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Gegen fünf Uhr hatte
Maggie zwei weitere Tagebücher gelesen. Sie hatte sich den ganzen
Tag lang auf Unterbrechungen einstellen und die Tagebücher immer
schnell verstecken müssen, wenn sie Schritte auf der Treppe hörte.
Sie hatte es sich in dem Sessel am Fenster bequem gemacht, die
Tagebücher neben ihr, Alibi-Bücher vor ihr auf dem Tisch. Alle
waren zu ihr gekommen. Clementine, um zu sehen, ob es ihr gut ging,
und um sich in Ruhe mit ihr auszutauschen. Juliet, um sie zu
fragen, ob sie Mittagessen wollte. Eliza, um ihr zu sagen, wie
beeindruckt sie von Gabriels Arbeitsmoral war.
Miranda hatte
hereingeschaut, um Maggies Rat bezüglich der Kleiderfrage
anlässlich ihres Einzelinterviews einzuholen. Zur Wahl standen ein
hellrotes Seidenkleid im Kimonostil und ein Hosenanzug aus
cremefarbenem Stoff mit Leopardenfellbesatz an Kragen und
Manschetten. Maggie fand, dass beide Outfits sehr glamourös und in
einem irischen Bauernhaus vollkommen fehl am Platz waren. Als sie
dezent darauf hingewiesen hatte, hatte Miranda bloß eine Augenbraue
hochgezogen. »Selbstverständlich. Ich
bin vollkommen fehl am Platz in einem irischen
Bauernhaus.«
Maggie war zweimal
nach unten gegangen. Eliza hatte recht, Gabriel war unglaublich
professionell. Er war immer noch entspannt, scherzte mit allen,
aber er machte seine Arbeit, hielt alle auf Trab und stellte
genügend Fragen, um den Fluss der Erinnerungen nicht abreißen zu
lassen. Er erklärte Leo, dass er den Film später so schneiden
wollte, dass man nur die Stimmen der anderen hören würde, nicht
seine. »Das gibt dem Ganzes etwas Intimes«, erklärte er. »Es wird
dann so wirken, als ob sie ohne Anstoß von außen über ihre
Erinnerungen sprechen würden.«
Leo fand es
großartig.
Clementine flüsterte
Maggie zu: »Er weiß sogar, wie man Leo in den Griff bekommt,
Maggie. Den musst du unbedingt behalten. Genau so jemand brauchen
wir in dieser Familie.«
Sie war froh, wieder
in ihrem Zimmer zu sein. In New York war ihr die vorgetäuschte
Romanze noch wie ein vergnügliches Spiel erschienen. Hier, in
Donegal, wurde sie zu einer großen Lüge. Und Lügen gab es wahrlich
schon genug.
Natürlich wollten
alle wissen, was sie in ihrem Zimmer tat. »Endlich wieder ein
bisschen lesen«, sagte sie.
»Sie macht das mir
zuliebe«, sagte Gabriel. »Sie weiß, dass ich in ihrer Gegenwart
verunsichert bin.«
Während der
Mittagspause gelang es Maggie, kurz mit ihm allein zu sein. Sie
gingen in den Garten, lehnten sich an die Mauer und sahen über das
Tal hinüber zum Meer.
»Ich glaube, der
Posten als offizieller Chronist der Faraday-Familie ist dir seit
heute sicher«, sagte sie. »Leo ist restlos begeistert. Er will,
dass ihm ab sofort auf Schritt und Tritt eine Crew von
Dokumentarfilmern folgt.«
»Wenn er jemanden
findet, der bei seinem Tempo mithalten kann. Hatte er immer schon
so viel Energie?«
»Immer schon«, sagte
Maggie.
»Was ist mit den
anderen? Hat es immer solche Spannungen zwischen ihnen
gegeben?«
»Spannungen?«
»Ich habe sie
gebeten, sich für eine Szene alle zusammen auf die Couch zu setzen
und miteinander zu reden, als wäre die Kamera nicht da. Es war, als
hätten vier Fremde vor mir gesessen.«
»Sie haben sich ja
auch eine Weile nicht gesehen.«
»Aber sie sind doch
Schwestern. Ich dachte immer, Schwestern müssten sich
vertragen.«
Bis zu diesem Tag
hätte Maggie vehement bestritten, dass ihre Mutter und ihre Tanten
sich nicht vertrugen. Aber vielleicht hatte sie sich geirrt. »Es
dauert wohl einige Tage, bis sich alle wieder aneinander gewöhnt
haben. Vermutlich war das immer schon so, es ist mir nur noch nie
aufgefallen.«
»Finden diese
Treffen jedes Jahr statt?«
»Zweimal pro
Jahr.«
»Zweimal pro Jahr?
Seit wann?«
»Mein ganzes Leben
lang«, sagte Maggie.
Er pfiff leise. »Und
da wunderst du dich über Spannungen? Hat sich denn nie jemand
geweigert zu kommen?«
Nur sie selbst, fiel
Maggie in dem Moment auf. Und was war daraufhin nicht alles
geschehen. »Es hat hin und wieder Diskussionen gegeben«, sagte sie
und wog ihre Worte sorgsam ab. »Aber nun sind wir alle hier. Und
zwar deinetwegen, was dir hoffentlich bewusst ist.«
»Oh, das ist es.
Obwohl nicht alle davon begeistert sind.«
»Nicht?«
»Ich habe gehört,
wie Eliza zu Clementine gesagt hat, dass ihr Kommen gar nicht nötig
war, denn – oh, mir wird gerade bewusst, dass ich dir das nicht
erzählen kann. Das war viel zu schmeichelhaft für
mich.«
»Jetzt musst du es
mir erst recht erzählen.«
»Na schön, aber ich
gebe nur wieder, was ich gehört habe. Eliza hat zu Clementine
gesagt, dass Leo sie ihrer Meinung nach alle unter falschem Vorwand
nach Donegal gelockt hätte, denn es wäre doch offensichtlich, dass
wir beide füreinander geschaffen wären und dass ich – wie hat sie
es auch noch formuliert? -, dass ich ein ›wahrer Glücksgriff‹
wäre.«
»Nein!«
Gabriel nickte. »Es
kommt noch besser. Dann hat sie gesagt: ›Maggie ist verrückt nach
ihm, das ist ja wohl nicht zu übersehen. So habe ich sie mit Angus
niemals erlebt.‹«
Maggie errötete.
»Das hat sie nicht gesagt.«
»Und ob. Und
Clementine hat sie darin noch bestärkt. Und dann haben beide ein
paar Gemeinheiten über Angus losgelassen, die ich auch recht
interessant fand, jedoch bei Weitem nicht so interessant wie ihre
Kommentare über mich.«
»Das erfindest du
doch bloß.« Sie fühlte sich ausgesprochen unwohl.
»Ganz bestimmt
nicht, das schwöre ich. Glückwunsch, Maggie. Ich habe bisher
angenommen, ich würde als dein dich liebender Verlobter eine
hervorragende schauspielerische Leistung abliefern, aber du bist
mir offensichtlich um Klassen voraus.«
»Schauspielerische
Leistung?« Sie fing sich schnell. »O ja, danke. Aber du bist auch
wirklich hervorragend. Bis auf den Satz, dass du in meiner
Gegenwart verunsichert bist.«
»Aber es stimmt. Bei
deinem Anblick fangen meine Hände an zu zittern und mein Herz
schlägt schneller.«
»Das liegt sicher am
Jetlag.«
Hinter ihnen
knirschte der Kies, und es roch nach Rauch. Miranda kam zu ihnen.
Gabriel sprach lauter. »Bitte, Maggie, hab doch Erbarmen mit einem
schwer arbeitenden Mann und lass mich heute Nachmittag in
Ruhe.«
Miranda lehnte sich
an die Mauer und zog eine Augenbraue hoch. »Glaub mir, Maggie,
dieser junge Mann hier macht König Silberzunge alle
Ehre.«
»Silberhaar,
Silberzunge«, sagte Gabriel.
»Die Haarfarbe ist
doch hoffentlich echt, oder?«
»Einhundert
Prozent«, sagte Gabriel.
»Dann bin ich
beruhigt.« Miranda wartete einen Moment, dann lächelte sie beide
an. »Wir wären dann wieder so weit, Mr. Scorsese.«
Maggie wollte gerade
weiterlesen, als Leo in ihr Zimmer kam. Der Privatdetektiv hatte
angerufen. Er hatte seinen Bericht abgeschlossen.
»Und?«
Leo senkte die
Stimme. »Ich konnte nicht nach Einzelheiten fragen. Die Mädchen
waren in der Nähe. Aber ich habe ihn gebeten, mir seinen Bericht
per Kurier zu schicken. Auf schnellstem Weg.«
»Ja und, ist sie
es?«
»Er ist sich zu
neunzig Prozent sicher. Er hat ein aktuelles Foto, zusätzliche
Informationen und ihre Privatanschrift. Aber das letzte Wort, sagt
er, liegt bei mir. Bei uns.«
Das gab Maggie den
nötigen Antrieb, in Tessas Tagebüchern weiterzulesen. Die erste
Hälfte war schon geschafft. Maggie hatte Tessas Schilderungen aus
ihrer Zeit als junge Frau in London gelesen, bevor sie Leo begegnet
war. In dem Tagebuch, das sie gerade las, waren Tessa und Leo
bereits verheiratet, Juliet drei Jahre alt und Miranda ein
Säugling.
Maggie las zehn
weitere Seiten, dann ließ sie das Buch sinken. Es war ein seltsames
Gefühl. Eine Etage unter ihr filmte Gabriel die anekdotischen
Erinnerungen an eine geliebte Ehefrau und Mutter. Hier oben las
Maggie Tessas eigene Worte. Ein und dieselbe Person, aus zwei
völlig verschiedenen Blickwinkeln. Aber welcher war der
richtige?
Maggie wollte sich
mit ihrer Meinung noch nicht festlegen, immerhin musste sie noch
vier Tagebücher lesen, aber sie konnte sich des Eindrucks, den sie
sich bisher von ihrer Großmutter gebildet hatte, nicht
erwehren.
Tessa war
abscheulich.
Gemein. Verzogen.
Gehässig. Grausam. Manipulativ. Hochnäsig. Eitel.
Ungeduldig.
Während des Lesens
hatte sich Maggie immer wieder um eine ausgewogene
Betrachtungsweise bemüht, denn sie wollte ihren Empfindungen nicht
trauen. Tessa musste ihr selbstsüchtig vorkommen, schließlich waren
es ihre Tagebücher. Natürlich ging es um sie. Aber je mehr sie las,
umso schwerer fiel es ihr, sich eine andere Meinung zu bilden.
Tessa war ihren Freunden gegenüber grausam, bezeichnete sie als
farblos und langweilig. Sie war weit mehr an ihrem eigenen Aussehen
interessiert. Ganze Seiten waren Beschreibungen ihrer Kleider
gewidmet, und Komplimenten, die sie bekommen hatte.
Maggie war froh,
dass Leo ihr von Tessa und seinem Bruder erzählt hatte. Sonst hätte
sie das vollkommen schockiert. Doch selbst mit diesem Wissen tat es
ihr weh zu lesen, was Tessa von Leo gehalten hatte, wie abfällig
sie sich über ihn äußerte und wie sie ihn, sehr zu seinem Nachteil,
mit Bill verglich: »Unser Schoßhündchen ist
uns heute wieder einmal den ganzen Tag lang
gefolgt.«
Es kam noch
schlimmer. Auf den folgenden Seiten hatte Maggie erfahren, dass
Tessa nur aus dem einen Grund etwas mit Leo angefangen hatte,
nämlich um Bill eifersüchtig zu machen, und dass sie eine Zeit lang
heimlich mit beiden zusammen gewesen war. Selbst als sie sich
endgültig entschieden hatte, bei Leo zu bleiben, hatte sie sich
noch abschätzig über ihn geäußert. Von Leo verwöhnt zu werden,
behagte ihr sehr, seine Liebe zu erwidern, interessierte sie
nicht.
Maggie hatte
gehofft, dass sich ihre Großmutter ändern würde, als sie Mutter
wurde. Dass sie weicher würde, mehr wie die Frau, die Leo
vergötterte. Anfangs war es auch so. Es gab einen berührenden
Absatz über Tessas Gefühle während ihrer ersten Schwangerschaft.
Detaillierte Beschreibungen von Juliet und, kaum zwei Jahre später,
von Miranda als Babys.
Aber das währte nicht lange. Zwei
Stunden Lektüre und drei Lebensjahre weiter wurde Tessas Tonfall
wieder schnippisch, ihr Klagen laut. Sie fühlte sich mit ihren
kleinen Kindern eingesperrt. Sie war die Hausarbeit leid, obwohl –
soweit Maggie das aus dem Gelesenen schließen konnte – Leo ohnehin
das meiste übernommen hatte. Er war mittags von seiner Arbeit in
einer Forstwirtschaft nach Hause gekommen und hatte das Essen und
den Abwasch gemacht. Nur, dass Tessa es so nicht formuliert hatte:
Leo hat doch wirklich die Frechheit besessen, mich zu fragen, ob ich diese Woche das Abendessen machen könnte. Für ihn ist das einfach, er kann ja nach Belieben kommen und gehen – er hockt ja nicht ständig mit den Babys im Haus.Miranda weint die ganze Zeit. Meine Nachbarin hat mir geraten, einen Schluck Whiskey in die Milch zu mischen. Das war die reinste Wohltat, für mich wie auch für sie!Ich bin schon wieder schwanger! Mit Eliza, dachte Maggie. Und die anderen Frauen sind auch noch alle neidisch.
Während die Familie
wuchs, änderte sich eines nicht. Leos Bruder Bill war ständiger
Gast im Haus.
Bill hat heute sein Glück bei mir versucht.
Maggie hielt den
Atem an.
Ich habe ihm gesagt, dass er die Pfoten wegnehmen soll. Wenn er meint, dass er einfach so anmarschieren und von mir haben kann, was er will, dann täuscht er sich, selbst wenn er im Bett viel besser als Leo ist. Das Lustige ist, ich glaube, Bill ist wirklich eifersüchtig auf Leo. Da kann man nur sagen, wer zuletzt lacht, lacht am besten! Ich wünschte, ich könnte aus den beiden einen Faraday machen. Das wäre der perfekte Mann.
Wenn Leo diese
Zeilen lesen würde, würde es ihn umbringen.
Tessa musste doch
auch gewinnende Eigenschaften gehabt haben. Maggie bemühte sich
sehr, sie zu finden. Vielleicht ihr Sinn für Humor? Denn wider
Willen musste Maggie an manchen Stellen laut lachen. Tessas
Sprachgewandtheit erinnerte sie an jemanden. Miranda. Die gleiche
Boshaftigkeit, der gleiche bissige Humor. Aber bei Miranda verbarg
sich dahinter Gutherzigkeit. Maggie hatte im Laufe ihres Lebens oft
genug davon profitieren dürfen. Bei Tessa konnte sie keinen Hinweis
darauf entdecken.
»Maggie? Lebst du
noch?« Miranda erschien in der Tür. »Du bist so still, das macht
mich nervös. Was liest du denn bloß? Wir haben dich seit Stunden
nicht mehr gesehen.«
»Anna Karenina«, log Maggie. Sie hatte gerade noch
Zeit gehabt, die Tagebücher unter die Matratze zu schieben. Sie
hatte mit Bedacht das dickste Buch gewählt und sich den Tolstoi aus
dem Bücherregal genommen.
»Kann ich dir eine
kleine nachmittägliche Aufmunterung anbieten? Mich juckt’s in den
Fingern, eine Weinflasche zu öffnen, und niemand will
mitmachen.«
»Jetzt noch nicht,
danke.«
Der nächste Besucher
war Gabriel. Er hatte sich in seinem Zimmer eine Kapuzenjacke
geholt. Es war kühl geworden, obwohl die Sonne durch die Fenster
schien. Maggie hatte sich einen farbigen Quilt um die Füße
gewickelt, ihren Sessel in die Sonne geschoben und wärmte sich dort
wie eine zufrieden schlummernde Katze.
»Empfängst du
Besuch?«, fragte er. »So ganz allein hier oben?«
»Wie die wahnsinnige
Mrs. Rochester auf dem Dachboden?«
»Das hätte ich nicht
zu sagen gewagt.«
»Wie läuft es da
unten?«
»Miranda hat recht.
Ich werde mich vielleicht doch noch beim Sundance Film Festival
bewerben. Nur der Titel steht noch nicht fest.«
»Das
Tollhaus?«
»Kurz und treffend.
Ich dachte aber eher an Leo und seine
Töchter. Oder Spannungen, Lügen und
Video.«
»Wer lügt
denn?«
»Nun, allen voran
du, ich und Leo. Aber wir sind nicht die Einzigen.«
»Meine Mutter und
meine Tanten auch?«
»In
unterschiedlichem Maße, ja.«
»Worüber?«
»Das kommt darauf
an, wonach man sie fragt.«
»Und wieso bist du
davon überzeugt, dass sie lügen?«
»Zunächst einmal ist
da ihre Körpersprache. Außerdem ist das alles einfach zu schön, um
wahr zu sein.« Er ging zum Fenster und stellte sich neben Maggie.
»Es tut mir leid, wenn ich zynisch klinge, Maggie, aber so, wie sie
das schildern, muss ihre Kindheit eine Mischung aus Meine Lieder – Meine Träume und Der König und ich gewesen sein. Immer nur
Heiterkeit, niemals ein böses Wort. Das Leben mit ihrer Mutter muss
ein einziger Spaß gewesen sein. War es denn wirklich
so?«
Noch vor einem Tag
hätte Maggie dies bestätigt. Clementine und ihre Tanten verteidigt
und gesagt, dass ihre Schilderungen natürlich der Wahrheit
entsprachen. Tessa war die wunderbarste, warmherzigste, lustigste,
liebevollste Mutter der Welt gewesen. Aber konnte sie das jetzt
noch glauben? Nachdem sie gelesen hatte, wie genervt Tessa sein
konnte, wie gelangweilt sie bisweilen war, wie abfällig sie sich
nicht nur über ihre Mutterschaft, sondern auch über ihren Mann
äußerte. Das mussten sie doch alle irgendwie gespürt haben. Hatten
sie denn alle die schlechten Zeiten verdrängt? Oder als Kinder
einfach nicht bemerkt, was um sie herum geschah? Maggie war sehr
verwirrt.
»Vielleicht war es
ja wirklich so«, sagte sie, immer noch darum bemüht, für ihre
Familie einzustehen. »Nur, weil sie von glücklichen Erinnerungen
schwärmen, heißt das nicht, dass sie keine haben. Oder hat deine
Kamera einen integrierten Lügendetektor?«
»Den brauche ich
nicht. Sie lügen alle. Glaub mir, ich habe in Washington viel
gelernt. Als Kameramann ist man wie ein Kellner. Ich habe die
Politiker zwischen den Aufnahmen reden hören, das Flüstern ihrer
Berater gehört und dann gesehen, wie sie sich vor der Kamera
verwandelt haben. Ich habe durch meine Linse alles
gesehen.«
»Ich glaube gerne,
dass Politiker lügen. Aber warum sollten meine Mutter und meine
Tanten das tun?«
»Vielleicht aus
demselben Grund, aus dem sie alle so kurzfristig von weit her
geeilt sind. Deinem Großvater zuliebe.«
Maggie zögerte. War
es so? Sprachen sie deshalb so positiv über Tessa? Um Leos willen?
Selbst wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, gefiel es Maggie
nicht, das von Gabriel gesagt zu bekommen. »Er ist ein alter Mann.
Sie lieben ihn. Und ich dachte, du magst ihn auch.«
»Das tue ich ja. Ich
mag ihn sogar sehr und genieße seine Gesellschaft über die Maßen.
Aber ich bin froh, dass ich nicht unter seiner Kuratel
stehe.«
»Jetzt gehst du aber
ein wenig zu weit.«
Gabriel blieb ruhig.
»Maggie, das musst du doch erkennen.«
»Was
erkennen?«
»All die Spannungen
haben nur mit Leo und seinen Traditionen zu tun. Die Spannungen
zwischen deiner Mutter und deinen Tanten. Ich habe sie alle
gebeten, mir ein wenig über sich selbst zu erzählen. Ich dachte,
auf diese Weise würden sie sich ein wenig lockern, aber keine hat
mir die Wahrheit erzählt. Ich habe nur ›Ich bin ja so glücklich‹
gehört, ›Mein Leben ist perfekt, und Leo war ein großartiger Vater
und Tessa eine wundervolle Mutter‹, aber ihre Körpersprache hat
etwas ganz anderes gesagt.«
»Vielleicht macht
die Kamera sie ja nervös.«
»Sie machen einander
nervös, wenn du mich fragst.«
»Hast du die anderen
gebeten, unterdessen nach draußen zu gehen?«
»Vorgeschlagen habe
ich es, aber sie sind alle geblieben. Sie wollten alles
hören.«
»Und du meinst, in
dem Moment haben sie alle gelogen?«
Er nickte. »Sie
haben Leo und auch einander angelogen. Den ganzen Morgen
über.«
Nicht nur den ganzen
Morgen, und nicht nur Leo oder einander. Sie hatten doch auch sie
selbst all die Jahre belogen. Sie hatten alle gewusst, dass Sadie
nicht durchgebrannt war, um Hippie zu werden. Sie hatten alle die
Umstände ihres Verschwindens gekannt. Doch niemand hatte ihr jemals
die Wahrheit gesagt. Wenn sie darüber lügen konnten, worüber dann
noch?
Gabriel sah aus dem
Fenster zur Bucht. Maggie nutzte die Gelegenheit, ihn genau zu
mustern. So wütend sie auch war, sie durfte ihm eigentlich nicht
böse sein. Er war schließlich nach Donegal eingeladen worden, um
sie zu beobachten. Sie hatte ihm bereitwillig alles aus ihrer
Kindheit, über ihre Mutter und ihre Tanten erzählt. Das, was sie in
den Tagebüchern gelesen hatte, hatte sie schon genug verstört, und
Gabriels Bemerkungen taten ein Übriges. Er war in sehr kurzer Zeit
bis ins Herz ihrer Familie vorgedrungen. Sie stellte sich vor, wie
Angus wohl auf die Ereignisse der letzten Tage reagiert hätte. Sehr
schlecht, das stand fest. Er hatte sich für ihre Familie nie Zeit
genommen. Gabriel war anders. Er war neugierig. Mehr als das. Es
war, als ob es ihn wirklich berührte.
Er drehte sich um
und erwischte sie dabei, wie sie ihn anstarrte. »Ein Königreich für
deine Gedanken.«
»Ich habe über dich
nachgedacht. Darüber, dass du einen sehr guten Familientherapeuten
abgeben würdest, solltest du dich entscheiden, dem Putzen und den
Hunden den Rücken zu kehren.«
»Wirst du jetzt
sarkastisch?«
»Nein, ich meine das
ernst. Du gehst bei meiner Familie sehr gründlich zu
Werke.«
Er lächelte ihr zu.
»Bei anderen ist das auch einfach. Aber warte, bis du meine übrige
Familie kennenlernst. Du bekommst deine Revanche, das verspreche
ich dir.«
Sie wurden gestört,
bevor Maggie dazu kam, auf seine saloppe Bemerkung, dass er sie
seiner Familie vorstellen wollte, zu reagieren.
»Na, ihr zwei
Turteltäubchen.« Es war Juliet. »Cocktailstunde. Miranda besteht
darauf.«
»Danke, Juliet«,
sagte Maggie. »Wir kommen gleich.« Sie wartete, bis ihre Tante die
quietschende Holzdiele am Ende des Flurs erreicht hatte. »Mit
manchem hast du vielleicht sogar recht. Aber dass Juliet wirklich
glücklich ist, weiß ich sicher. Sie hat ein tolles Leben mit ihrem
Mann. Sie sind unglaublich erfolgreich, ständig auf Reisen
…«
»Ich glaube, da
irrst du dich.«
»Ach
ja?«
Er nickte. »Wenn du
mich fragst, ist Juliet von allen am unglücklichsten.«
Maggie versuchte,
ihre Familie durch Gabriels Augen zu sehen. Auf den ersten Blick
wirkte es wie das übliche Faraday’sche Juli-Weihnachten. Juliet
hatte ganz offensichtlich seit ihrer Ankunft alles dafür
vorbereitet. Das Esszimmer sah wunderschön aus. Es wurde nur von
Kerzen erleuchtet, im Hintergrund spielten Weihnachtslieder, und
das Kaminfeuer flackerte anheimelnd. Damit die Stimmung noch
weihnachtlicher wurde, hatte sie die Rollläden
heruntergelassen.
Der Tisch war mit
roten Blumen, silbernem Lametta und Girlanden aus künstlichem Efeu
geschmückt. Um den kleinen Weihnachtsbaum herum fand eine verkürzte
Geschenkzeremonie statt, da die Hälfte von Maggies Päckchen auf dem
Weg nach Australien und Singapur war. Maggie gab Gabriel eine
Flasche edlen irischen Whiskeys, die sie eilig am Flughafen gekauft
hatte. Leo schenkte ihm das Gleiche. Gabriel nahm beide Flaschen
lächelnd entgegen und gab dann eine gleich wieder an Leo
zurück.
Leo machte wie
üblich aus dem Auspacken eine große Schau und zog augenblicklich
alles Tragbare an – eine Krawatte von Eliza, einen Schal von
Juliet, einen Ledergürtel von Clementine. Er tupfte etwas von dem
Aftershave auf, das ihm Miranda geschenkt hatte. Er jubelte über
die Pralinenauswahl, die ihm Maggie aus New York geschickt
hatte.
Als sie sich an den
Tisch setzten, machte er eine Flasche teuren Champagners auf, eine
weitere Juli-Weihnachtstradition. Sie ließen ihre Kracher knallen,
trugen ihre Papierhüte und erzählten sich ihre üblichen Witze.
Miranda schilderte eine lustige Anekdote von der Arbeit, hatte aber
nicht ganz die Aufmerksamkeit, die sie sich wohl gewünscht hatte.
Leo lachte als Einziger. Juliet war mit den Essensvorbereitungen
beschäftigt, trug Platten herein und lehnte alle Hilfsangebote ab.
Clementine tat so, als würde sie zuhören, aber Maggie konnte an
ihrem Gesichtsausdruck sehen, dass sie in Gedanken weit weg war,
vermutlich in der Antarktis. Eliza lächelte nicht einmal, sie sah
Miranda nur mit ausdrucksloser Miene an. Gabriel filmte. Leo hatte
ihn gebeten, einige Minuten des gemeinsamen Essens auf Film zu
bannen.
Neben dem
Überreichen der Geschenke und dem Erzählen der Witze gab es noch
eine Vielzahl anderer Rituale. Sie hatten sich im Laufe der Jahre
auf Leos Drängen hin eingespielt. Der Toast auf Tessa. Der Toast
auf Sadie. Dabei sah Maggie zu Leo. Sie wusste, was er dachte.
Vielleicht würde Sadie das nächste Mal, wenn sie auf ihr Wohl
anstießen, dabei sein.
Juliets Essen war
wie immer wunderbar. Auf dem langen Tisch standen perfekt
zubereitete thailändische Gerichte: milde Teigtaschen mit
Currysauce, scharfe Fleischsalate, farbige, würzige Currys;
frischer Koriander, Knoblauch, Limone und Chili dufteten. Während
die Platten herumgereicht wurden, unterhielt Leo sie alle mit
skurrilen Fakten über Thailand. Eine weitere Tradition im Rahmen
ihrer multikulturellen Weihnachtsfeste.
Das letzte Ritual
vor dem Dessert aus Klebreis mit Mango und Kokosnuss war die
Wunschrunde, bei der sich jedes Mitglied der Familie etwas für das
kommende Jahr wünschte. Maggie hatte plötzlich das Gefühl, inmitten
von Schauspielern zu sitzen, die eine Rolle spielten und Sätze
rezitierten, die schon vor langer Zeit ihren Sinn verloren
hatten.
Aber wer spielte
welche Rolle? Miranda spielte wie immer die Flachsige, Sarkastische
mit der scharfen Zunge. Sie wirkte, zumindest an der Oberfläche,
von allen am unabhängigsten. Juliet – ständig auf den Beinen,
kochte, bediente, räumte ab. Vielleicht hasste sie diese Rolle,
aber sie erlaubte niemandem, ihr zu helfen. Maggie hatte den
Versuch vor langer Zeit aufgegeben. Eliza war wie immer die
Reservierte, hielt sich zurück. Sie sprach nur, wenn sie
angesprochen wurde, und auch nur allgemein über ihre Arbeit, ohne
ins Detail zu gehen. Und Clementine? Maggie sah zu ihrer Mutter.
Sie unterhielt sich mit Leo, schilderte ihm lebhaft, worum es bei
ihrem neuesten Forschungsprojekt in der Antarktis ging, und sonnte
sich in Leos Aufmerksamkeit und Stolz. Maggie war immer davon
überzeugt gewesen, dass es in Clementines Leben nur zwei große
Lieben gab: die Arbeit und eben Maggie. Aber hatte Clementine
vielleicht mehr gewollt? Ein anderes Leben? Eines, das ihr verwehrt
geblieben war, weil sie Maggie bekommen hatte?
Und Sadie? Die
abwesende und doch so präsente Sadie. Wenn sie in ihrer Mitte
gewesen wäre, wie wäre der Abend dann verlaufen?
»Maggie?«
Alle sahen sie
an.
»Du bist an der
Reihe.«
»Womit?«
»Mit deinem Wunsch
für das kommende Jahr.«
»Entschuldigt bitte.
Ich war ganz in Gedanken. Du zuerst, Gabriel. Dann mache ich
weiter.«
Gabriel stand wieder
hinter der Kamera. »Ich arbeite. Und ich gehöre nicht zur Familie.
Ich würde lieber auf meinem Beobachtungsposten bleiben, wenn ihr
nichts dagegen habt.«
»Du gehörst doch
fast zur Familie«, sagte Juliet.
»Na los, Gabriel«,
sagte Miranda. »Nur ein kleiner Wunsch.«
Er schwieg einen
Moment, dann erhob er sein Glas. »Ich wünsche allen hier, dass sie
Wahrheit und Glück finden.«
»Auf Wahrheit und
Glück«, echoten die Faradays und erhoben ebenfalls ihre
Gläser.
»Maggie?«, fragte
Leo.
»Ich schließe mich
dem an.«
»Ach, nun komm
schon, Maggie«, sagte Miranda. »Nur weil du verlobt bist, heißt das
doch nicht, dass du nicht mehr selbstständig denken
darfst.«
»Ich folge Gabriel
nicht. Ich wünsche mir wirklich dasselbe. Wahrheit und
Glück.«
Sie brachten den
Trinkspruch ein zweites Mal aus.