwähnen; du, der du uns mit deinen Geschichten, dass sich die Auszahlung des großen Jackpots verzögert, am Gängelband hältst, damit wir brav Jahr um Jahr zurückkommen. Das klingt doch wie der zehnte Kreis der Hölle.
Sie war versucht,
die E-Mail abzuschicken. Die sanfte Stimme ihrer Sekretärin, die
sich über die Sprechanlage meldete, hinderte sie daran. Eliza
drückte auf »Entfernen«.
Den zweiten Termin
hatte eine Frau in Elizas Alter, Ende vierzig. Eliza blätterte
durch ihre Akte und bat die Frau zu schildern, was seit ihrem
letzten Termin geschehen war. Hatte sie sich um eine neue Stelle
bemüht? Das Trainingsprogramm begonnen, um, wie geplant, vor ihrem
fünfzigsten Geburtstag zehn Kilo abzunehmen? Aufgehört, ständig
hinter ihrem pubertären Sohn herzuräumen?
Die Frau gab zu,
dass sie nichts von alledem getan hatte.
»Katherine, es ist
Ihre Entscheidung. Es ist Ihr Leben. Sie können die Dinge in
Angriff nehmen oder auch nicht.«
»Manchmal wächst mir
einfach alles über den Kopf.«
War sie Lebenscoach
oder Psychologin? Häufig war es nur eine Gratwanderung. »Deshalb
ist es ja so wichtig, alles in kleine Aufgaben zu unterteilen, die
sich bewältigen lassen.«
»Sie sind mein
großes Vorbild«, sagte die Frau voller Elan. »Sie haben alles.
Unabhängigkeit. Ihr eigenes Unternehmen. Und ich weiß, dass es
schwer für Sie war. Ihre Sekretärin hat mir von Ihrem Unfall
erzählt, dass Sie wieder ganz von vorn anfangen mussten, aber sehen
Sie sich an …«
»Wir sollten über
Sie sprechen, nicht über mich.«
Eliza verließ das
Büro um sechs Uhr. Vorher hatte sie noch eine Unterredung mit ihrer
Sekretärin, bei der sie ihr ruhig, aber nachdrücklich erklärte,
dass ihre Aufgabe darin bestand, Geheimnisse zu bewahren und nicht
zu teilen.
An einer roten Ampel
schaute Eliza auf ihr Handy. Noch immer keine Nachricht. In dem
Moment klingelte es. Sie lächelte. Pünktlich war er
zumindest.
»Eliza.«
»Mark.«
»Passt es dir
jetzt?«
»Bestens«, sagte
Eliza. »Bis gleich also.«
Er war vor ihr da
und schenkte in der Küche schon ein Glas Wein ein. »Wie war dein
Tag?«
»Wird immer besser.
Komm her.«
Sie wusste genau,
was ihm gefiel. Er wusste genau, was ihr gefiel. Langsame Küsse im
Wohnzimmer. Im Flur fielen die Kleider, sie sanken nackt aufs Bett.
Sie bog sich ihm entgegen, spürte das Gewicht seines Körpers auf
ihrem, ließ die Hände über seinen Rücken gleiten, spürte, wie seine
Finger ihre Beine streichelten, immer höher. Hinterher lag sie mit
dem Kopf auf seiner Brust und spielte in Gedanken mit seinem Haar.
Er streichelte ihre Haut, ihren Rücken, ihre Schenkel, er hielt
nicht inne, als sich ihre Haut anders anfühlte, dort, wo nach all
den Jahren die Narben noch sichtbar waren.
Sie machte sich
wegen der Narben schon lange keine Gedanken mehr. Ihm fielen sie
angeblich ohnehin kaum auf. Insgeheim war sie den Narben sogar
dankbar. Ohne den Unfall hätte sie sich niemals mit Mark versöhnt.
Wären sie heute nicht wieder zusammen.
Es war ihnen
gelungen, acht Jahre in Melbourne zu leben, ohne sich über den Weg
zu laufen. Natürlich hatte sie genau gewusst, wo er war und was er
tat, wie auch umgekehrt. Die Fitnessszene in Melbourne war so
klein, dass man sich gegenseitig im Auge behalten konnte. Er hatte
ihr gegenüber natürlich einen gewaltigen Vorsprung und seine Firma
entsprechend ihren früheren Plänen aufgebaut. In den ersten Monaten
waren ihr Zweifel gekommen. Das Feuer der Rache, das sie
angetrieben hatte, ihn zu übertrumpfen, brannte nicht mehr ganz so
lichterloh. Es war viel schwerer, als sie erwartet hatte, in einer
fremden Stadt neu anzufangen und all das Gelernte in die Praxis
umzusetzen.
Sie hatten sich nur
ein einziges Mal gesehen, bei einem brancheninternen Empfang, fünf
Jahre, nachdem sie nach Melbourne gezogen war. Eine Bekannte hatte
ihm zugewunken.
»Kennst du Mark? Er
stammt auch aus Tasmanien.«
»Nein«, hatte Eliza
gesagt und sich rasch mit pochendem Herzen weggedreht.
Die Stadt war groß
genug für sie beide. Mark konzentrierte sich auf Sportteams und
entwarf Fitnessprogramme. Im sportverrückten Melbourne fand er eine
reiche Klientel.
Elizas Unternehmen
zielte auf weibliche Führungskräfte ab. »Gesunder Körper –
erfolgreicher Geist« war ihr Slogan. Ihr Angebot umfasste Personal
Training, auf Wunsch auch im Haus ihrer Klienten, und
Ernährungsberatung. Sie lebte das Leben ihrer Klientinnen – morgens
um sechs raus, abends um neun Schluss. Sie sah, wie andere Frauen
den Balanceakt aus beruflichen und familiären Verpflichtungen sowie
gesellschaftlichen Erwartungen versuchten und das Unmögliche
wollten – einen perfekten Körper, eine perfekte Beziehung, einen
perfekten Job und ein perfektes Familienleben. Wenn Eliza neben
ihren Klientinnen herjoggte, hörte sie von völliger Erschöpfung und
organisatorischen Albtraumszenarien. Im Studio sah sie, wie sich
die Frauen abkämpfen mussten, um ihre persönlichen Ziele zu
erreichen, erfuhr von der gläsernen Decke und einer von Männern
beherrschten Arbeitswelt. Während sie den Frauen half, körperlich
stark und fit zu werden, lernte sie mehr über das Geschäftsleben
als in all ihren Seminaren zusammen.
Ihr eigenes
Familienleben unterschied sich damals sehr von dem ihrer
Klientinnen. Selbst Miranda sah sie selten, obwohl sie zu dem
Zeitpunkt noch in derselben Stadt lebten. Miranda war zu
beschäftigt. Zweimal im Jahr war Eliza nach Hobart geflogen, zu den
Weihnachtsfeiern. Das hatte gereicht. Es war so anders dort, da nur
noch Leo, Clementine und Maggie im Haus waren. Maggie war einmal im
Jahr zu ihr gekommen, manchmal für vierzehn Tage, manchmal für
längere Zeit, je nach Clementines Plänen. Eliza hatte diese Zeiten
genossen. Maggie war weder ein quengeliges Kind noch ein motziger
Teenager gewesen. Mit ihr konnte man sprechen. Mit ihr konnte man
schweigen. Sie interessierte sich für die Welt. Sie hatte einen
wunderbaren Sinn für Humor. Das hatte Miranda sich
zugeschrieben.
»So hat es sich nun
einmal ergeben«, hatte sie in ihrer nervend theatralischen Manier
gesagt. »Wir alle haben Maggie geformt, unsere Fähigkeiten an sie
weitergegeben. Von Leo und Clementine hat sie die Klugheit, Juliet
hat ihr das Kochen beigebracht, Eliza hat sie Fitnessbewusstsein
und Selbstdisziplin gelehrt, und ich habe ihr gezeigt, wie man
fabelhaft ist.«
Eliza war auf dem
Rückweg vom Tullamarine Airport gewesen, sie hatte die damals
dreizehnjährige Maggie zum Flughafen gebracht. Es regnete, die
Sicht war schlecht, Eliza hatte keine Chance gehabt. Der Lastwagen
war, ohne anzuhalten, aus einer Nebenstraße gekommen und Eliza
direkt in die Seite gefahren. Sie war bewusstlos geworden. Der
linke Arm war gebrochen, als sie gegen das Lenkrad geschleudert
wurde. Am schlimmsten aber war das große Metallstück von der
Stoßstange des Lastwagens, das sich bei der Wucht des
Zusammenpralls verbogen und ihren Oberschenkel, Muskeln und Sehnen
wie ein Messer durchschnitten hatte. Ausgerechnet dieses
Metallstück hatte ihr aber auch das Leben gerettet, denn es hatte
die Blutung gestoppt, bis die Sanitäter Eliza aus ihrem Wagen
herausschneiden konnten.
Sie hatte drei
Wochen im Krankenhaus gelegen und dann zwei weitere Monate in einer
Reha-Klinik verbracht. Ihr hatte eine ungewisse Zukunft gedroht.
Leo war im ersten Monat nach Melbourne gekommen und hatte sie
täglich besucht. Danach hatten Clementine und Miranda abwechselnd
Urlaub genommen und so oft wie möglich nach ihr gesehen. Maggie war
an den Wochenenden gekommen und hatte ihr alle paar Tage Post
geschickt.
Eliza wollte kein
Mitleid. Sie wollte die Wahrheit. Die Ärzte hatten es ihr
schließlich gesagt. »Wenn Sie alle Übungen machen, wenn Sie die
Schmerzen während der Reha durchstehen, werden Sie wieder gehen,
aber Sie werden niemals wieder Sport treiben können.«
Mark war eine Woche
vor ihrer Entlassung erschienen. Die Kunde von ihrem Unfall hatte
sich verbreitet. In den ersten Wochen hatte Eliza noch Karten und
Blumen von ihren Klientinnen erhalten, aber als sich abzeichnete,
dass ihre Genesung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde, kamen
die ersten vorsichtigen Anrufe. Sie würde doch sicher verstehen,
dass sie zu einer anderen Trainerin gingen, natürlich nur, bis sie
wieder auf den Beinen war.
Als Mark ins Zimmer
gekommen war, war ihr erster Gedanke gewesen, dass er ihre Klienten
stehlen wollte. Er musste das Funkeln in ihren Augen gesehen und
ihre Gedanken erraten haben.
»Ich bin kein
Aasgeier.«
»Was willst du
dann?«
»Ich hab gehört, du
kannst nie wieder laufen.«
»Das heißt
es.«
»Schwachsinn.«
»Wie
bitte?«
»Ich sagte,
Schwachsinn, Faraday. Natürlich wirst du wieder
laufen.«
»Und wie soll das
gehen?«
»Mit meiner
Hilfe.«
Und damit war ihre
Freundschaft wieder besiegelt. Eliza fragte nicht nach seiner Frau
und seinen Söhnen. Irgendwann erwähnte er sie
beiläufig.
»Ihr seid noch
zusammen?« Ein Nicken. Seither hatten sie nie wieder darüber
gesprochen.
Er hielt Wort. Er
half ihr, wieder gehen zu lernen. Zusammen mit zwei
Physiotherapeuten. Er brachte sie auch wieder zum Laufen. Sie würde
niemals wieder so schnell oder so fit wie früher sein. Dafür waren
ihre Verletzungen zu schwerwiegend, ihr Körper nicht stark genug,
sein Eigengewicht bei Bewegung zu tragen. Aber Eliza bewies den
Ärzten, dass sie sich geirrt hatten. Langsam baute sie ihren Körper
und ihre Muskeln wieder auf. Es kam der Tag, zehn Monate nach ihrem
Unfall, da schaffte sie es, einen Kilometer zu laufen. Ihre
Schritte waren unbeholfen und sie weinte fast vor Schmerz, aber sie
hielt durch. Mark war an ihrer Seite.
Er hatte sie vom
Sportplatz nach Hause gefahren, ihre Trainingstasche ins Haus
getragen und den angebotenen Drink abgelehnt. Er war schon auf dem
Weg zur Tür, als sie ihn endlich fragte: »Warum hast du das
getan?«
»Herausforderungen
haben mich immer gereizt.«
»Warum, Mark?
Hattest du ein schlechtes Gewissen?«
Sie hatte auf eine
abgedroschene Phrase gewartet. Er hatte sie lange angesehen und
dann gesagt: »Weil ich dich liebe.«
Ihr Herz hatte einen
Satz gemacht. »Liebe? Du hast mich doch niemals
geliebt.«
»Doch, das habe ich.
Das tue ich.«
»Wirst du Belinda
verlassen?«
»Nein. Aber dich
will ich auch nie mehr verlassen.«
»Dann liegt es also
bei mir?«
Nicken.
Sie hatte ihn
angesehen. Er war ihr so vertraut. Der große, schlaksige Körper,
das gebräunte Gesicht, die blauen Augen. Sie hatte niemals
aufgehört, ihn zu lieben. »Wie soll das gehen?«
»Das bestimmst du.
Ich nehme, was du mir geben willst. Und ich werde dir geben, was
immer ich kann.«
Sie hatte nur einen
Moment gezögert, dann war sie auf ihn zugegangen. Und hatte ihn
geküsst.
Er hatte den Kuss
erwidert. Ein langer, hungriger Kuss, der rasch zu mehr wurde. Es
war langsam, sinnlich, besonders.
Zwei Abende später
trafen sie sich erneut. Dann wieder die Woche danach. Sie
trainierten nicht mehr zusammen. Was nun zwischen ihnen geschah,
war etwas Neues. Eliza hatte nach dem passenden Wort gesucht.
Sexuelle Beziehung? Liebesaffäre? Beides?
Sie waren seit
beinahe vierzehn Jahren zusammen. Sie sahen sich mindestens zweimal
pro Woche. Mark hatte sie dazu ermutigt, vom Fitnesstraining auf
Lebenscoaching umzusatteln. Eliza hatte auch in ihrem neuen Beruf
ihre Erfüllung gefunden. Er beruhte schließlich auf denselben
Prinzipien, nur dass sie ihre Klienten nun ermutigte, ihr ganzes
Leben diszipliniert, organisiert und fokussiert anzugehen, und
nicht nur die körperliche Fitness. Die Arbeitszeiten waren auch
besser. Sie hatte viermal mit Mark in Urlaub fahren können, wenn
auch nur für wenige Tage. Sie fragte ihn nie, was er seiner Frau
und seinen Söhnen erzählte, wie er seine Abwesenheit erklärte. Sie
wollte es nicht wissen. Sie fragte ihn auch nie, was für Pläne er
mit seiner Frau hatte, da seine Söhne nun alt genug waren, das Haus
zu verlassen. Nicht, weil ihr vor der Antwort gegraut hätte. Sie
wollte es einfach nicht wissen. Was sie hatten, genügte
ihr.
Eines hatte sich
nach dem Unfall verändert. Sie war dem Tod so nahe gewesen, so nahe
daran, alles zu verlieren, dass sie härter geworden war. Das war
ihr bewusst. Ihr war bewusst, dass es nur eine Chance auf Glück
gab, eine Chance auf ein erfülltes Leben, und in den langen,
einsamen, qualvollen Stunden im Krankenhaus und später in der
Physiotherapie hatte sie sich selbst ein Versprechen gegeben. Wenn
sie künftig etwas wollte, würde sie alles dafür tun. Und Mark hatte
sie immer gewollt und geliebt. Und er liebte sie. Er sagte es ihr
oft. Auch, dass er sie schön fand. Ihre Entschlossenheit liebte.
Ihren Mut. Ihre Intelligenz. Ein-oder zweimal hatte er versucht zu
erklären, warum er seine Familie damals nicht verlassen hatte, doch
sie hatte das Gespräch abgebrochen. Sie wollte keine Einzelheiten
wissen. Sein Leben mit Frau und Kindern war ein Terrain, das sie
nicht betreten wollte.
Sie und Mark hatten
etwas, das andere Paare nicht hatten. Dauerhafte Leidenschaft. Eine
Leidenschaft, die niemals unter Diskussionen darüber litt, wer den
Müll nach draußen tragen musste, die Milch aufgebraucht hatte oder
an der Reihe war, die Kinder zum Schwimmen zu fahren. Sie mussten
sich nicht bei Erkältung oder Grippe pflegen. Nicht über Kosten für
Renovierungsarbeiten oder Auslandsreisen streiten. Sie genossen das
Sahnehäubchen auf einer Beziehung, ohne Alltag und Überdruss. Und
wer weiß – vielleicht hätten sich Mark und seine Frau wirklich
getrennt, wenn Eliza nicht etwas Farbe in sein Leben gebracht
hätte.
Nur eine Person
wusste von Mark. Elizas beste Freundin in Melbourne, Louisa, eine
ehemalige Klientin. Sie hatte Eliza eines Nachmittags unangemeldet
besucht, als Mark gerade ging. Was vorher geschehen war, war zu
offensichtlich.
Zu Elizas eigener
Überraschung hatte sie Louisa an diesem Nachmittag alles erzählt.
Louisa war entsetzt und absolut dagegen gewesen. Es spielte keine
Rolle, wie großartig der Sex war, hatte sie gesagt. Oder ob Eliza
Mark für ihren Seelengefährten hielt. »Mich macht es wütend, dass
du seinetwegen auf Sparflamme lebst.«
»Das tue ich nicht.
Mein Leben ist gut.«
»Du hättest längst
einen anderen Mann kennenlernen können.«
»Ich will keinen
anderen Mann.«
»Eliza, er ist
verheiratet. Er hat zwei Kinder. Was ist mit dir und
Kindern?«
»Ich habe
Maggie.«
»Maggie ist deine
Nichte. Nicht deine Tochter. Du weißt nicht, was dir entgeht. Es
macht mich traurig, dass du das niemals erleben wirst. Wir Frauen
sind doch dafür geboren, Mutter zu werden.«
»Mein Leben ist also
wertlos?«
»Das habe ich nicht
gesagt.«
»Hast du wohl. Genau
das hast du gesagt. Das muss ich gleich meinen Schwestern erzählen.
Meinen ebenfalls kinderlosen und bemitleidenswerten Schwestern, mit
Ausnahme von Clementine. Gott sei Dank hat Clementine sich
entschieden, mit sechzehn schwanger zu werden, sonst wären wir ein
Haufen trauriger alter Weiber.«
»Ich sage das doch
nur, weil mir an dir liegt. Du musst den Tatsachen ins Auge sehen.
Du bist doch die Expertin in Sachen Leben. Was, wenn eine deiner
Klientinnen zu dir kommen und erzählen würde, dass sie seit vielen
Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat, ohne Aussicht
darauf, dass sich das jemals zu einer wirklich erfüllenden
Beziehung entwickeln kann? Was würdest du ihr raten?«
Nach dieser
Unterredung hatte sie fast einen Monat lang nicht mit Louisa
gesprochen. Eliza war zu wütend gewesen. Wie konnte Louisa sich ein
solches Urteil erlauben? Von sich auf andere schließen, nur weil
sie Kinder wollte? Eliza wollte wirklich keine Kinder. Vielleicht
hatte Maggie all ihre mütterlichen Instinkte befriedigt. Vielleicht
lag es an dem Wissen, dass ihr Körper nach dem Unfall nicht mehr
stark genug wäre, ein Kind zu gebären. Oder dass die Erwähnung von
Kindern Mark gegenüber alles ändern würde. Wie auch immer, sie war
sich sicher.
Eliza hatte
schließlich das Schweigen durchbrochen. »Du fehlst mir«, hatte sie
am Telefon zu Louisa gesagt. »Mir fehlt jemand, der mir die Meinung
geigt.«
»Aber du hörst doch
sowieso nicht auf mich.«
»Das stimmt. Kannst
du mich denn so akzeptieren, wie ich bin?«
Das hatte Louisa
getan. Sie waren wieder beste Freundinnen geworden. Aber mit Mark
war Louisa immer noch nicht einverstanden.
Eliza lag im Bett
und sah zu, wie Mark sich anzog. Ein Abschiedskuss, eine zarte
Berührung, ein »Bis bald, mein Liebling«, dann war er fort. Sie zog
sich langsam an, machte sich einen Kaffee, ließ ihn aber stehen.
Sie brauchte frische Luft.
Normalerweise ging
sie zum Strand. An jenem Abend aber ging sie in die
entgegengesetzte Richtung, an den großen Häusern entlang, unter den
Bäumen. Sie liebte die Gegend, das Nebeneinander von gewöhnlichen
Ziegelbauten und prachtvollen alten Villen, dazu der Hauch der See
in der Luft. In der einen Richtung lag eine Reihe von Cafés, in der
anderen Restaurants, und dazwischen alles, was sie brauchte: eine
Reinigung, eine Drogerie, eine Bäckerei und ein Schuster. In ihrem
Viertel standen eine katholische Kirche, eine Synagoge und eine
Versammlungshalle der Kirche der Adventisten. Wie Mark einmal
gesagt hatte: Sollte das Ende der Welt nahen, bot sich ihr
reichlich Zuflucht.
Sie fand sich vor
der katholischen Kirche wieder. Sie wollte eigentlich weitergehen,
vielleicht sogar bis zu dem kleinen Einkaufszentrum, aber zu ihrem
eigenen Erstaunen ging sie durch das Tor, den Schotterweg entlang,
hinein durch die Seitentür. Sie war zum ersten Mal in der Kirche.
Es war kühl und dunkel, die Luft noch geschwängert vom Weihrauch
einer Messe. Der Geruch war ihr aus Kindertagen vertraut. Sie
ertappte sich dabei, wie sie sich bekreuzigte. Es war schon
heuchlerisch genug, überhaupt in eine Kirche zu gehen, da musste
sie nicht auch noch sämtliche Rituale vollziehen. Sie blieb an der
hinteren Reihe stehen und ließ sich mühsam auf der hölzernen Bank
nieder. Ringsum saßen Gläubige. Der Priester nahm die Beichte ab.
Aus einem der altmodischen Beichtstühle kam ein Mann im Alter ihres
Vaters, dann nahm bald darauf eine Frau in Elizas Alter seinen
Platz ein.
Es war lange her,
dass Eliza zur Messe gegangen war, ganz zu schweigen von der
Beichte, aber die Gebete fielen ihr augenblicklich wieder ein. Sie
hätte sich in die Schlange einreihen und warten können, bis es an
ihr war, in den Beichtstuhl zu treten und zu sprechen.
»Vergib mir, Vater,
denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte liegt fünfundzwanzig
Jahre zurück.«
»Was ist deine
Sünde?«
»Ich habe eine
Affäre.«
»Mit
wem?«
»Mit einem
verheirateten Mann. Der Liebe meines Lebens.«
»Bereust
du?«
»Nicht im
Geringsten. Ich würde es immer wieder tun.«
»Hast du weitere
Sünden zu beichten?«
»Ich erzähle seit
zwanzig Jahren eine Lüge.«
»Wem?«
»Meiner
Nichte.«
»Worüber belügst du
sie?«
Ȇber meine
Schwester Sadie.«
»Kannst du einen
anderen Weg gehen?«
»Ihr die Wahrheit
sagen? Die Familie noch mehr entzweien? Danke, nein.«
Sie hatte in letzter
Zeit oft an Sadie gedacht. Das lag an der Jahreszeit, denn eines
ihrer Weihnachtsfeste rückte näher. Sie durchlebte das jedes Jahr
um diese Zeit. Aber noch etwas hatte das ausgelöst. Vor fünf
Monaten hatte Eliza beim Einkaufen in der Bourke Street Mall
geglaubt, Sadie zu sehen. Eine Frau in ihrer Größe, mit der
gleichen Figur und mit dunkelbraunem Haar. Sie hatte so ausgesehen,
wie Eliza sich Sadie heute vorstellte, zwanzig Jahre später. Sie
hatte sie angesprochen. »Sadie?«
Die Frau hatte sich
nicht umgedreht. Eliza war ihr gefolgt und hatte dabei ihr Bein
verflucht. Die alte Eliza wäre im Nu bei ihr gewesen. Die Frau war
um die Ecke gebogen. Eliza hatte sie vorübergehend aus den Augen
verloren. Glücklicherweise war sie vor einem Schuhgeschäft stehen
geblieben.
»Sadie.« Eliza hatte
der Frau eine Hand auf den Arm gelegt. Sie hatte sich umgedreht.
Aus der Nähe hatte sie Sadie überhaupt nicht ähnlich gesehen. »Es
tut mir leid. Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.« Mit jemandem verwechselt. Mit der Schwester, die ich vor
zwanzig Jahren zuletzt gesehen habe.
Aber wenn es Sadie
gewesen wäre, was hätte sie gesagt? »Hi, wie geht’s denn so? Lust
auf einen Kaffee? Ach übrigens, tut mir leid, dass wir uns damals
alle gegen dich gestellt haben. Du hattest recht, alle Bande zu
kappen. Aber wollen wir die Vergangenheit nicht ruhen
lassen?«
Das hätte ein
großartiges Donegal-Treffen gegeben, wenn Eliza mit Sadie an ihrer
Seite erschienen wäre.
Eliza hatte es den
anderen niemals erzählt, aber sie hatte im Verlaufe der letzten
Jahre häufig versucht, Sadie ausfindig zu machen. Natürlich musste
sie Clementines Standpunkt respektieren – schließlich hatte jene
furchtbare Zeit sie am schlimmsten getroffen -, aber die Wahrheit
lautete schlicht und ergreifend, sie vermisste Sadie. Ja, was sie
getan hatte, war schrecklich. Aber irgendwo auch verständlich.
Waren sie nicht alle in Maggie vernarrt gewesen?
Eliza hatte sich oft
gewünscht, sie wäre damals dabei gewesen, als Leo und Clementine
Sadie und Maggie auf dem Campingplatz gefunden hatten.
Leo hatte ihnen
später alles erzählt. Er hatte versucht, mit Sadie zu reden, ihr
begreiflich zu machen, wie besorgt sie alle gewesen waren, dass
ihre kurzen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter nicht genügt
hätten, ihr begreiflich zu machen, warum Clementine so außer sich
war. Doch es war, als würde man gegen Wände sprechen, berichtete
er. Sie hatte ihm nichts erklärt, sie wollte nur in Ruhe gelassen
werden.
Das hatte er getan.
Er war mit Clementine und Maggie zum Mietwagen gegangen und in das
nahe gelegene Motel gefahren. Maggie hatte sich völlig normal
benommen, fröhlich drauflosgeplappert, als ob es auch völlig normal
wäre, dass er und Clementine dort einfach erschienen
waren.
Am nächsten Morgen
war Leo zum Campingplatz zurückgekehrt. Er war zu spät gekommen.
Sadie war fort. Er hatte mit dem Mann im Büro gesprochen. Sadie
hatte nichts hinterlassen, nur eine Plastiktüte mit Maggies
Sachen.
Sie waren alle in
Sorge gewesen, dass sie etwas Unüberlegtes tun könnte. Sich
umbringen könnte. Leo hatte Tage am Telefon verbracht und mit
Polizei und Krankenhäusern in der Umgebung gesprochen. Man war ihm
zwar mit einem gewissen Mitgefühl begegnet, doch eine Hilfe war
niemand. Wohl ein häuslicher Streit, hatte es geheißen. Es käme
täglich vor, dass junge Frauen Streit mit ihrer Familie hatten und
ins Ungewisse aufbrachen.
Als dann an Maggies
Geburtstag die Karte eingetroffen war, war Eliza unendlich
erleichtert gewesen, so wie die anderen auch. Im folgenden Jahr
traf eine weitere Karte für Maggie ein. Im Jahr darauf noch eine.
Obwohl sie keine weiteren Nachrichten enthielten, waren sie ihnen
allen ein Trost. Leo hatte Vater Cavalli, und in späteren Jahren
die anderen Priester, immer wieder gefragt, ob sie mehr wüssten.
Sie mussten doch wissen, wo sie war. Sicher verstand ein Priester,
was diese Situation für die Familie bedeutete. Die Priester waren
immer verständnisvoll, aber nie sonderlich entgegenkommend. Sie
müssten Sadies Entscheidung respektieren, lautete die
Standardauskunft. Während all der Jahre hatten Leo und ihre
Schwestern Briefe geschrieben und mit Maggies Karten und
Weihnachtsgrüßen verschickt. Aber sie wurden niemals
beantwortet.
Eliza versuchte
häufig, sich vorzustellen, wie Sadie wohl mittlerweile aussah, wo
sie lebte und was sie tat. Das machte sie mit allen Mitgliedern
ihrer Familie. Sie stellte sich Leo bei seinen Reisen vor, Juliet
in England, bei der Arbeit, Miranda in einer eleganten Bar, mit
einem Glas Champagner in der Hand, Clementine im Busch oder an
einer Küste auf einen Felsen gekauert. Maggie – bis vor drei
Monaten – in einem schicken Büro in London. Aber Sadie? Sie konnte
sich nichts ausmalen. Wo mochte sie sein? Bei wem? Wie mochte es
ihr ergehen? War sie glücklich? Traurig? Enttäuscht?
Erfüllt?
Eliza hätte sich
diese Fragen selbst stellen können. Doch sie kannte die Antworten.
Sie hatte lange genug darüber nachgedacht. Sie war alles
zugleich.
»Kann ich Ihnen
helfen?« Ein älterer Herr in einem dunklen Anzug mit weißem Kragen
stand am Ende der Bank.
»Nein, danke,
Vater.« Sie lächelte ihn flüchtig an, dann stand sie auf und ging,
so schnell sie konnte, hinaus in das abendliche
Sonnenlicht.