22

Das Licht war gedämpft. Im Hintergrund spielte leise Musik. Obwohl das Büro in Strandnähe lag, hatte keines der Fenster Meerblick. Zum Ausgleich hatte Eliza den Raum mit Seestücken dekoriert und die Wände in einem beruhigenden Hellblau gestrichen.
Der Mann ihr gegenüber suchte nach den richtigen Worten. »Es ist nicht so, als würde ich sie nicht lieben. Natürlich liebe ich sie.«
»Was also hält Sie zurück?«
»Die Angst vor der Verpflichtung.« Er grinste. Dieses Grinsen, dachte Eliza, hatte bestimmt eine ziemliche Wirkung auf Frauen. »Der Gedanke, dass ich dann nie mehr im Leben mit einer anderen Frau schlafen kann.«
Hinter Eliza summte es leise. »Richard, für diese Woche ist unsere Zeit um. Wenn Sie weiter darüber sprechen möchten, vereinbaren Sie bitte draußen einen Termin.«
»Ich danke Ihnen, Eliza.«
»Gerne.« Sie stand auf und überspielte das schmerzhafte Zucken, als ihr Bein gegen die plötzliche Bewegung protestierte.
Sie nutzte die kurze Pause zwischen ihren Terminen, um ihre E-Mails zu checken. Eine Nachricht stammte von Leo, von seinem Blackberry versandt.
Habe gerade mit Juliet gesprochen und gehört, dass Du nicht kommst. Wenn es eine Frage des Geldes ist, musst Du es nur sagen.
Sie schrieb, ohne nachzudenken. Sie würde die Antwort ohnehin niemals absenden:
Nein, es ist keine Frage des Geldes. Ich will mir nur meine geistige Gesundheit erhalten.
Sollte sie weiterschreiben?
Ich habe die Juli-Weihnachtsfeste sowieso immer gehasst. Wenn Maggie kommen würde, könnte ich es gerade noch ertragen, aber warum sollte ich mir das sonst antun? Insgesamt sechsundzwanzig Stunden Flugzeit von Australien, dann der Flug von London nach Belfast, die zweistündige Autofahrt, die sieben Nächte in einem unbequemen Bett, noch dazu in einem Zimmer mit klappernden Fenstern, das ungesund viele Essen, weil Juliet nicht aufhören kann zu kochen, die angespannte Atmosphäre, weil Miranda ständig mit ihr im Clinch liegt. Und über alldem schwebt Sadies Geist, doch keiner wagt, sie zu erwähnen; du, der du uns mit deinen Geschichten, dass sich die Auszahlung des großen Jackpots verzögert, am Gängelband hältst, damit wir brav Jahr um Jahr zurückkommen. Das klingt doch wie der zehnte Kreis der Hölle.
Sie war versucht, die E-Mail abzuschicken. Die sanfte Stimme ihrer Sekretärin, die sich über die Sprechanlage meldete, hinderte sie daran. Eliza drückte auf »Entfernen«.
Den zweiten Termin hatte eine Frau in Elizas Alter, Ende vierzig. Eliza blätterte durch ihre Akte und bat die Frau zu schildern, was seit ihrem letzten Termin geschehen war. Hatte sie sich um eine neue Stelle bemüht? Das Trainingsprogramm begonnen, um, wie geplant, vor ihrem fünfzigsten Geburtstag zehn Kilo abzunehmen? Aufgehört, ständig hinter ihrem pubertären Sohn herzuräumen?
Die Frau gab zu, dass sie nichts von alledem getan hatte.
»Katherine, es ist Ihre Entscheidung. Es ist Ihr Leben. Sie können die Dinge in Angriff nehmen oder auch nicht.«
»Manchmal wächst mir einfach alles über den Kopf.«
War sie Lebenscoach oder Psychologin? Häufig war es nur eine Gratwanderung. »Deshalb ist es ja so wichtig, alles in kleine Aufgaben zu unterteilen, die sich bewältigen lassen.«
»Sie sind mein großes Vorbild«, sagte die Frau voller Elan. »Sie haben alles. Unabhängigkeit. Ihr eigenes Unternehmen. Und ich weiß, dass es schwer für Sie war. Ihre Sekretärin hat mir von Ihrem Unfall erzählt, dass Sie wieder ganz von vorn anfangen mussten, aber sehen Sie sich an …«
»Wir sollten über Sie sprechen, nicht über mich.«
Eliza verließ das Büro um sechs Uhr. Vorher hatte sie noch eine Unterredung mit ihrer Sekretärin, bei der sie ihr ruhig, aber nachdrücklich erklärte, dass ihre Aufgabe darin bestand, Geheimnisse zu bewahren und nicht zu teilen.
An einer roten Ampel schaute Eliza auf ihr Handy. Noch immer keine Nachricht. In dem Moment klingelte es. Sie lächelte. Pünktlich war er zumindest.
»Eliza.«
»Mark.«
»Passt es dir jetzt?«
»Bestens«, sagte Eliza. »Bis gleich also.«
Er war vor ihr da und schenkte in der Küche schon ein Glas Wein ein. »Wie war dein Tag?«
»Wird immer besser. Komm her.«
Sie wusste genau, was ihm gefiel. Er wusste genau, was ihr gefiel. Langsame Küsse im Wohnzimmer. Im Flur fielen die Kleider, sie sanken nackt aufs Bett. Sie bog sich ihm entgegen, spürte das Gewicht seines Körpers auf ihrem, ließ die Hände über seinen Rücken gleiten, spürte, wie seine Finger ihre Beine streichelten, immer höher. Hinterher lag sie mit dem Kopf auf seiner Brust und spielte in Gedanken mit seinem Haar. Er streichelte ihre Haut, ihren Rücken, ihre Schenkel, er hielt nicht inne, als sich ihre Haut anders anfühlte, dort, wo nach all den Jahren die Narben noch sichtbar waren.
Sie machte sich wegen der Narben schon lange keine Gedanken mehr. Ihm fielen sie angeblich ohnehin kaum auf. Insgeheim war sie den Narben sogar dankbar. Ohne den Unfall hätte sie sich niemals mit Mark versöhnt. Wären sie heute nicht wieder zusammen.
Es war ihnen gelungen, acht Jahre in Melbourne zu leben, ohne sich über den Weg zu laufen. Natürlich hatte sie genau gewusst, wo er war und was er tat, wie auch umgekehrt. Die Fitnessszene in Melbourne war so klein, dass man sich gegenseitig im Auge behalten konnte. Er hatte ihr gegenüber natürlich einen gewaltigen Vorsprung und seine Firma entsprechend ihren früheren Plänen aufgebaut. In den ersten Monaten waren ihr Zweifel gekommen. Das Feuer der Rache, das sie angetrieben hatte, ihn zu übertrumpfen, brannte nicht mehr ganz so lichterloh. Es war viel schwerer, als sie erwartet hatte, in einer fremden Stadt neu anzufangen und all das Gelernte in die Praxis umzusetzen.
Sie hatten sich nur ein einziges Mal gesehen, bei einem brancheninternen Empfang, fünf Jahre, nachdem sie nach Melbourne gezogen war. Eine Bekannte hatte ihm zugewunken.
»Kennst du Mark? Er stammt auch aus Tasmanien.«
»Nein«, hatte Eliza gesagt und sich rasch mit pochendem Herzen weggedreht.
Die Stadt war groß genug für sie beide. Mark konzentrierte sich auf Sportteams und entwarf Fitnessprogramme. Im sportverrückten Melbourne fand er eine reiche Klientel.
Elizas Unternehmen zielte auf weibliche Führungskräfte ab. »Gesunder Körper – erfolgreicher Geist« war ihr Slogan. Ihr Angebot umfasste Personal Training, auf Wunsch auch im Haus ihrer Klienten, und Ernährungsberatung. Sie lebte das Leben ihrer Klientinnen – morgens um sechs raus, abends um neun Schluss. Sie sah, wie andere Frauen den Balanceakt aus beruflichen und familiären Verpflichtungen sowie gesellschaftlichen Erwartungen versuchten und das Unmögliche wollten – einen perfekten Körper, eine perfekte Beziehung, einen perfekten Job und ein perfektes Familienleben. Wenn Eliza neben ihren Klientinnen herjoggte, hörte sie von völliger Erschöpfung und organisatorischen Albtraumszenarien. Im Studio sah sie, wie sich die Frauen abkämpfen mussten, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen, erfuhr von der gläsernen Decke und einer von Männern beherrschten Arbeitswelt. Während sie den Frauen half, körperlich stark und fit zu werden, lernte sie mehr über das Geschäftsleben als in all ihren Seminaren zusammen.
Ihr eigenes Familienleben unterschied sich damals sehr von dem ihrer Klientinnen. Selbst Miranda sah sie selten, obwohl sie zu dem Zeitpunkt noch in derselben Stadt lebten. Miranda war zu beschäftigt. Zweimal im Jahr war Eliza nach Hobart geflogen, zu den Weihnachtsfeiern. Das hatte gereicht. Es war so anders dort, da nur noch Leo, Clementine und Maggie im Haus waren. Maggie war einmal im Jahr zu ihr gekommen, manchmal für vierzehn Tage, manchmal für längere Zeit, je nach Clementines Plänen. Eliza hatte diese Zeiten genossen. Maggie war weder ein quengeliges Kind noch ein motziger Teenager gewesen. Mit ihr konnte man sprechen. Mit ihr konnte man schweigen. Sie interessierte sich für die Welt. Sie hatte einen wunderbaren Sinn für Humor. Das hatte Miranda sich zugeschrieben.
»So hat es sich nun einmal ergeben«, hatte sie in ihrer nervend theatralischen Manier gesagt. »Wir alle haben Maggie geformt, unsere Fähigkeiten an sie weitergegeben. Von Leo und Clementine hat sie die Klugheit, Juliet hat ihr das Kochen beigebracht, Eliza hat sie Fitnessbewusstsein und Selbstdisziplin gelehrt, und ich habe ihr gezeigt, wie man fabelhaft ist.«
Eliza war auf dem Rückweg vom Tullamarine Airport gewesen, sie hatte die damals dreizehnjährige Maggie zum Flughafen gebracht. Es regnete, die Sicht war schlecht, Eliza hatte keine Chance gehabt. Der Lastwagen war, ohne anzuhalten, aus einer Nebenstraße gekommen und Eliza direkt in die Seite gefahren. Sie war bewusstlos geworden. Der linke Arm war gebrochen, als sie gegen das Lenkrad geschleudert wurde. Am schlimmsten aber war das große Metallstück von der Stoßstange des Lastwagens, das sich bei der Wucht des Zusammenpralls verbogen und ihren Oberschenkel, Muskeln und Sehnen wie ein Messer durchschnitten hatte. Ausgerechnet dieses Metallstück hatte ihr aber auch das Leben gerettet, denn es hatte die Blutung gestoppt, bis die Sanitäter Eliza aus ihrem Wagen herausschneiden konnten.
Sie hatte drei Wochen im Krankenhaus gelegen und dann zwei weitere Monate in einer Reha-Klinik verbracht. Ihr hatte eine ungewisse Zukunft gedroht. Leo war im ersten Monat nach Melbourne gekommen und hatte sie täglich besucht. Danach hatten Clementine und Miranda abwechselnd Urlaub genommen und so oft wie möglich nach ihr gesehen. Maggie war an den Wochenenden gekommen und hatte ihr alle paar Tage Post geschickt.
Eliza wollte kein Mitleid. Sie wollte die Wahrheit. Die Ärzte hatten es ihr schließlich gesagt. »Wenn Sie alle Übungen machen, wenn Sie die Schmerzen während der Reha durchstehen, werden Sie wieder gehen, aber Sie werden niemals wieder Sport treiben können.«
Mark war eine Woche vor ihrer Entlassung erschienen. Die Kunde von ihrem Unfall hatte sich verbreitet. In den ersten Wochen hatte Eliza noch Karten und Blumen von ihren Klientinnen erhalten, aber als sich abzeichnete, dass ihre Genesung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde, kamen die ersten vorsichtigen Anrufe. Sie würde doch sicher verstehen, dass sie zu einer anderen Trainerin gingen, natürlich nur, bis sie wieder auf den Beinen war.
Als Mark ins Zimmer gekommen war, war ihr erster Gedanke gewesen, dass er ihre Klienten stehlen wollte. Er musste das Funkeln in ihren Augen gesehen und ihre Gedanken erraten haben.
»Ich bin kein Aasgeier.«
»Was willst du dann?«
»Ich hab gehört, du kannst nie wieder laufen.«
»Das heißt es.«
»Schwachsinn.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte, Schwachsinn, Faraday. Natürlich wirst du wieder laufen.«
»Und wie soll das gehen?«
»Mit meiner Hilfe.«
Und damit war ihre Freundschaft wieder besiegelt. Eliza fragte nicht nach seiner Frau und seinen Söhnen. Irgendwann erwähnte er sie beiläufig.
»Ihr seid noch zusammen?« Ein Nicken. Seither hatten sie nie wieder darüber gesprochen.
Er hielt Wort. Er half ihr, wieder gehen zu lernen. Zusammen mit zwei Physiotherapeuten. Er brachte sie auch wieder zum Laufen. Sie würde niemals wieder so schnell oder so fit wie früher sein. Dafür waren ihre Verletzungen zu schwerwiegend, ihr Körper nicht stark genug, sein Eigengewicht bei Bewegung zu tragen. Aber Eliza bewies den Ärzten, dass sie sich geirrt hatten. Langsam baute sie ihren Körper und ihre Muskeln wieder auf. Es kam der Tag, zehn Monate nach ihrem Unfall, da schaffte sie es, einen Kilometer zu laufen. Ihre Schritte waren unbeholfen und sie weinte fast vor Schmerz, aber sie hielt durch. Mark war an ihrer Seite.
Er hatte sie vom Sportplatz nach Hause gefahren, ihre Trainingstasche ins Haus getragen und den angebotenen Drink abgelehnt. Er war schon auf dem Weg zur Tür, als sie ihn endlich fragte: »Warum hast du das getan?«
»Herausforderungen haben mich immer gereizt.«
»Warum, Mark? Hattest du ein schlechtes Gewissen?«
Sie hatte auf eine abgedroschene Phrase gewartet. Er hatte sie lange angesehen und dann gesagt: »Weil ich dich liebe.«
Ihr Herz hatte einen Satz gemacht. »Liebe? Du hast mich doch niemals geliebt.«
»Doch, das habe ich. Das tue ich.«
»Wirst du Belinda verlassen?«
»Nein. Aber dich will ich auch nie mehr verlassen.«
»Dann liegt es also bei mir?«
Nicken.
Sie hatte ihn angesehen. Er war ihr so vertraut. Der große, schlaksige Körper, das gebräunte Gesicht, die blauen Augen. Sie hatte niemals aufgehört, ihn zu lieben. »Wie soll das gehen?«
»Das bestimmst du. Ich nehme, was du mir geben willst. Und ich werde dir geben, was immer ich kann.«
Sie hatte nur einen Moment gezögert, dann war sie auf ihn zugegangen. Und hatte ihn geküsst.
Er hatte den Kuss erwidert. Ein langer, hungriger Kuss, der rasch zu mehr wurde. Es war langsam, sinnlich, besonders.
Zwei Abende später trafen sie sich erneut. Dann wieder die Woche danach. Sie trainierten nicht mehr zusammen. Was nun zwischen ihnen geschah, war etwas Neues. Eliza hatte nach dem passenden Wort gesucht. Sexuelle Beziehung? Liebesaffäre? Beides?
Sie waren seit beinahe vierzehn Jahren zusammen. Sie sahen sich mindestens zweimal pro Woche. Mark hatte sie dazu ermutigt, vom Fitnesstraining auf Lebenscoaching umzusatteln. Eliza hatte auch in ihrem neuen Beruf ihre Erfüllung gefunden. Er beruhte schließlich auf denselben Prinzipien, nur dass sie ihre Klienten nun ermutigte, ihr ganzes Leben diszipliniert, organisiert und fokussiert anzugehen, und nicht nur die körperliche Fitness. Die Arbeitszeiten waren auch besser. Sie hatte viermal mit Mark in Urlaub fahren können, wenn auch nur für wenige Tage. Sie fragte ihn nie, was er seiner Frau und seinen Söhnen erzählte, wie er seine Abwesenheit erklärte. Sie wollte es nicht wissen. Sie fragte ihn auch nie, was für Pläne er mit seiner Frau hatte, da seine Söhne nun alt genug waren, das Haus zu verlassen. Nicht, weil ihr vor der Antwort gegraut hätte. Sie wollte es einfach nicht wissen. Was sie hatten, genügte ihr.
Eines hatte sich nach dem Unfall verändert. Sie war dem Tod so nahe gewesen, so nahe daran, alles zu verlieren, dass sie härter geworden war. Das war ihr bewusst. Ihr war bewusst, dass es nur eine Chance auf Glück gab, eine Chance auf ein erfülltes Leben, und in den langen, einsamen, qualvollen Stunden im Krankenhaus und später in der Physiotherapie hatte sie sich selbst ein Versprechen gegeben. Wenn sie künftig etwas wollte, würde sie alles dafür tun. Und Mark hatte sie immer gewollt und geliebt. Und er liebte sie. Er sagte es ihr oft. Auch, dass er sie schön fand. Ihre Entschlossenheit liebte. Ihren Mut. Ihre Intelligenz. Ein-oder zweimal hatte er versucht zu erklären, warum er seine Familie damals nicht verlassen hatte, doch sie hatte das Gespräch abgebrochen. Sie wollte keine Einzelheiten wissen. Sein Leben mit Frau und Kindern war ein Terrain, das sie nicht betreten wollte.
Sie und Mark hatten etwas, das andere Paare nicht hatten. Dauerhafte Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die niemals unter Diskussionen darüber litt, wer den Müll nach draußen tragen musste, die Milch aufgebraucht hatte oder an der Reihe war, die Kinder zum Schwimmen zu fahren. Sie mussten sich nicht bei Erkältung oder Grippe pflegen. Nicht über Kosten für Renovierungsarbeiten oder Auslandsreisen streiten. Sie genossen das Sahnehäubchen auf einer Beziehung, ohne Alltag und Überdruss. Und wer weiß – vielleicht hätten sich Mark und seine Frau wirklich getrennt, wenn Eliza nicht etwas Farbe in sein Leben gebracht hätte.
Nur eine Person wusste von Mark. Elizas beste Freundin in Melbourne, Louisa, eine ehemalige Klientin. Sie hatte Eliza eines Nachmittags unangemeldet besucht, als Mark gerade ging. Was vorher geschehen war, war zu offensichtlich.
Zu Elizas eigener Überraschung hatte sie Louisa an diesem Nachmittag alles erzählt. Louisa war entsetzt und absolut dagegen gewesen. Es spielte keine Rolle, wie großartig der Sex war, hatte sie gesagt. Oder ob Eliza Mark für ihren Seelengefährten hielt. »Mich macht es wütend, dass du seinetwegen auf Sparflamme lebst.«
»Das tue ich nicht. Mein Leben ist gut.«
»Du hättest längst einen anderen Mann kennenlernen können.«
»Ich will keinen anderen Mann.«
»Eliza, er ist verheiratet. Er hat zwei Kinder. Was ist mit dir und Kindern?«
»Ich habe Maggie.«
»Maggie ist deine Nichte. Nicht deine Tochter. Du weißt nicht, was dir entgeht. Es macht mich traurig, dass du das niemals erleben wirst. Wir Frauen sind doch dafür geboren, Mutter zu werden.«
»Mein Leben ist also wertlos?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Hast du wohl. Genau das hast du gesagt. Das muss ich gleich meinen Schwestern erzählen. Meinen ebenfalls kinderlosen und bemitleidenswerten Schwestern, mit Ausnahme von Clementine. Gott sei Dank hat Clementine sich entschieden, mit sechzehn schwanger zu werden, sonst wären wir ein Haufen trauriger alter Weiber.«
»Ich sage das doch nur, weil mir an dir liegt. Du musst den Tatsachen ins Auge sehen. Du bist doch die Expertin in Sachen Leben. Was, wenn eine deiner Klientinnen zu dir kommen und erzählen würde, dass sie seit vielen Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat, ohne Aussicht darauf, dass sich das jemals zu einer wirklich erfüllenden Beziehung entwickeln kann? Was würdest du ihr raten?«
Nach dieser Unterredung hatte sie fast einen Monat lang nicht mit Louisa gesprochen. Eliza war zu wütend gewesen. Wie konnte Louisa sich ein solches Urteil erlauben? Von sich auf andere schließen, nur weil sie Kinder wollte? Eliza wollte wirklich keine Kinder. Vielleicht hatte Maggie all ihre mütterlichen Instinkte befriedigt. Vielleicht lag es an dem Wissen, dass ihr Körper nach dem Unfall nicht mehr stark genug wäre, ein Kind zu gebären. Oder dass die Erwähnung von Kindern Mark gegenüber alles ändern würde. Wie auch immer, sie war sich sicher.
Eliza hatte schließlich das Schweigen durchbrochen. »Du fehlst mir«, hatte sie am Telefon zu Louisa gesagt. »Mir fehlt jemand, der mir die Meinung geigt.«
»Aber du hörst doch sowieso nicht auf mich.«
»Das stimmt. Kannst du mich denn so akzeptieren, wie ich bin?«
Das hatte Louisa getan. Sie waren wieder beste Freundinnen geworden. Aber mit Mark war Louisa immer noch nicht einverstanden.
Eliza lag im Bett und sah zu, wie Mark sich anzog. Ein Abschiedskuss, eine zarte Berührung, ein »Bis bald, mein Liebling«, dann war er fort. Sie zog sich langsam an, machte sich einen Kaffee, ließ ihn aber stehen. Sie brauchte frische Luft.
Normalerweise ging sie zum Strand. An jenem Abend aber ging sie in die entgegengesetzte Richtung, an den großen Häusern entlang, unter den Bäumen. Sie liebte die Gegend, das Nebeneinander von gewöhnlichen Ziegelbauten und prachtvollen alten Villen, dazu der Hauch der See in der Luft. In der einen Richtung lag eine Reihe von Cafés, in der anderen Restaurants, und dazwischen alles, was sie brauchte: eine Reinigung, eine Drogerie, eine Bäckerei und ein Schuster. In ihrem Viertel standen eine katholische Kirche, eine Synagoge und eine Versammlungshalle der Kirche der Adventisten. Wie Mark einmal gesagt hatte: Sollte das Ende der Welt nahen, bot sich ihr reichlich Zuflucht.
Sie fand sich vor der katholischen Kirche wieder. Sie wollte eigentlich weitergehen, vielleicht sogar bis zu dem kleinen Einkaufszentrum, aber zu ihrem eigenen Erstaunen ging sie durch das Tor, den Schotterweg entlang, hinein durch die Seitentür. Sie war zum ersten Mal in der Kirche. Es war kühl und dunkel, die Luft noch geschwängert vom Weihrauch einer Messe. Der Geruch war ihr aus Kindertagen vertraut. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich bekreuzigte. Es war schon heuchlerisch genug, überhaupt in eine Kirche zu gehen, da musste sie nicht auch noch sämtliche Rituale vollziehen. Sie blieb an der hinteren Reihe stehen und ließ sich mühsam auf der hölzernen Bank nieder. Ringsum saßen Gläubige. Der Priester nahm die Beichte ab. Aus einem der altmodischen Beichtstühle kam ein Mann im Alter ihres Vaters, dann nahm bald darauf eine Frau in Elizas Alter seinen Platz ein.
Es war lange her, dass Eliza zur Messe gegangen war, ganz zu schweigen von der Beichte, aber die Gebete fielen ihr augenblicklich wieder ein. Sie hätte sich in die Schlange einreihen und warten können, bis es an ihr war, in den Beichtstuhl zu treten und zu sprechen.
»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte liegt fünfundzwanzig Jahre zurück.«
»Was ist deine Sünde?«
»Ich habe eine Affäre.«
»Mit wem?«
»Mit einem verheirateten Mann. Der Liebe meines Lebens.«
»Bereust du?«
»Nicht im Geringsten. Ich würde es immer wieder tun.«
»Hast du weitere Sünden zu beichten?«
»Ich erzähle seit zwanzig Jahren eine Lüge.«
»Wem?«
»Meiner Nichte.«
»Worüber belügst du sie?«
»Über meine Schwester Sadie.«
»Kannst du einen anderen Weg gehen?«
»Ihr die Wahrheit sagen? Die Familie noch mehr entzweien? Danke, nein.«
Sie hatte in letzter Zeit oft an Sadie gedacht. Das lag an der Jahreszeit, denn eines ihrer Weihnachtsfeste rückte näher. Sie durchlebte das jedes Jahr um diese Zeit. Aber noch etwas hatte das ausgelöst. Vor fünf Monaten hatte Eliza beim Einkaufen in der Bourke Street Mall geglaubt, Sadie zu sehen. Eine Frau in ihrer Größe, mit der gleichen Figur und mit dunkelbraunem Haar. Sie hatte so ausgesehen, wie Eliza sich Sadie heute vorstellte, zwanzig Jahre später. Sie hatte sie angesprochen. »Sadie?«
Die Frau hatte sich nicht umgedreht. Eliza war ihr gefolgt und hatte dabei ihr Bein verflucht. Die alte Eliza wäre im Nu bei ihr gewesen. Die Frau war um die Ecke gebogen. Eliza hatte sie vorübergehend aus den Augen verloren. Glücklicherweise war sie vor einem Schuhgeschäft stehen geblieben.
»Sadie.« Eliza hatte der Frau eine Hand auf den Arm gelegt. Sie hatte sich umgedreht. Aus der Nähe hatte sie Sadie überhaupt nicht ähnlich gesehen. »Es tut mir leid. Ich habe Sie mit jemandem verwechselt.« Mit jemandem verwechselt. Mit der Schwester, die ich vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen habe.
Aber wenn es Sadie gewesen wäre, was hätte sie gesagt? »Hi, wie geht’s denn so? Lust auf einen Kaffee? Ach übrigens, tut mir leid, dass wir uns damals alle gegen dich gestellt haben. Du hattest recht, alle Bande zu kappen. Aber wollen wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen?«
Das hätte ein großartiges Donegal-Treffen gegeben, wenn Eliza mit Sadie an ihrer Seite erschienen wäre.
Eliza hatte es den anderen niemals erzählt, aber sie hatte im Verlaufe der letzten Jahre häufig versucht, Sadie ausfindig zu machen. Natürlich musste sie Clementines Standpunkt respektieren – schließlich hatte jene furchtbare Zeit sie am schlimmsten getroffen -, aber die Wahrheit lautete schlicht und ergreifend, sie vermisste Sadie. Ja, was sie getan hatte, war schrecklich. Aber irgendwo auch verständlich. Waren sie nicht alle in Maggie vernarrt gewesen?
Eliza hatte sich oft gewünscht, sie wäre damals dabei gewesen, als Leo und Clementine Sadie und Maggie auf dem Campingplatz gefunden hatten.
Leo hatte ihnen später alles erzählt. Er hatte versucht, mit Sadie zu reden, ihr begreiflich zu machen, wie besorgt sie alle gewesen waren, dass ihre kurzen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter nicht genügt hätten, ihr begreiflich zu machen, warum Clementine so außer sich war. Doch es war, als würde man gegen Wände sprechen, berichtete er. Sie hatte ihm nichts erklärt, sie wollte nur in Ruhe gelassen werden.
Das hatte er getan. Er war mit Clementine und Maggie zum Mietwagen gegangen und in das nahe gelegene Motel gefahren. Maggie hatte sich völlig normal benommen, fröhlich drauflosgeplappert, als ob es auch völlig normal wäre, dass er und Clementine dort einfach erschienen waren.
Am nächsten Morgen war Leo zum Campingplatz zurückgekehrt. Er war zu spät gekommen. Sadie war fort. Er hatte mit dem Mann im Büro gesprochen. Sadie hatte nichts hinterlassen, nur eine Plastiktüte mit Maggies Sachen.
Sie waren alle in Sorge gewesen, dass sie etwas Unüberlegtes tun könnte. Sich umbringen könnte. Leo hatte Tage am Telefon verbracht und mit Polizei und Krankenhäusern in der Umgebung gesprochen. Man war ihm zwar mit einem gewissen Mitgefühl begegnet, doch eine Hilfe war niemand. Wohl ein häuslicher Streit, hatte es geheißen. Es käme täglich vor, dass junge Frauen Streit mit ihrer Familie hatten und ins Ungewisse aufbrachen.
Als dann an Maggies Geburtstag die Karte eingetroffen war, war Eliza unendlich erleichtert gewesen, so wie die anderen auch. Im folgenden Jahr traf eine weitere Karte für Maggie ein. Im Jahr darauf noch eine. Obwohl sie keine weiteren Nachrichten enthielten, waren sie ihnen allen ein Trost. Leo hatte Vater Cavalli, und in späteren Jahren die anderen Priester, immer wieder gefragt, ob sie mehr wüssten. Sie mussten doch wissen, wo sie war. Sicher verstand ein Priester, was diese Situation für die Familie bedeutete. Die Priester waren immer verständnisvoll, aber nie sonderlich entgegenkommend. Sie müssten Sadies Entscheidung respektieren, lautete die Standardauskunft. Während all der Jahre hatten Leo und ihre Schwestern Briefe geschrieben und mit Maggies Karten und Weihnachtsgrüßen verschickt. Aber sie wurden niemals beantwortet.
Eliza versuchte häufig, sich vorzustellen, wie Sadie wohl mittlerweile aussah, wo sie lebte und was sie tat. Das machte sie mit allen Mitgliedern ihrer Familie. Sie stellte sich Leo bei seinen Reisen vor, Juliet in England, bei der Arbeit, Miranda in einer eleganten Bar, mit einem Glas Champagner in der Hand, Clementine im Busch oder an einer Küste auf einen Felsen gekauert. Maggie – bis vor drei Monaten – in einem schicken Büro in London. Aber Sadie? Sie konnte sich nichts ausmalen. Wo mochte sie sein? Bei wem? Wie mochte es ihr ergehen? War sie glücklich? Traurig? Enttäuscht? Erfüllt?
Eliza hätte sich diese Fragen selbst stellen können. Doch sie kannte die Antworten. Sie hatte lange genug darüber nachgedacht. Sie war alles zugleich.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ein älterer Herr in einem dunklen Anzug mit weißem Kragen stand am Ende der Bank.
»Nein, danke, Vater.« Sie lächelte ihn flüchtig an, dann stand sie auf und ging, so schnell sie konnte, hinaus in das abendliche Sonnenlicht.