15
»Na, wie ist es denn
so als Nesthocker?«
Sadie fuhr herum.
Liz stand neben ihr, Mirandas Freundin, die für eine Woche aus
Perth gekommen war. Sie musste fast schon über den Trubel
hinwegbrüllen. Leo gab eine Party, um die Verlobung von Juliet und
Myles zu feiern, Clementine zu ihrem Forschungsprojekt zu
gratulieren und Miranda und Eliza zu verabschieden. Die ersten
Gäste waren gegen sechs Uhr abends gekommen, gegen elf waren das
Stimmengewirr und die Musik zu voller Lautstärke angeschwollen. Leo
hatte eine wundervolle Rede gehalten und auf alle einen Trinkspruch
ausgebracht. Maggie hatte darauf bestanden, es ihm nachzutun. Jeder
Gast musste mit ihr »Auf die Faraday-Mädchen« anstoßen. Sie machte
ihre Runde noch lange, nachdem der förmliche Teil des Abends zu
Ende war.
»Was genau meinst du
damit?«, gab Sadie zurück, obwohl sie es wusste. Sie hatte das
Thema in unterschiedlichen Variationen den ganzen Abend lang hören
müssen: »Bei dir so gar keine aufregenden Neuigkeiten,
Sadie?«
Liz hatte immerhin
den Anstand, ein wenig beschämt auszusehen. »Na ja, wo deine
Schwestern alle in die Welt hinausschwärmen. Bist du da nicht auch
in Versuchung?«
Sadie wurde bewusst,
dass sie Liz noch nie leiden konnte. Sie mochte keine von Mirandas
Freundinnen. Sie waren alle affektiert und gehässig.
»Nein, Liz, ich
bleibe als Dads Haushälterin hier. Bist du so nett und erzählst es
überall herum?«
Sie ging in Richtung
Küche davon. Mochte sie doch unhöflich wirken. Sie war es so leid.
Der Rummel, den Miranda und Eliza beim Packen veranstalteten, die
ständigen Anrufe von Umzugsfirmen und Freunden aus Melbourne, die
nach Wohnungen suchten, dazu noch Mirandas Getue mit ihrer
Stewardess-Nummer, als wäre sie bereits irgendwo an Bord, was Sadie
rasend machte … Sie hatte genug.
Der einzige
Lichtblick war, dass Leo vor lauter Beschäftigung kaum noch einen
Fuß nach Denkland setzen konnte, und Sadie nutzte jede
Gelegenheit.
Es war Schicksal,
dass sie die Tagebücher entdeckt hatte. Es war das Einzige, was sie
vor dem Durchdrehen bewahrte. Sie hätte sonst nicht gewusst, was
sie mit ihrer Zeit anfangen sollte, da Maggie nun in die Schule
ging und sie damit keine Ausrede mehr hatte, nicht zu studieren.
Sie verbrachte Stunden in der Bibliothek. Sie verbarg sich dort,
falls jemand Verdacht schöpfte und sich fragte, warum sie so häufig
zu Hause war. Sie war ein großes Risiko eingegangen und hatte die
Tagebücher aus dem Schuppen herausgeschmuggelt. So war es viel
einfacher, als wenn sie auf dem Boden gekauert auf jedes Geräusch
achten musste, das vom Haus her oder vom Nachbarshund kam. In der
Bibliothek konnte sie sich in Ruhe hinsetzen. Ihr
Zehn-Seiten-Pensum war längst vergessen. Sie verschlang die Seiten
förmlich.
Es war seltsam zu
lesen, wie ihr eigener Vater und Onkel als junge Männer geschildert
wurden. Das war bislang der größte Schock – zu erfahren, dass ihre
Mutter früher mit Onkel Bill zusammen gewesen war. Wenn das die
anderen wüssten!
Tessa schien bei
ihrer ersten Begegnung mit Leo nicht sonderlich von ihm
beeindruckt. »Das Hündchen«, stand in
den ersten Einträgen. »Bills Schatten«,
hieß es in anderen. Tessa hatte gemerkt, dass Leo sich gleich in
sie verliebt hatte. »Er wird jedes Mal rot,
wenn ich mit ihm spreche. Ist ja süß.«
Seitenweise hatte
Tessa sich über ihre Gefühle für Bill und ihre stürmische Beziehung
ausgelassen. Sadie genierte sich manchmal regelrecht. Solche
Intimitäten waren nicht für Dritte bestimmt, besonders nicht, wenn
eine der beteiligten Personen der Onkel und die Erzählerin die
eigene Mutter war. Was musste ihr Vater beim Lesen gedacht haben?
Natürlich wusste er über Bill und Tessa Bescheid, aber dennoch
…
Tessa hatte bei Leo
keinesfalls der Pfeil der Liebe getroffen, erfuhr Sadie zu ihrem
großen Unbehagen. Sie hatte sich bloß mit ihm eingelassen, um Bill
zurückzugewinnen. Was anfangs auch funktioniert hatte. Bill war
eifersüchtig geworden, und es hatte eine kurze, katastrophale
Wiedervereinigung gegeben. An einem Wochenende in Manchester.
»Es tut so gut, wieder Bills Arme zu
spüren.« Aber sie hatten sich das ganze Wochenende lang nur
gestritten. »Ich wäre ja verrückt, wenn ich
Leo gehen ließe. Er ist mir so ergeben. Es ist ganz angenehm, von
jemandem so geliebt zu werden.« Es gab eine Verlobung,
gefolgt von der Hochzeit wenige Wochen später. Flitterwochen in
Paris. »Romantisch«, schrieb Tessa.
»Aber natürlich habe ich Leo nicht erzählt,
dass ich auch schon mit Bill im selben Hotel war.« Wieder
fuhr Sadie bei der Vorstellung zusammen, dass ihr Vater diese Worte
gelesen hatte.
Während Clementine
ihre Vorbereitungen für die Exkursion nach Maria Island traf und
Juliet, Miranda und Eliza ihre Sachen packten, war Sadie mit Lesen
beschäftigt. Sie war geradezu süchtig danach. Ihre Mutter hatte
einen scharfen Verstand. Viel Esprit. Einen gehässigen Humor. Sadie
fühlte sich häufig an Miranda erinnert. Tessa äußerte sich nicht
nur abfällig über Leo, sondern auch über ihre Freunde. Sadie war
dennoch fasziniert.
Juliet merkte, dass
etwas vor sich ging. Sie überraschte Sadie eines Nachmittags, als
Sadie im Wohnzimmer saß und über einen Eintrag nachdachte, den sie
in der Woche zuvor gelesen hatte – als Tessa mit Juliet schwanger
war: »Ich fühle mich so ausgefüllt, als ob ich
ganz aus Sahne wäre, üppig und weich.«
»Was sitzt du denn
hier und träumst vor dich hin?«
Sadie fuhr zusammen.
Sie war so in Gedanken versunken, in das Bild ihrer schwangeren
Mutter, dass sie erschrak, als die erwachsene Juliet neben ihr
stand. »Nichts«, sagte sie.
Sadie war versucht,
einige Tagebücher zu überspringen und gleich zu ihrer eigenen
Geburt zu blättern. Wie viele Menschen hatten schon das Glück zu
lesen, was ihre Mutter bei der Schwangerschaft empfunden hatte? Vor
allem so ausführlich.
Die Familie wuchs.
Es gab Kommentare über Juliet und Miranda, als Babys, als
Kleinkinder. Was sie Lustiges gesagt hatten. Wie unterschiedlich
sie waren, wie sehr Juliet Tessa an Leo erinnerte und wie sehr sie
sich in Miranda wiedererkannte. Als Letztes hatte Sadie gelesen,
dass Tessa gerade ihre erneute Schwangerschaft entdeckt hatte und
nicht besonders glücklich darüber war. Sie klagte über Müdigkeit
und Übelkeit. »Ich bin wie ein Uhrwerk, ein
Baby alle zwei Jahre. Leo braucht mich nur anzugucken, und schon
bin ich schwanger. Das muss der Katholik in ihm sein.« Sie
sinnierte darüber, ob sie lieber einen Jungen oder ein Mädchen
hätte und welchen Namen sie wählen sollte. Sie hatte entschieden,
dass alle Vornamen aus Büchern oder Liedern stammen sollten.
»Ich finde es toll, dass mein Name von
Tess von den d’Urbervilles stammt, also führe
ich die Tradition fort. Leo kann ja den zweiten Vornamen aussuchen.
Wenn es ein Junge wird, nenne ich ihn wohl Darcy.« Sadie
konnte sich gerade noch beherrschen, nicht laut zu rufen: »Es wird
ein Mädchen! Du wirst sie Eliza nennen!« Das hieß, Sadies Geburt
war nur noch ein Tagebuch – zwei Jahre – entfernt.
Gelegentlich überkam
sie das schlechte Gewissen. Nicht nur, weil sie die Tagebücher las
und unerlaubterweise in Leos Schuppen ging, sondern weil sie ihr
Wissen vor ihren Schwestern verheimlichte. Sie hätte es Clementine
eines Nachmittags beinahe erzählt, als sie friedlich beisammen in
der Küche waren. Was in letzter Zeit nicht häufig
vorkam.
»Wünschst du dir
immer noch, du könntest Mum fragen, wie es für sie mit Kindern
war?«, hatte sie gefragt.
»Natürlich«, hatte
Clementine gesagt. »Es tut mir weh, wenn ich andere Mütter mit
ihren eigenen Müttern sehe. Ich würde es mir ebenso für Maggie wie
für mich wünschen. Ich hätte es schön gefunden, wenn sie ihre
Großmutter gekannt, all ihre Geschichten gehört
hätte.«
Sadie war von
Clementines Offenheit überrascht. Und ein wenig
beschämt.
Beim Weiterlesen
stieß Sadie auf Stellen, die für Clementine bedeutsam gewesen
wären. Die Tatsache, dass Juliet bis zu ihrem vierten Lebensjahr
nachts nicht durchgeschlafen hatte und Tessa fix und fertig war,
erschöpft von der Arbeit mit einem kleinen Mädchen und einem Baby –
Miranda – und erst recht zwei Jahre später, als Eliza auf die Welt
kam und Tessa nun drei Töchter unter fünf Jahren hatte. Es gab Tage
ohne einen einzigen Eintrag. Sadie las mit besonderem Vergnügen,
dass Miranda ein sehr schwieriges Baby gewesen war, sich nur schwer
füttern ließ und sich ständig bekleckerte. Außerdem hatten ihre
Windeln am übelsten gestunken. In dem Tagebuch, das Sadie gerade
las, war Eliza zwei Monate alt. Sie war ein sehr aktives Kind,
hatte Sadie grinsend gelesen. »Dieses Baby
strampelt und windet sich den ganzen Tag.«
Leo wurde kaum
erwähnt. Er schien viel zu arbeiten, kam zum Mittagessen nach Hause
und half Tessa im Haushalt, ging wieder zur Arbeit und kam dann vor
sechs Uhr zum Abendessen zurück. Sie sprach kaum von seiner Stelle
in einer Baumschule außerhalb Londons, stattdessen über das Wetter,
über den ersten Schnee und über neue Rezepte, die sie ausprobierte.
»Juliet ist in der Küche eine große
Hilfe.« Sadie grinste erneut. Gelegentlich wurde Bill
erwähnt, wenn er angerufen oder einen Brief geschickt hatte. Sadie
versuchte, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie irrte sich bestimmt
nicht. Ihre Mutter hatte immer noch eine Schwäche für
Bill.
Clementine, Juliet,
Miranda und Eliza hätten das alles natürlich auch furchtbar gerne
gelesen. Und sie würden es ja lesen.
Nur jetzt noch nicht. Nächsten Monat vielleicht. Sadie wollte erst
selbst alle Tagebücher lesen. Danach würde sie es ihren Schwestern
erzählen. Wie sie wohl reagieren würden? Ob sie entscheiden würden,
Leo um Erlaubnis zu bitten, oder ob sie die Bücher heimlich lesen
würden? Das mussten sie untereinander ausmachen.
Im Moment las Sadie
erst einmal lächelnd weiter. Denn jetzt kam der Höhepunkt.
Sie kam auf die Welt.