38

Gegen fünf Uhr hatte Maggie zwei weitere Tagebücher gelesen. Sie hatte sich den ganzen Tag lang auf Unterbrechungen einstellen und die Tagebücher immer schnell verstecken müssen, wenn sie Schritte auf der Treppe hörte. Sie hatte es sich in dem Sessel am Fenster bequem gemacht, die Tagebücher neben ihr, Alibi-Bücher vor ihr auf dem Tisch. Alle waren zu ihr gekommen. Clementine, um zu sehen, ob es ihr gut ging, und um sich in Ruhe mit ihr auszutauschen. Juliet, um sie zu fragen, ob sie Mittagessen wollte. Eliza, um ihr zu sagen, wie beeindruckt sie von Gabriels Arbeitsmoral war.
Miranda hatte hereingeschaut, um Maggies Rat bezüglich der Kleiderfrage anlässlich ihres Einzelinterviews einzuholen. Zur Wahl standen ein hellrotes Seidenkleid im Kimonostil und ein Hosenanzug aus cremefarbenem Stoff mit Leopardenfellbesatz an Kragen und Manschetten. Maggie fand, dass beide Outfits sehr glamourös und in einem irischen Bauernhaus vollkommen fehl am Platz waren. Als sie dezent darauf hingewiesen hatte, hatte Miranda bloß eine Augenbraue hochgezogen. »Selbstverständlich. Ich bin vollkommen fehl am Platz in einem irischen Bauernhaus.«
Maggie war zweimal nach unten gegangen. Eliza hatte recht, Gabriel war unglaublich professionell. Er war immer noch entspannt, scherzte mit allen, aber er machte seine Arbeit, hielt alle auf Trab und stellte genügend Fragen, um den Fluss der Erinnerungen nicht abreißen zu lassen. Er erklärte Leo, dass er den Film später so schneiden wollte, dass man nur die Stimmen der anderen hören würde, nicht seine. »Das gibt dem Ganzes etwas Intimes«, erklärte er. »Es wird dann so wirken, als ob sie ohne Anstoß von außen über ihre Erinnerungen sprechen würden.«
Leo fand es großartig.
Clementine flüsterte Maggie zu: »Er weiß sogar, wie man Leo in den Griff bekommt, Maggie. Den musst du unbedingt behalten. Genau so jemand brauchen wir in dieser Familie.«
Sie war froh, wieder in ihrem Zimmer zu sein. In New York war ihr die vorgetäuschte Romanze noch wie ein vergnügliches Spiel erschienen. Hier, in Donegal, wurde sie zu einer großen Lüge. Und Lügen gab es wahrlich schon genug.
Natürlich wollten alle wissen, was sie in ihrem Zimmer tat. »Endlich wieder ein bisschen lesen«, sagte sie.
»Sie macht das mir zuliebe«, sagte Gabriel. »Sie weiß, dass ich in ihrer Gegenwart verunsichert bin.«
Während der Mittagspause gelang es Maggie, kurz mit ihm allein zu sein. Sie gingen in den Garten, lehnten sich an die Mauer und sahen über das Tal hinüber zum Meer.
»Ich glaube, der Posten als offizieller Chronist der Faraday-Familie ist dir seit heute sicher«, sagte sie. »Leo ist restlos begeistert. Er will, dass ihm ab sofort auf Schritt und Tritt eine Crew von Dokumentarfilmern folgt.«
»Wenn er jemanden findet, der bei seinem Tempo mithalten kann. Hatte er immer schon so viel Energie?«
»Immer schon«, sagte Maggie.
»Was ist mit den anderen? Hat es immer solche Spannungen zwischen ihnen gegeben?«
»Spannungen?«
»Ich habe sie gebeten, sich für eine Szene alle zusammen auf die Couch zu setzen und miteinander zu reden, als wäre die Kamera nicht da. Es war, als hätten vier Fremde vor mir gesessen.«
»Sie haben sich ja auch eine Weile nicht gesehen.«
»Aber sie sind doch Schwestern. Ich dachte immer, Schwestern müssten sich vertragen.«
Bis zu diesem Tag hätte Maggie vehement bestritten, dass ihre Mutter und ihre Tanten sich nicht vertrugen. Aber vielleicht hatte sie sich geirrt. »Es dauert wohl einige Tage, bis sich alle wieder aneinander gewöhnt haben. Vermutlich war das immer schon so, es ist mir nur noch nie aufgefallen.«
»Finden diese Treffen jedes Jahr statt?«
»Zweimal pro Jahr.«
»Zweimal pro Jahr? Seit wann?«
»Mein ganzes Leben lang«, sagte Maggie.
Er pfiff leise. »Und da wunderst du dich über Spannungen? Hat sich denn nie jemand geweigert zu kommen?«
Nur sie selbst, fiel Maggie in dem Moment auf. Und was war daraufhin nicht alles geschehen. »Es hat hin und wieder Diskussionen gegeben«, sagte sie und wog ihre Worte sorgsam ab. »Aber nun sind wir alle hier. Und zwar deinetwegen, was dir hoffentlich bewusst ist.«
»Oh, das ist es. Obwohl nicht alle davon begeistert sind.«
»Nicht?«
»Ich habe gehört, wie Eliza zu Clementine gesagt hat, dass ihr Kommen gar nicht nötig war, denn – oh, mir wird gerade bewusst, dass ich dir das nicht erzählen kann. Das war viel zu schmeichelhaft für mich.«
»Jetzt musst du es mir erst recht erzählen.«
»Na schön, aber ich gebe nur wieder, was ich gehört habe. Eliza hat zu Clementine gesagt, dass Leo sie ihrer Meinung nach alle unter falschem Vorwand nach Donegal gelockt hätte, denn es wäre doch offensichtlich, dass wir beide füreinander geschaffen wären und dass ich – wie hat sie es auch noch formuliert? -, dass ich ein ›wahrer Glücksgriff‹ wäre.«
»Nein!«
Gabriel nickte. »Es kommt noch besser. Dann hat sie gesagt: ›Maggie ist verrückt nach ihm, das ist ja wohl nicht zu übersehen. So habe ich sie mit Angus niemals erlebt.‹«
Maggie errötete. »Das hat sie nicht gesagt.«
»Und ob. Und Clementine hat sie darin noch bestärkt. Und dann haben beide ein paar Gemeinheiten über Angus losgelassen, die ich auch recht interessant fand, jedoch bei Weitem nicht so interessant wie ihre Kommentare über mich.«
»Das erfindest du doch bloß.« Sie fühlte sich ausgesprochen unwohl.
»Ganz bestimmt nicht, das schwöre ich. Glückwunsch, Maggie. Ich habe bisher angenommen, ich würde als dein dich liebender Verlobter eine hervorragende schauspielerische Leistung abliefern, aber du bist mir offensichtlich um Klassen voraus.«
»Schauspielerische Leistung?« Sie fing sich schnell. »O ja, danke. Aber du bist auch wirklich hervorragend. Bis auf den Satz, dass du in meiner Gegenwart verunsichert bist.«
»Aber es stimmt. Bei deinem Anblick fangen meine Hände an zu zittern und mein Herz schlägt schneller.«
»Das liegt sicher am Jetlag.«
Hinter ihnen knirschte der Kies, und es roch nach Rauch. Miranda kam zu ihnen. Gabriel sprach lauter. »Bitte, Maggie, hab doch Erbarmen mit einem schwer arbeitenden Mann und lass mich heute Nachmittag in Ruhe.«
Miranda lehnte sich an die Mauer und zog eine Augenbraue hoch. »Glaub mir, Maggie, dieser junge Mann hier macht König Silberzunge alle Ehre.«
»Silberhaar, Silberzunge«, sagte Gabriel.
»Die Haarfarbe ist doch hoffentlich echt, oder?«
»Einhundert Prozent«, sagte Gabriel.
»Dann bin ich beruhigt.« Miranda wartete einen Moment, dann lächelte sie beide an. »Wir wären dann wieder so weit, Mr. Scorsese.«

Maggie wollte gerade weiterlesen, als Leo in ihr Zimmer kam. Der Privatdetektiv hatte angerufen. Er hatte seinen Bericht abgeschlossen.
»Und?«
Leo senkte die Stimme. »Ich konnte nicht nach Einzelheiten fragen. Die Mädchen waren in der Nähe. Aber ich habe ihn gebeten, mir seinen Bericht per Kurier zu schicken. Auf schnellstem Weg.«
»Ja und, ist sie es?«
»Er ist sich zu neunzig Prozent sicher. Er hat ein aktuelles Foto, zusätzliche Informationen und ihre Privatanschrift. Aber das letzte Wort, sagt er, liegt bei mir. Bei uns.«
Das gab Maggie den nötigen Antrieb, in Tessas Tagebüchern weiterzulesen. Die erste Hälfte war schon geschafft. Maggie hatte Tessas Schilderungen aus ihrer Zeit als junge Frau in London gelesen, bevor sie Leo begegnet war. In dem Tagebuch, das sie gerade las, waren Tessa und Leo bereits verheiratet, Juliet drei Jahre alt und Miranda ein Säugling.
Maggie las zehn weitere Seiten, dann ließ sie das Buch sinken. Es war ein seltsames Gefühl. Eine Etage unter ihr filmte Gabriel die anekdotischen Erinnerungen an eine geliebte Ehefrau und Mutter. Hier oben las Maggie Tessas eigene Worte. Ein und dieselbe Person, aus zwei völlig verschiedenen Blickwinkeln. Aber welcher war der richtige?
Maggie wollte sich mit ihrer Meinung noch nicht festlegen, immerhin musste sie noch vier Tagebücher lesen, aber sie konnte sich des Eindrucks, den sie sich bisher von ihrer Großmutter gebildet hatte, nicht erwehren.
Tessa war abscheulich.
Gemein. Verzogen. Gehässig. Grausam. Manipulativ. Hochnäsig. Eitel. Ungeduldig.
Während des Lesens hatte sich Maggie immer wieder um eine ausgewogene Betrachtungsweise bemüht, denn sie wollte ihren Empfindungen nicht trauen. Tessa musste ihr selbstsüchtig vorkommen, schließlich waren es ihre Tagebücher. Natürlich ging es um sie. Aber je mehr sie las, umso schwerer fiel es ihr, sich eine andere Meinung zu bilden. Tessa war ihren Freunden gegenüber grausam, bezeichnete sie als farblos und langweilig. Sie war weit mehr an ihrem eigenen Aussehen interessiert. Ganze Seiten waren Beschreibungen ihrer Kleider gewidmet, und Komplimenten, die sie bekommen hatte.
Maggie war froh, dass Leo ihr von Tessa und seinem Bruder erzählt hatte. Sonst hätte sie das vollkommen schockiert. Doch selbst mit diesem Wissen tat es ihr weh zu lesen, was Tessa von Leo gehalten hatte, wie abfällig sie sich über ihn äußerte und wie sie ihn, sehr zu seinem Nachteil, mit Bill verglich: »Unser Schoßhündchen ist uns heute wieder einmal den ganzen Tag lang gefolgt.«
Es kam noch schlimmer. Auf den folgenden Seiten hatte Maggie erfahren, dass Tessa nur aus dem einen Grund etwas mit Leo angefangen hatte, nämlich um Bill eifersüchtig zu machen, und dass sie eine Zeit lang heimlich mit beiden zusammen gewesen war. Selbst als sie sich endgültig entschieden hatte, bei Leo zu bleiben, hatte sie sich noch abschätzig über ihn geäußert. Von Leo verwöhnt zu werden, behagte ihr sehr, seine Liebe zu erwidern, interessierte sie nicht.
Maggie hatte gehofft, dass sich ihre Großmutter ändern würde, als sie Mutter wurde. Dass sie weicher würde, mehr wie die Frau, die Leo vergötterte. Anfangs war es auch so. Es gab einen berührenden Absatz über Tessas Gefühle während ihrer ersten Schwangerschaft. Detaillierte Beschreibungen von Juliet und, kaum zwei Jahre später, von Miranda als Babys.
Aber das währte nicht lange. Zwei Stunden Lektüre und drei Lebensjahre weiter wurde Tessas Tonfall wieder schnippisch, ihr Klagen laut. Sie fühlte sich mit ihren kleinen Kindern eingesperrt. Sie war die Hausarbeit leid, obwohl – soweit Maggie das aus dem Gelesenen schließen konnte – Leo ohnehin das meiste übernommen hatte. Er war mittags von seiner Arbeit in einer Forstwirtschaft nach Hause gekommen und hatte das Essen und den Abwasch gemacht. Nur, dass Tessa es so nicht formuliert hatte:
Leo hat doch wirklich die Frechheit besessen, mich zu fragen, ob ich diese Woche das Abendessen machen könnte. Für ihn ist das einfach, er kann ja nach Belieben kommen und gehen – er hockt ja nicht ständig mit den Babys im Haus.
Miranda weint die ganze Zeit. Meine Nachbarin hat mir geraten, einen Schluck Whiskey in die Milch zu mischen. Das war die reinste Wohltat, für mich wie auch für sie!
Ich bin schon wieder schwanger! Mit Eliza, dachte Maggie. Und die anderen Frauen sind auch noch alle neidisch.
Während die Familie wuchs, änderte sich eines nicht. Leos Bruder Bill war ständiger Gast im Haus.
Bill hat heute sein Glück bei mir versucht.
Maggie hielt den Atem an.
Ich habe ihm gesagt, dass er die Pfoten wegnehmen soll. Wenn er meint, dass er einfach so anmarschieren und von mir haben kann, was er will, dann täuscht er sich, selbst wenn er im Bett viel besser als Leo ist. Das Lustige ist, ich glaube, Bill ist wirklich eifersüchtig auf Leo. Da kann man nur sagen, wer zuletzt lacht, lacht am besten! Ich wünschte, ich könnte aus den beiden einen Faraday machen. Das wäre der perfekte Mann.
Wenn Leo diese Zeilen lesen würde, würde es ihn umbringen.
Tessa musste doch auch gewinnende Eigenschaften gehabt haben. Maggie bemühte sich sehr, sie zu finden. Vielleicht ihr Sinn für Humor? Denn wider Willen musste Maggie an manchen Stellen laut lachen. Tessas Sprachgewandtheit erinnerte sie an jemanden. Miranda. Die gleiche Boshaftigkeit, der gleiche bissige Humor. Aber bei Miranda verbarg sich dahinter Gutherzigkeit. Maggie hatte im Laufe ihres Lebens oft genug davon profitieren dürfen. Bei Tessa konnte sie keinen Hinweis darauf entdecken.
»Maggie? Lebst du noch?« Miranda erschien in der Tür. »Du bist so still, das macht mich nervös. Was liest du denn bloß? Wir haben dich seit Stunden nicht mehr gesehen.«
»Anna Karenina«, log Maggie. Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, die Tagebücher unter die Matratze zu schieben. Sie hatte mit Bedacht das dickste Buch gewählt und sich den Tolstoi aus dem Bücherregal genommen.
»Kann ich dir eine kleine nachmittägliche Aufmunterung anbieten? Mich juckt’s in den Fingern, eine Weinflasche zu öffnen, und niemand will mitmachen.«
»Jetzt noch nicht, danke.«
Der nächste Besucher war Gabriel. Er hatte sich in seinem Zimmer eine Kapuzenjacke geholt. Es war kühl geworden, obwohl die Sonne durch die Fenster schien. Maggie hatte sich einen farbigen Quilt um die Füße gewickelt, ihren Sessel in die Sonne geschoben und wärmte sich dort wie eine zufrieden schlummernde Katze.
»Empfängst du Besuch?«, fragte er. »So ganz allein hier oben?«
»Wie die wahnsinnige Mrs. Rochester auf dem Dachboden?«
»Das hätte ich nicht zu sagen gewagt.«
»Wie läuft es da unten?«
»Miranda hat recht. Ich werde mich vielleicht doch noch beim Sundance Film Festival bewerben. Nur der Titel steht noch nicht fest.«
»Das Tollhaus?«
»Kurz und treffend. Ich dachte aber eher an Leo und seine Töchter. Oder Spannungen, Lügen und Video
»Wer lügt denn?«
»Nun, allen voran du, ich und Leo. Aber wir sind nicht die Einzigen.«
»Meine Mutter und meine Tanten auch?«
»In unterschiedlichem Maße, ja.«
»Worüber?«
»Das kommt darauf an, wonach man sie fragt.«
»Und wieso bist du davon überzeugt, dass sie lügen?«
»Zunächst einmal ist da ihre Körpersprache. Außerdem ist das alles einfach zu schön, um wahr zu sein.« Er ging zum Fenster und stellte sich neben Maggie. »Es tut mir leid, wenn ich zynisch klinge, Maggie, aber so, wie sie das schildern, muss ihre Kindheit eine Mischung aus Meine Lieder – Meine Träume und Der König und ich gewesen sein. Immer nur Heiterkeit, niemals ein böses Wort. Das Leben mit ihrer Mutter muss ein einziger Spaß gewesen sein. War es denn wirklich so?«
Noch vor einem Tag hätte Maggie dies bestätigt. Clementine und ihre Tanten verteidigt und gesagt, dass ihre Schilderungen natürlich der Wahrheit entsprachen. Tessa war die wunderbarste, warmherzigste, lustigste, liebevollste Mutter der Welt gewesen. Aber konnte sie das jetzt noch glauben? Nachdem sie gelesen hatte, wie genervt Tessa sein konnte, wie gelangweilt sie bisweilen war, wie abfällig sie sich nicht nur über ihre Mutterschaft, sondern auch über ihren Mann äußerte. Das mussten sie doch alle irgendwie gespürt haben. Hatten sie denn alle die schlechten Zeiten verdrängt? Oder als Kinder einfach nicht bemerkt, was um sie herum geschah? Maggie war sehr verwirrt.
»Vielleicht war es ja wirklich so«, sagte sie, immer noch darum bemüht, für ihre Familie einzustehen. »Nur, weil sie von glücklichen Erinnerungen schwärmen, heißt das nicht, dass sie keine haben. Oder hat deine Kamera einen integrierten Lügendetektor?«
»Den brauche ich nicht. Sie lügen alle. Glaub mir, ich habe in Washington viel gelernt. Als Kameramann ist man wie ein Kellner. Ich habe die Politiker zwischen den Aufnahmen reden hören, das Flüstern ihrer Berater gehört und dann gesehen, wie sie sich vor der Kamera verwandelt haben. Ich habe durch meine Linse alles gesehen.«
»Ich glaube gerne, dass Politiker lügen. Aber warum sollten meine Mutter und meine Tanten das tun?«
»Vielleicht aus demselben Grund, aus dem sie alle so kurzfristig von weit her geeilt sind. Deinem Großvater zuliebe.«
Maggie zögerte. War es so? Sprachen sie deshalb so positiv über Tessa? Um Leos willen? Selbst wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, gefiel es Maggie nicht, das von Gabriel gesagt zu bekommen. »Er ist ein alter Mann. Sie lieben ihn. Und ich dachte, du magst ihn auch.«
»Das tue ich ja. Ich mag ihn sogar sehr und genieße seine Gesellschaft über die Maßen. Aber ich bin froh, dass ich nicht unter seiner Kuratel stehe.«
»Jetzt gehst du aber ein wenig zu weit.«
Gabriel blieb ruhig. »Maggie, das musst du doch erkennen.«
»Was erkennen?«
»All die Spannungen haben nur mit Leo und seinen Traditionen zu tun. Die Spannungen zwischen deiner Mutter und deinen Tanten. Ich habe sie alle gebeten, mir ein wenig über sich selbst zu erzählen. Ich dachte, auf diese Weise würden sie sich ein wenig lockern, aber keine hat mir die Wahrheit erzählt. Ich habe nur ›Ich bin ja so glücklich‹ gehört, ›Mein Leben ist perfekt, und Leo war ein großartiger Vater und Tessa eine wundervolle Mutter‹, aber ihre Körpersprache hat etwas ganz anderes gesagt.«
»Vielleicht macht die Kamera sie ja nervös.«
»Sie machen einander nervös, wenn du mich fragst.«
»Hast du die anderen gebeten, unterdessen nach draußen zu gehen?«
»Vorgeschlagen habe ich es, aber sie sind alle geblieben. Sie wollten alles hören.«
»Und du meinst, in dem Moment haben sie alle gelogen?«
Er nickte. »Sie haben Leo und auch einander angelogen. Den ganzen Morgen über.«
Nicht nur den ganzen Morgen, und nicht nur Leo oder einander. Sie hatten doch auch sie selbst all die Jahre belogen. Sie hatten alle gewusst, dass Sadie nicht durchgebrannt war, um Hippie zu werden. Sie hatten alle die Umstände ihres Verschwindens gekannt. Doch niemand hatte ihr jemals die Wahrheit gesagt. Wenn sie darüber lügen konnten, worüber dann noch?
Gabriel sah aus dem Fenster zur Bucht. Maggie nutzte die Gelegenheit, ihn genau zu mustern. So wütend sie auch war, sie durfte ihm eigentlich nicht böse sein. Er war schließlich nach Donegal eingeladen worden, um sie zu beobachten. Sie hatte ihm bereitwillig alles aus ihrer Kindheit, über ihre Mutter und ihre Tanten erzählt. Das, was sie in den Tagebüchern gelesen hatte, hatte sie schon genug verstört, und Gabriels Bemerkungen taten ein Übriges. Er war in sehr kurzer Zeit bis ins Herz ihrer Familie vorgedrungen. Sie stellte sich vor, wie Angus wohl auf die Ereignisse der letzten Tage reagiert hätte. Sehr schlecht, das stand fest. Er hatte sich für ihre Familie nie Zeit genommen. Gabriel war anders. Er war neugierig. Mehr als das. Es war, als ob es ihn wirklich berührte.
Er drehte sich um und erwischte sie dabei, wie sie ihn anstarrte. »Ein Königreich für deine Gedanken.«
»Ich habe über dich nachgedacht. Darüber, dass du einen sehr guten Familientherapeuten abgeben würdest, solltest du dich entscheiden, dem Putzen und den Hunden den Rücken zu kehren.«
»Wirst du jetzt sarkastisch?«
»Nein, ich meine das ernst. Du gehst bei meiner Familie sehr gründlich zu Werke.«
Er lächelte ihr zu. »Bei anderen ist das auch einfach. Aber warte, bis du meine übrige Familie kennenlernst. Du bekommst deine Revanche, das verspreche ich dir.«
Sie wurden gestört, bevor Maggie dazu kam, auf seine saloppe Bemerkung, dass er sie seiner Familie vorstellen wollte, zu reagieren.
»Na, ihr zwei Turteltäubchen.« Es war Juliet. »Cocktailstunde. Miranda besteht darauf.«
»Danke, Juliet«, sagte Maggie. »Wir kommen gleich.« Sie wartete, bis ihre Tante die quietschende Holzdiele am Ende des Flurs erreicht hatte. »Mit manchem hast du vielleicht sogar recht. Aber dass Juliet wirklich glücklich ist, weiß ich sicher. Sie hat ein tolles Leben mit ihrem Mann. Sie sind unglaublich erfolgreich, ständig auf Reisen …«
»Ich glaube, da irrst du dich.«
»Ach ja?«
Er nickte. »Wenn du mich fragst, ist Juliet von allen am unglücklichsten.«
Maggie versuchte, ihre Familie durch Gabriels Augen zu sehen. Auf den ersten Blick wirkte es wie das übliche Faraday’sche Juli-Weihnachten. Juliet hatte ganz offensichtlich seit ihrer Ankunft alles dafür vorbereitet. Das Esszimmer sah wunderschön aus. Es wurde nur von Kerzen erleuchtet, im Hintergrund spielten Weihnachtslieder, und das Kaminfeuer flackerte anheimelnd. Damit die Stimmung noch weihnachtlicher wurde, hatte sie die Rollläden heruntergelassen.
Der Tisch war mit roten Blumen, silbernem Lametta und Girlanden aus künstlichem Efeu geschmückt. Um den kleinen Weihnachtsbaum herum fand eine verkürzte Geschenkzeremonie statt, da die Hälfte von Maggies Päckchen auf dem Weg nach Australien und Singapur war. Maggie gab Gabriel eine Flasche edlen irischen Whiskeys, die sie eilig am Flughafen gekauft hatte. Leo schenkte ihm das Gleiche. Gabriel nahm beide Flaschen lächelnd entgegen und gab dann eine gleich wieder an Leo zurück.
Leo machte wie üblich aus dem Auspacken eine große Schau und zog augenblicklich alles Tragbare an – eine Krawatte von Eliza, einen Schal von Juliet, einen Ledergürtel von Clementine. Er tupfte etwas von dem Aftershave auf, das ihm Miranda geschenkt hatte. Er jubelte über die Pralinenauswahl, die ihm Maggie aus New York geschickt hatte.
Als sie sich an den Tisch setzten, machte er eine Flasche teuren Champagners auf, eine weitere Juli-Weihnachtstradition. Sie ließen ihre Kracher knallen, trugen ihre Papierhüte und erzählten sich ihre üblichen Witze. Miranda schilderte eine lustige Anekdote von der Arbeit, hatte aber nicht ganz die Aufmerksamkeit, die sie sich wohl gewünscht hatte. Leo lachte als Einziger. Juliet war mit den Essensvorbereitungen beschäftigt, trug Platten herein und lehnte alle Hilfsangebote ab. Clementine tat so, als würde sie zuhören, aber Maggie konnte an ihrem Gesichtsausdruck sehen, dass sie in Gedanken weit weg war, vermutlich in der Antarktis. Eliza lächelte nicht einmal, sie sah Miranda nur mit ausdrucksloser Miene an. Gabriel filmte. Leo hatte ihn gebeten, einige Minuten des gemeinsamen Essens auf Film zu bannen.
Neben dem Überreichen der Geschenke und dem Erzählen der Witze gab es noch eine Vielzahl anderer Rituale. Sie hatten sich im Laufe der Jahre auf Leos Drängen hin eingespielt. Der Toast auf Tessa. Der Toast auf Sadie. Dabei sah Maggie zu Leo. Sie wusste, was er dachte. Vielleicht würde Sadie das nächste Mal, wenn sie auf ihr Wohl anstießen, dabei sein.
Juliets Essen war wie immer wunderbar. Auf dem langen Tisch standen perfekt zubereitete thailändische Gerichte: milde Teigtaschen mit Currysauce, scharfe Fleischsalate, farbige, würzige Currys; frischer Koriander, Knoblauch, Limone und Chili dufteten. Während die Platten herumgereicht wurden, unterhielt Leo sie alle mit skurrilen Fakten über Thailand. Eine weitere Tradition im Rahmen ihrer multikulturellen Weihnachtsfeste.
Das letzte Ritual vor dem Dessert aus Klebreis mit Mango und Kokosnuss war die Wunschrunde, bei der sich jedes Mitglied der Familie etwas für das kommende Jahr wünschte. Maggie hatte plötzlich das Gefühl, inmitten von Schauspielern zu sitzen, die eine Rolle spielten und Sätze rezitierten, die schon vor langer Zeit ihren Sinn verloren hatten.
Aber wer spielte welche Rolle? Miranda spielte wie immer die Flachsige, Sarkastische mit der scharfen Zunge. Sie wirkte, zumindest an der Oberfläche, von allen am unabhängigsten. Juliet – ständig auf den Beinen, kochte, bediente, räumte ab. Vielleicht hasste sie diese Rolle, aber sie erlaubte niemandem, ihr zu helfen. Maggie hatte den Versuch vor langer Zeit aufgegeben. Eliza war wie immer die Reservierte, hielt sich zurück. Sie sprach nur, wenn sie angesprochen wurde, und auch nur allgemein über ihre Arbeit, ohne ins Detail zu gehen. Und Clementine? Maggie sah zu ihrer Mutter. Sie unterhielt sich mit Leo, schilderte ihm lebhaft, worum es bei ihrem neuesten Forschungsprojekt in der Antarktis ging, und sonnte sich in Leos Aufmerksamkeit und Stolz. Maggie war immer davon überzeugt gewesen, dass es in Clementines Leben nur zwei große Lieben gab: die Arbeit und eben Maggie. Aber hatte Clementine vielleicht mehr gewollt? Ein anderes Leben? Eines, das ihr verwehrt geblieben war, weil sie Maggie bekommen hatte?
Und Sadie? Die abwesende und doch so präsente Sadie. Wenn sie in ihrer Mitte gewesen wäre, wie wäre der Abend dann verlaufen?
»Maggie?«
Alle sahen sie an.
»Du bist an der Reihe.«
»Womit?«
»Mit deinem Wunsch für das kommende Jahr.«
»Entschuldigt bitte. Ich war ganz in Gedanken. Du zuerst, Gabriel. Dann mache ich weiter.«
Gabriel stand wieder hinter der Kamera. »Ich arbeite. Und ich gehöre nicht zur Familie. Ich würde lieber auf meinem Beobachtungsposten bleiben, wenn ihr nichts dagegen habt.«
»Du gehörst doch fast zur Familie«, sagte Juliet.
»Na los, Gabriel«, sagte Miranda. »Nur ein kleiner Wunsch.«
Er schwieg einen Moment, dann erhob er sein Glas. »Ich wünsche allen hier, dass sie Wahrheit und Glück finden.«
»Auf Wahrheit und Glück«, echoten die Faradays und erhoben ebenfalls ihre Gläser.
»Maggie?«, fragte Leo.
»Ich schließe mich dem an.«
»Ach, nun komm schon, Maggie«, sagte Miranda. »Nur weil du verlobt bist, heißt das doch nicht, dass du nicht mehr selbstständig denken darfst.«
»Ich folge Gabriel nicht. Ich wünsche mir wirklich dasselbe. Wahrheit und Glück.«
Sie brachten den Trinkspruch ein zweites Mal aus.