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»Tollpatsch?« Maggie war vollkommen fassungslos. »Was, um alles in der Welt, machst du hier?«
»Ich warte auf dich«, sagte er.
»Was ist denn? Ist Clementine etwas passiert?«
»Nichts ist passiert. Alles bestens.«
»Was machst du dann hier? Du solltest doch in Irland sein.«
»Ich bin auf dem Weg.«
»Über New York?«
»Du weißt doch, wie gerne ich im Flugzeug sitze.« Leo wandte sich zur Seite und reichte Maggies grauhaarigem Begleiter die Hand. »Guten Abend. Ich bin Leo Faraday, Maggies Großvater.«
»Hallo, Mr. Faraday, ich bin Gabriel West, Maggies … Ich bin ein Freund.«
Maggie sah hin und her, als ob sie die plötzliche Zurschaustellung von Höflichkeiten völlig aus dem Konzept gebracht hätte. »Tollpatsch, warum hast du nicht angerufen?«
»Habe ich. Ich habe es auf beiden Nummern versucht und dich auf keiner erreicht.«
»War das heute Abend?«
Er nickte. »Vom JFK aus, gleich nach der Landung. Ich hätte dich ja angerufen, bevor ich Paris verlassen habe, aber als mir bewusst wurde, was ich mache, war ich schon auf dem Weg.«
Gabriel mischte sich ein. »Maggie, ich sollte jetzt wohl besser gehen.«
Sie drehte sich um. »Gabriel, es tut mir leid, ich …«
»Nein, mir tut es leid«, sagte Leo. »Du hast recht, Maggie, wie immer. Es war nicht gut, einfach so aufzutauchen. Ich muss mich bei euch beiden entschuldigen.«
»O Tollpatsch, mir tut es auch leid.« Maggie umarmte ihren Großvater. »Mir tut es leid, dass ich so wenig begeistert klinge. Es ist großartig, dass du hier bist. Du hast mich nur überrascht, das ist alles.«
Leo umarmte sie auch. »Man sollte meinen, dass ich in meinem Alter Manieren hätte, oder? Aber wahrscheinlich ist mein Alter sogar schuld daran.« Er wandte sich an Gabriel. »Ich habe eine Theorie, Gabriel. Man muss immer auf Achse sein, dann findet einen der Sensenmann nicht.«
»Eine hervorragende Theorie. Das merke ich mir.«
Leo sah ihn zufrieden an. »Ist das da eine Gitarre? Einmalig. Ich bin nicht musikalisch. Was spielen Sie denn?«
»Tollpatsch, bitte …«, unterbrach Maggie.
»Tollpatsch?«, fragte Gabriel.
Leo strahlte wieder. »Mein Kosename, weil sie als Kind Großpapa nicht aussprechen konnte.«
Maggie mischte sich ein. »Ich bin sicher, Gabriel möchte nicht all die …«
»Doch, möchte er.« Gabriel grinste.
Leo konzentrierte sich wieder auf ihn. »Also, was für Musik spielen Sie?«
»Unterhaltungsmusik, vorwiegend in irischen und spanischen Bars.«
»Ich ziehe meinen Hut. Sie spielen nicht zufällig an einem der nächsten Abende? Ich könnte ja reinspringen und zuhören. Maggie, was meinst du?«
Maggie war ein wenig errötet.
Gabriel sah das. »Ich sollte jetzt lieber gehen.« Er streckte die Hand aus. »Mr. Faraday, es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
»Mir auch, und lassen Sie den Quatsch mit Mr. Faraday. Ich heiße Leo.«
»Danke, Leo, und danke, Maggie, für den schönen Abend. Ich habe ihn wirklich genossen.«
»Ich auch. Danke dir. Für alles.«
Leo beobachtete sie mit regem Interesse. »Bring ihn ruhig nach draußen, Maggie«, sagte er. »Ich warte gerne ein wenig.«
Er schaute zu, wie Maggie Gabriel zur Tür begleitete und noch ein oder zwei Minuten mit ihm sprach. Wie Gabriel sich nach unten beugte und sie auf die Wange küsste. Süß! Das schien ein prima Kerl zu sein. Leo lächelte noch, als Maggie zurückkam. Sie lächelte nicht.
Sie kam gleich zur Sache. »Leo, was ist passiert? Ich weiß es zu schätzen, dass du es nicht vor Gabriel gesagt hast, aber ich will endlich wissen, was los ist. Du würdest doch nicht grundlos aus heiterem Himmel hier auftauchen.«
Er war betrübt, sie so in Sorge zu sehen. Er entschied, das Thema zu wechseln. »Das scheint mir ja ein sehr charmanter junger Mann zu sein. Ist das dein neuer Freund?«
»Nein, ist er nicht. Ich habe ihn heute Abend erst kennengelernt.«
»Heute Abend? Dafür habt ihr euch aber sehr gut verstanden.«
»Ich habe schon ein paarmal mit ihm gesprochen, aber getroffen haben wir uns erst heute. Ich kenne ihn durch seine Mutter. Sie hat eine Agentur …«
»Eine Partnervermittlung? Ich hab deiner Mutter gesagt, dass du dich hier sicher einsam fühlst, ganz allein in der großen Stadt.«
»Tollpatsch, hör mir doch zu. Gabriels Mutter hat keine Partnervermittlung.« Sie erzählte ihm von der Mietenkel-Agentur, von Dolly, von allem, was an diesem Tag passiert war. Wieder flossen die Tränen. Sie wischte sie weg. »Ich weiß nicht, warum ich so aufgebracht bin, ich habe sie doch kaum gekannt. Das ist deine Schuld. Du bist noch nicht einmal zehn Minuten hier, und schon muss ich weinen.«
»Weine ruhig. Ich habe jede Menge Taschentücher dabei.«
Sie nahm eines der angebotenen Tücher und wischte sich die Augen ab. »Tut mir leid, Tollpatsch.«
»Ich sollte mich entschuldigen. Dein dummer alter Großvater platzt hier einfach so rein, wie der Elefant im Porzellanladen, in eine Situation, in der er nicht erwünscht ist.«
»Du bist nicht dumm. Und ich bin froh, dass du da bist. Überrascht, aber froh.«
»Ich habe mich, ehrlich gesagt, selbst überrascht. Aber ich bin auch wirklich froh, dass ich hier bin. Jetzt noch viel mehr.« Er legte eine Hand auf ihren Kopf, berührte ihre Wange, dann ihre Nasenspitze, zärtliche Gesten, die er seit ihrer Kindheit beibehalten hatte. »Was hältst du davon, wenn wir beide irgendwo eine heiße Schokolade oder etwas anderes Beruhigendes trinken?«
»Bist du denn gar nicht müde?«
»Wie denn? In der Stadt, die niemals schläft? Lass uns einen draufmachen, bis ich umfalle. Natürlich nur, wenn du mit deinem alten Großvater in der Öffentlichkeit gesehen werden willst.«
Maggie beruhigte sich. Sie hatte ihrem Großvater nie lange böse sein können. »Wir können uns ja auf düstere Lokalitäten beschränken«, sagte sie und hakte sich bei ihm ein.

Eine Stunde später war Maggie wieder zu Hause. Sie hatte Leo in ein Taxi gesetzt, Koffer und Aktentasche daneben, und ihm nachgewunken. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, bei ihr zu übernachten, hatte er gesagt. Er hatte sich bereits in einem exzellenten Hotel nahe des Central Park einquartiert.
Sie hatten auf der Bleecker Street noch ein offenes Café entdeckt. Es war zu heiß für heiße Schokolade. Sie hatten Eistee getrunken. Leo hatte versucht, Maggie auszufragen, aber sie hatte sich geweigert, auch nur eine einzige Frage zu beantworten, solange er ihr nicht sagte, warum er gekommen war. »Es ist schon spät. Das war ein harter Tag für dich, und ich habe eine lange Reise hinter mir. Bleiben wir bei unverfänglichen Themen. Ich bin zu müde, um heute Abend noch eine ernsthafte Unterhaltung zu führen.«
»Das überrascht mich nicht, schließlich bist du fast achtzig und ziehst immer noch durch die Welt.«
»Das sagst ausgerechnet du.« Sein Ton wurde ernst. »Wir machen uns alle Sorgen um dich.«
»Mir geht es gut, Tollpatsch, ehrlich. Ich musste nur einfach mal raus.«
»Ich bin stolz auf dich, Maggie.« Er drückte ihre Hand.
Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen. Elf Uhr in seinem Hotel. Als er in das Taxi stieg, hatte er doch noch etwas auf dem Herzen. »Ich muss dich um etwas bitten, Maggie. Um eine kleine Notlüge. Falls deine Mutter anruft, oder eine deiner Tanten, du hast mich nicht gesehen. Okay?«
»Weiß denn niemand, dass du hier bist?«
»Nicht so richtig. Juliet nimmt wohl an, dass ich in London bin, auf dem Weg nach Belfast und Donegal.«
»Und die anderen?«
»Die sind sich vermutlich auch nicht so sicher. Die haben mich, glaube ich, vor Jahren schon aufgegeben.«
»Du bist unverbesserlich.«
Er war entzückt, das zu hören.
Nachdem Maggie sich die Zähne geputzt, das Bett ausgeklappt und den Schlafanzug angezogen hatte, fragte sie sich, worüber er wohl mit ihr sprechen wollte. Er hatte mehrfach betont, dass er sich bester Gesundheit erfreute, ihr wiederholt versichert, dass mit Clementine und ihren Tanten alles in Ordnung war. Worum also mochte es gehen?
Sie wälzte sich im Bett umher. Nach der ganzen ruhigen Zeit in New York hatte sie dieser Tag ein wenig überfordert: Dollys Tod, die Begegnung mit Gabriel, Leos Besuch.
Ihr kam einer der vielen Sprüche ihres Großvaters in den Sinn. Auf Regen folgt immer auch Sonnenschein. Wenn Dollys Tod der Regen war, dann war Gabriel der Sonnenschein. Sie hatte ihn gleich gemocht. Wirklich gemocht, wurde ihr in dem Moment bewusst.
Was wäre passiert, wenn Leo nicht im Foyer gewartet hätte? Gabriel wäre mit in ihr Apartment gekommen. Sie hätte ihm einen Kaffee gemacht. Er hätte seine Wette eingelöst, seine Gitarre genommen und gesungen. Sie hätten sich weiter unterhalten, noch mehr gelacht. Und dann?
Es dauerte lange, bis Maggie einschlief.