37

Miranda kündigte sich schon von Weitem an. Sie hupte auf der ganzen Strecke vom Dorf bis zum Haus. Kurz darauf erklang ihre Stimme im Hof.
»Wo ist er? Wo ist der geheimnisvolle Fremde? Ich will ihn auf der Stelle sehen!«
Leo, Maggie, Gabriel, Juliet, Clementine und Eliza sprangen von den Küchenstühlen auf. Sie hatten alle seit dem frühen Morgen zusammengesessen. Trotz der unterschiedlich weiten Anreise waren sie alle im Abstand von zehn Minuten in Donegal eingetroffen.
Miranda hatte zuvor angerufen. Ihr Flug hatte Verspätung. »Und kein Wort zueinander, solange ich nicht da bin, verstanden?«, hatte sie gesagt. »Geht auf eure Zimmer und wartet. Ich komme, so schnell es geht.«
Juliet hatte Gabriel als Erste kennengelernt und ihn herzlich empfangen. »Du hast uns ganz schön verblüfft. Ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, dass ich das sage. Aber es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen. Und wenn du die nächsten Tage überstehst, dann überstehst du alles.«
Maggie hatte Gabriel nervös im Auge behalten, aber er war sehr viel entspannter als sie selbst, scherzte mit Juliet und ließ sich von Leo durch Haus und Garten führen. Juliet hatte das Haus wunderbar hergerichtet. Es war weihnachtlich geschmückt, mit einer kleinen Tanne im Eingang. Maggies Geschenke – zumindest die, die sie nach Donegal geschickt hatte – lagen in einem farbenfrohen Stapel darunter. Gabriel sah sich alles aufmerksam an. Er benahm sich seit der Ankunft in Belfast so – er stellte ständig Fragen und kommentierte alles. Sie hatten einen Umweg in die Stadt gemacht, um die Kameraausrüstung auszuleihen, die Leo – oder vielmehr sein zaubernder Concierge – von New York aus organisiert hatte.
Maggie hatte sich während der Fahrt wieder in die Tagebücher vertieft. Ihr Großvater hatte sie während des Flugs beobachtet und versucht, etwas aus ihren Reaktionen herauszulesen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie erst dann mit ihm sprechen wollte, wenn sie alle neun Bücher gelesen hatte. Maggie war beinahe erleichtert, als sie in Glencolmcille ankamen und sie die Bücher verstecken musste. Seine Nervosität war ansteckend.
Clementine und Eliza waren als Nächste eingetroffen. Maggie hatte ihre Mutter lange und fest umarmt und ihr dann Gabriel vorgestellt, wobei sie so verlegen geworden war, als wäre er wirklich ihr Verlobter. Mit Mirandas Ankunft stieg die Aufregung noch. Noch mehr Neuigkeiten wurden ausgetauscht, Clementine sprach über die Antarktis, es wurde erklärt, wie toll alle aussähen und dass New York Maggie ganz offensichtlich guttat. Vor allem aber folgte Bemerkung auf Bemerkung über die überraschende Verlobung.
Irgendwie gelang es Leo, Gabriel und Maggie, das Theater durchzuziehen. Irgendwann begriff Maggie, dass sie die Frage öffentlicher Zurschaustellung von Gefühlen nicht mit Gabriel diskutiert hatte. Als sie im Wohnzimmer saßen, hätten sie nebeneinander sitzen müssen, Arm in Arm. Maggie fühlte sich zu befangen, um den ersten Schritt zu machen. Gabriel erriet ihre Gedanken. Er kam wie selbstverständlich zu ihr, setzte sich auf die Lehne und legte den Arm hinter den Sessel. Er zwinkerte Maggie zu. Sie zwinkerte zurück.
Clementine entging nichts. Bei der ersten Gelegenheit setzte sie sich zu ihrer Tochter.
Sie berührte Maggie sanft an der Wange. »Ist alles in Ordnung, Maggie, ganz ehrlich?«
Maggie nickte. »Ja, ehrlich. Ich bin froh, hier zu sein.«
»Nicht so froh wie ich.« Clementine senkte die Stimme. »Er wirkt unheimlich nett.«
»Das ist er. Ich mag ihn wirklich.« Es war schön, endlich einmal nicht lügen zu müssen.
Clementine lachte laut. »Na, das will ich ja wohl hoffen.«
Miranda beherrschte den Raum. Sie schillerte wie ein Filmstar und benahm sich, als hielte sie Audienz. Maggie warf Gabriel einen Blick zu. Er lächelte. Er hatte den Geschichten über Miranda mit Begeisterung gelauscht, und anscheinend begeisterte ihn die Wirklichkeit erst recht.
Miranda unterzog ihn einer übertriebenen Musterung. »Nun, die Berichte unserer Überwachungseinheit waren zutreffend. Du siehst wirklich gut aus.« Dann drohte sie ihm mit dem Zeigefinger. »So weit, so schön, junger Mann. Aber ich warne dich. Sei nur ja gut zu unserer Maggie, sonst gibt es Ärger. Hier sieht es nicht nur aus wie auf einem Hexensabbat, hier kann es auch so zugehen.«
»Sie ist in guten Händen, das verspreche ich«, sagte Gabriel.
»Der Zauber einer jungen, frischen Liebe ist ja wunderbar, aber ich finde, wir sollten jetzt zu den harten Fakten kommen. Wann habt ihr euch kennengelernt? Wo wollt ihr leben? Gibt es schon einen Termin für die Hochzeit?«
»Miranda, lass die beiden doch in Ruhe«, sagte Juliet. »Maggie, Gabriel, achtet überhaupt nicht auf sie, hört ihr?«
»Das versuchen wir doch schon seit Jahren«, sagte Eliza.
»Ich frage doch bloß, was ihr euch nicht zu fragen traut«, sagte Miranda.
Leo beugte sich lächelnd zu Gabriel. Er hatte seit ihrer Ankunft unentwegt gelächelt. »Gabriel, stell dir vor, das mache ich jetzt seit fast fünfzig Jahren mit.«
»Du verdienst einen Orden«, sagte Gabriel.
»Wie billig, Gabriel«, sagte Miranda angewidert. »Sich beim künftigen Schwiegergroßvater einzuschleimen.«
»Ich schleime mich nicht ein«, fing Gabriel an, aber Maggie, Clementine, Eliza und Juliet lachten und rieten ihm im Chor, Miranda keine Beachtung zu schenken.
Maggie war erst nach dem Essen mit Gabriel allein. Sie hatten sich zuvor alle im Esszimmer versammelt, das den schönsten Blick über das Meer und die Felder bot. Leo, am Kopfende, erzählte Geschichten und strahlte vor Glück. Juliet lief hin und her, servierte Braten, lockeres Kartoffelpüree und knackigen Salat. Das Juli-Weihnachtsessen würde erst am folgenden Abend stattfinden. Das Gespräch war lebhaft. Clementine erzählte von ihren Forschungsprojekten. Miranda von einer Passagierin, einem berühmten Filmstar, die sich mit ihrem Freund in der Toilette der ersten Klasse eingeschlossen und dann die Tür nicht mehr aufbekommen hatte. Eliza berichtete von ihrem neuen Kundenmanagement, bis Miranda ostentativ gähnte und das Thema wechselte.
Leo wartete mit seiner zweiten Ankündigung bis zum Kaffee. »Ich habe euch ja gesagt, dass ich euch alle aus einem besonderen Grund hierhaben wollte, und ich glaube, nun ist der Moment gekommen, es euch zu sagen. Der Hauptgrund war natürlich, Maggie und Gabriel zu feiern …«
»Auf Maggie und Gabriel«, rief Miranda und erhob ihr Glas. Es war schon der dritte Toast auf sie beide an dem Abend. Champagner und Wein flossen in Strömen. »Gott sei Dank bist du nach New York geflogen, Leo, sonst hätten wir nie von Maggies Geheimleben erfahren.«
»Ja, Maggie«, sagte Clementine in gespieltem Ernst. »Wann hattest du eigentlich vor, uns zu informieren?«
Maggie rutschte hin und her. Ihr war bewusst, dass man ihr ansah, wie unbehaglich sie sich fühlte. »Ich hätte es euch noch erzählt, wirklich. Es ist nur …«
»Sie lügt.«
Gabriel hatte sich eingemischt. Alle fuhren herum. Maggie blieb fast das Herz stehen.
»Maggie und ich hatten eigentlich vor, heimlich in New York zusammenzuleben. Sie hat mir so viel von euch allen erzählt, dass ich das für die beste Überlebensstrategie hielt.«
»Gabriel!«, mahnte Maggie.
»Ich mache doch bloß einen Scherz. Leo ist uns zuvorgekommen. Wir hatten vor, euch alle anzurufen, nachdem wir uns entschieden hatten, aber Maggie wollte es langsam angehen. Ich denke, nach der Sache mit Andrew …«
»Angus«, sagte Maggie rasch.
»Angus«, korrigierte er sich ruhig, »hatte sie Angst, dass ihr das Ganze für eine Kurzschlussreaktion halten könntet. Aber das ist es nicht. Na ja, zumindest hoffe ich das.« Er wandte sich mit ernstem Gesicht und glitzernden Augen an Maggie. »Sag, dass es nicht so ist.«
»Natürlich nicht, Gabriel.« Er musste doch nicht ganz so dick auftragen.
Leo lächelte zustimmend und schlug gegen sein Glas. Als wieder Ruhe herrschte, sagte er: »Der andere Grund, warum ich euch alle sehen wollte, hat mit Tessa zu tun. Gabriel und Maggie wissen schon Bescheid, aber ich hoffe, sie haben nichts dagegen, wenn ich mich hier und jetzt wiederhole.«
Alle schwiegen. Maggie war angespannt, sie fragte sich, ob er sie auch mit der Ankündigung überraschen würde, dass er die Tagebücher doch nicht verbrannt hatte. Als er zu sprechen begann, beruhigte sie sich wieder.
Seine Rede war sehr bewegend. Er sprach von seinem Wunsch, eine Sammlung der schönsten Momente seines Lebens zu haben, um immer wieder darauf zurückschauen zu können. Er erzählte, dass er mit dem Plan zu Maggie gereist war, ein Sammelbuch anzulegen, sich aber, nachdem er Gabriel kennengelernt hatte, für eine moderne Lösung entschieden hatte und stattdessen ihre Erinnerungen nun filmen wollte.
Die Idee gefiel allen sehr. Allen, außer Miranda. Sie hatte schon recht viel Wein getrunken und hielt mit ihren Kommentaren nicht hinter dem Berg.
»Gabriel, ist das eine geschickte List? Bist du hier, um uns alle zu täuschen und in Wahrheit eine Freakshow-Doku für irgendein unabhängiges Filmfestival zu drehen?«
»Ich hatte das eigentlich nicht vor, aber ich finde die Idee von Minute zu Minute besser.«
Miranda quittierte seine Antwort mit einem Lachen. Leo sah sich am Tisch um. »Glaubt ihr nicht, dass das etwas Besonderes wäre? Eine Aufnahme von uns allen, für uns alle.«
»Allen, außer Sadie, meinst du«, sagte Miranda. »Gabriel, ich weiß nicht, ob du das weißt, aber wir haben noch eine Schwester …«
Juliet unterbrach sie. »Miranda, bitte, du musst doch nicht …«
»Es ist in Ordnung, Juliet«, sagte Gabriel. »Maggie hat mir das schon alles erzählt.«
Das hatte sie nicht. Aus Angst sah Maggie weder Gabriel noch Leo an.
»Sollen wir morgen früh anfangen?«, drängte Leo. »Sollen wir loslegen, sobald es geht? Ich will nicht, dass Gabriel die ganze Zeit hier in Irland arbeiten muss. Die beiden wollen doch auch mal raus und irgendwo etwas Musik hören und ein Guinness trinken.«
»Mal raus und über uns lästern, meinst du wohl«, sagte Miranda.
»Vermutlich würden sie am liebsten gleich gehen und über uns lästern«, sagte Juliet, stand auf und fing an, das Geschirr abzuräumen. »Nun verschwindet schon, ihr beiden. Maggie, zeig Gabriel doch mal die schöne Aussicht von da oben. Du bist für den Rest des Abends vom Küchendienst befreit.«
Maggie tat, wie ihr geheißen, stand auf, küsste Leo und ihre Tanten und umarmte ihre Mutter. Sie ging mit Gabriel durch die Küchentür, durch den Garten das Feld hinauf. Von dort war es nur ein Sprung über die kleine Steinmauer auf die Straße, die sich bis zur Kuppe des Hügels wand. Die Aussicht von dort war atemberaubend, besonders zu dieser späten Tageszeit. Der Himmel war immer noch ein wenig hell. Die See in der Ferne schimmerte silbern. In den Ginsterbüschen rauschte der Wind, Schafe blökten, irgendwo brummte ein Traktor.
Als sie nebeneinanderher gingen, sah Maggie zu ihm auf. »Ich kann dir die Autoschlüssel geben, wenn du fliehen möchtest.«
»Fliehen? Von hier?« Gabriel lächelte sie breit an. »Auf gar keinen Fall. Miranda hat recht. Ich sehe mich jetzt schon als Sieger auf dem Sundance Film Festival. Hier walten ja mehr unsichtbare und geheime Kräfte als im Weißen Haus.«
»So schlimm sind sie nun auch nicht.«
»Sie sind überhaupt nicht schlimm. Sie sind toll. Faszinierend.«
»Faszinierend? Wieso?«
Er dachte einen Moment lang nach. »Es ist wie das Sonnensystem. Leo ist das Zentrum, das ihr alle umkreist.«
Maggie wollte schon protestieren, doch dann führte sie es sich vor Augen. Gabriel hatte recht.
Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Maggie sprach als Erste wieder. »Danke, dass du das mit Sadie so geschickt überspielt hast.«
»Gerne. Hast du mir alles erzählt?«
»Nicht ganz, nein.« Die gängige Erklärung, dass Sadie Hippie geworden war, konnte sie ihm ja wohl nicht mehr geben. Nicht, wenn sie ehrlich sein wollte. »Das ist eine lange Geschichte. Und eine komplizierte. Du musst sie dir nicht anhören, wenn du nicht willst.«
»Ich will aber.«
Maggie erzählte beim Gehen. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie erst zwei Tage zuvor mit Leo durch den Central Park gegangen war und die Geschichte dort selbst zum ersten Mal gehört hatte. Jetzt war sie in Irland und erzählte all das einem Mann, den sie im Grunde kaum kannte.
Sie brauchte eine Viertelstunde, und Gabriel stellte ihr eine Reihe von Fragen. Als Maggie fertig war, waren sie auf der Anhöhe angelangt. Sie standen im seltsamen Zwielicht eines irischen Sommers, die See war eine weiße Fläche, die Berge hinter dem Tal braun-schwarz, um sie herum Schatten und Geräusche. Maggie schauderte. »Wir sollten zurückgehen. Die anderen werden sich allmählich Sorgen machen.«
»Ach was. Sie werden sich viel mehr Sorgen machen, wenn wir so schnell wieder zurückkommen.« Er kehrte trotzdem um. Als Maggie in der Dämmerung über einen Stein stolperte, streckte Gabriel den Arm aus und fing sie auf. Er kam wieder auf Sadie zu sprechen.
»Was geschieht, wenn der Privatdetektiv sie findet? Wenn sie wirklich in Dublin ist? Was dann?«
Maggie hatte so weit noch gar nicht gedacht. Sie wusste nicht einmal, ob Leo so weit gedacht hatte. Sie war bisher mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen. »Ich schätze, dass er dann zu ihr fahren wird. Sobald ich Tessas Tagebücher gelesen habe und ihm sagen kann, worauf Sadie meiner Meinung nach gestoßen ist.«
»In deiner Familie treibt so mancher Geist sein Unwesen, oder?«
»Wie meinst du das?«
»Sadie. Tessa. Vielleicht habe ich mich ja geirrt. Nicht Leo ist die Sonne, sondern Tessa und Sadie. Um sie dreht sich alles.«
»Aber sie sind doch nicht hier.«
»Leo scheint das anders zu sehen.«
»Da täuschst du dich gewaltig.«
»Ich kann dich im keltischen Nebel nicht deutlich sehen, Maggie, aber ich meine gehört zu haben, wie sich deine Nackenhaare aufstellen.«
Er hatte recht. Sie konnte Kritik an ihrer Familie nicht gut vertragen. »Das muss der Jetlag sein. Ich reagiere wohl ein wenig überempfindlich. Aber ich liebe meine Familie. Und ich möchte, dass du sie auch magst.« Das tat sie wirklich. Es war ihr wichtig.
»Das tue ich ja auch. Aber ich bin Einzelkind, wie du weißt. Ich bin solche Menschenmengen nicht gewöhnt. Ich komme mir wie in der Familie des Däumlings vor. Viel zu viele Menschen.«
Sie lächelte. Sie war froh, dass sich die Stimmung besserte. »Das mit dem Autoschlüssel war mir ernst. Du ergreifst die Flucht, wann immer du willst.«
»So leicht wirst du mich nicht los.« Auch sein Ton war wieder heiter.
»Ich hoffe sehr, dass Sadie zurückkommt«, sagte er. »Aus Gründen der Dramatik wäre es mir natürlich am liebsten, wenn es während des Filmens passieren würde. Kannst du dir die Szene vorstellen, Maggie? Eine deiner Tanten spricht über Sadie, man hört ein Geräusch von draußen, Schwenk auf die Haustür, die Haustür geht auf, und da …«
»Steht Sadie, in Batikkleid und mit Dreadlocks? Tut mir leid, Gabriel, aber ich fürchte, das wird so nicht geschehen.«
»Du meinst, sie fährt in einem Rover vor und trägt einen Nadelstreifenanzug?«
»Vielleicht.« Maggie lächelte. »Wir sind schon unterhaltsame Studienobjekte, oder? Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass dich mein gerissener Großvater nach Irland verschleppt hat, damit du so tust, als wärst du in mich verliebt.« Sie hatte auf Widerspruch gehofft, doch Gabriel enttäuschte sie.
»Maggie, mach dir darüber keinen Kopf. Es ist doch nur eine einzige Woche, in der ich ein wenig Theater spielen muss. Und ich habe wirklich Spaß dabei. Selbst wenn mich deine Tante Miranda wie ein Falke beäugt. Ich habe den Eindruck, sie traut mir nicht ganz.«
»Sie ist nur besorgt um mich. Sie war damals bei mir in London, als das mit Angus zu Ende ging.«
»Ach ja, Angus. Angus die Tweedhose und Triefnase.« Angus hatte unter chronischem Schnupfen gelitten. »Habe ich dir das etwa erzählt?«
»Nein, Miranda. Clementine hat mir berichtet, dass du als Kind immer alles gezählt hast, Eliza hat mir von deiner Leidenschaft fürs Verkleiden und Juliet von deinen Noten an der Uni erzählt.«
»Ein Glück, dass das hier alles Theater ist, sonst wärst du ja völlig überfordert.«
»Ein Glück«, sagte er.
Sie erreichten die Mauer. Aus den Fenstern des Hauses schien das Licht warm und einladend. Gabriel nahm Maggies Hand, als sie die Stufen hinaufkletterte, und hielt sie, bis sie sicher auf der anderen Seite war. Seine Hand war warm, sein Griff stark. Maggie war froh, dass es fast dunkel war. Es hätte ihr nicht gefallen, wenn er gesehen hätte, dass ihr die Röte in die Wangen gestiegen war.

Maggie wurde erst spät am nächsten Morgen wach. Sie hörte von unten Geräusche. In der Küche spielte Musik, und es wurde gesprochen. Dann wurden Möbel verrückt. Jemand zischte: »Maggie schläft doch noch«, woraufhin Miranda oder Eliza sagte: »Dann wird es aber Zeit, dass sie aufsteht.«
Sie waren früh ins Bett gegangen, denn bis auf Juliet litten alle unter Jetlag. Juliet hatte sie zu ihren Zimmern gebracht und Maggie mit einem verschwörerischen Lächeln darauf hingewiesen, dass Gabriels Zimmer am Ende des Flurs lag. Maggie hatte sich wieder beruhigt und sich ihre Verliebtheit ausgeredet, so gut sie konnte. Sie hatte sich das Knistern nur eingebildet. Wenn Gabriel sie küssen wollte, hätte er während ihres Spaziergangs die perfekte Gelegenheit dazu gehabt. Doch er hatte sie verstreichen lassen. Sosehr sie ihn auch mochte, sie musste sich damit abfinden, dass das in seinen Augen bloß ein Job war. Ein eher ungewöhnlicher zwar, aber dennoch ein Job.
Sie sah auf die Uhr. Es war fast zehn. Sie hatte über zwölf Stunden geschlafen. Sie zog die Vorhänge zurück. Der Himmel war teils blau, teils bewölkt. Sie ging im Bademantel nach unten und blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen. Es war völlig verändert. Sämtliche Möbel waren verschoben. In den Ecken waren kleine Filmsets aufgebaut: ein eleganter Sessel vor einem Aquarell mit einer Strandszene, in einer anderen Ecke ein Beistelltisch mit einer Blumenvase und einem Stuhl, in der dritten befand sich das Sofa, das Platz für drei Personen bot.
Gabriel stand mitten im Zimmer, die Kamera auf einem Stativ neben ihm, ihm zu Füßen wanden sich Kabel über den Boden. Er trug schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt. Sein Haar war vom Duschen noch leicht feucht, das Grau schimmerte im Morgenlicht beinahe schwarz.
Er drehte sich um und lächelte. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Du bist ja schon schwer beschäftigt.«
»Wir wollten loslegen. Zumindest will Leo loslegen. Miranda ist wohl erst gegen Mittag kamerafertig und besteht auf einer Visagistin, aber wir versuchen, das Problem irgendwie anders zu lösen.«
»Vaseline auf der Linse wäre eine andere Möglichkeit.« Miranda kam hinter Maggie ins Zimmer und küsste sie auf die Wange. »Wie schön, dass du dich auch mal blicken lässt, Schlafmütze. Kaffee? Oder brauchst du etwas Stärkeres, um deine Erinnerungen wachzurufen?«
»Ich habe keine Erinnerungen an Tessa.«
»Ich spreche nicht von Tessa. Ich möchte, dass du eine halbe Stunde vor der Kamera sitzt und von mir schwärmst.«
Dann kamen die anderen ins Zimmer, bereits vollständig angezogen und geschminkt, mit Kaffeetassen in den Händen. Die Stimmung war heiter. Clementine gab Maggie eine Tasse und setzte sich mit ihr aufs Sofa.
Gabriel sah hinter der Kamera hervor. »Das habt ihr bestimmt schon tausendmal gehört, aber ihr beide könntet wirklich Schwestern sein.«
»Das liegt daran, dass Clementine als Teenager eine sehr lockere Moral hatte und mit dreizehn schwanger geworden ist. Oder warst du erst zwölf, Clementine?«
Clementine ging auf Mirandas Vorlage nicht ein. »Ich war siebzehn, Gabriel. Meinen Schwestern fehlte es an Beschäftigung, und so habe ich ihnen eine Nichte geschenkt, damit sie etwas zum Spielen hatten.«
»Und Maggie ist die Einzige aus der nächsten Generation?«
»Sie hat uns völlig gereicht«, sagte Miranda. »Wenn es beim ersten Mal perfekt ist, warum es ein zweites Mal versuchen?«
Sie lachten. Alle, außer Juliet, wie Maggie bemerkte.
»Das ist Maggie gegenüber aber nicht fair«, sagte Gabriel. »Das setzt sie ja ganz schön unter Druck.«
»Druck? Unser kleiner Schatz ist ein Leben lang mit Liebe, Aufmerksamkeit und ungewollten Geschenken überschüttet worden. Stimmt das nicht, Maggie?«, sagte Miranda. »Wir sehen in Maggie unsere ureigene Schöpfung, Gabriel. Eine Art Frankenstein’sches Monster.«
»Nun, meine Lieben, was meint ihr? Das perfekte Outfit für einen Regisseur?« Leo präsentierte sich in einem langen grauen Mantel, mit einem weißen Schal und einer umgedrehten Baseballkappe. Offensichtlich hatte er in der Abstellkammer unter der Treppe gestöbert, wo mancher Feriengast im Laufe der Jahre etwas vergessen hatte.
»Ich finde, du siehst eher wie ein gammeliger Farmer aus, Leo«, sagte Miranda. Sie ging zu ihm und rückte ihm die Kappe zurecht. »Aber du bist ohnehin nicht der Regisseur. Gabriel hat hier das Sagen. Unser total angesagter Filmemacher aus den USA, direkt aus New York.«
»Ganz genau.« Gabriel sah auf die Uhr. »Nun, wer will zuerst? Ich möchte ein paar Probeaufnahmen machen.«
Maggie bemerkte, dass alle die Sache sehr ernst nahmen. Sie war versucht, zu bleiben und zuzuschauen, aber das war die Gelegenheit, in den Tagebüchern zu lesen. Sie wartete, bis die anderen mit Gabriel beschäftigt waren, und ging zu Leo.
»Irgendetwas Neues?«
»Noch nicht.« Er wusste, dass sie auf Sadie anspielte. Er sah auf sein Handy. »Ich prüfe immer, ob das Signal stark genug ist, der Empfang ist hier so unzuverlässig. Aber ich wollte ihm nicht unsere Festnetznummer geben, falls jemand anders ans Telefon geht.«
»Dann gehe ich mal nach oben und lese weiter.«
Er drückte ihre Hand. »Ich danke dir, Miss Maggie. Das wird bestimmt recht vergnüglich.« Er senkte die Stimme. »Noch nichts?«
Sie schüttelte den Kopf. Nein, Tollpatsch, nichts, was beweisen würde, dass deine Frau ein Verhältnis mit deinem Bruder hatte.
»Was tuschelt ihr beiden denn da?«, fragte Miranda vom Sofa her.
»Ich habe Maggie gerade gesagt, dass ich mich entschieden habe, mein Testament zu ändern und ihr alles zu hinterlassen«, gab Leo zurück.
Eliza sah auf. »Das ist hoffentlich nur ein Scherz. Ich bin doch bloß jedes Jahr hierhergekommen, damit ich Pluspunkte sammeln kann.«
»Natürlich ist das ein Scherz«, sagte Juliet. »Er hat sich schon vor Jahren entschieden, mir alles zu hinterlassen. Schließlich hab ich den Laden all die Jahre geschmissen.«
»Da irrst du dich«, sagte Miranda. »Einen Caterer und Partyplaner anzuheuern ist kein Problem. Aber findet mal jemanden mit meinem Esprit und meinem Humor, der ein wenig Leben in die Bude bringt. Hab ich recht, Leo?«
Juliets Miene versteinerte. Clementine sagte nichts, aber Maggie sah, wie sie Juliet sanft am Arm berührte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Gabriel hatte es auch bemerkt.
Maggie bildete es sich nicht ein. Es gab Spannungen. Das war ihr niemals zuvor aufgefallen. Warum aber jetzt? Was war anders? Sie musste an Gabriels Bemerkung über Tessa und Sadie denken. Am Abend zuvor hatte sie geleugnet, dass die beiden unsichtbar über allem schwebten, doch nun war sie nicht mehr so sicher. Etwas war anders. Vielleicht fiel es ihr auch nur zum ersten Mal auf.
Es war Zeit, sich zurückzuziehen. Maggie ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und ein getoastetes Rosinenbrot und kehrte wieder in ihr Zimmer zurück.