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Sadie war noch nie
so beschäftigt gewesen. An fünf Wochentagen und manchmal sogar am
Wochenende kümmerte sie sich um Maggie. Das Sammelbuch nahm ihre
restliche Zeit in Anspruch. Es war fast fertig – mehr als vierzig
Seiten voller Zeichnungen, Fotografien, Notizen und kleiner
Erinnerungsstücke. Jetzt blieb nur noch der Umschlag. Außerdem
musste sich Sadie um ein anderes geheimes Vorhaben kümmern. Sie
musste das Parfum verstecken.
Die violette Flasche
war vor drei Wochen urplötzlich aufgetaucht, in ihrem Kissenbezug.
Seit sie den Flakon zum ersten Mal in ihrer Tasche entdeckt hatte,
vor mehr als vier Jahren, war er über ein Dutzend Mal ohne
Vorwarnung in ihrem Zimmer oder zwischen ihren Sachen aufgetaucht.
Darüber gesprochen wurde niemals. Es gab auch keine Regelmäßigkeit.
Manchmal sah sie das Parfum wochenlang nicht. Einmal waren es sogar
vier Monate gewesen. In der Zeit war es wohl zwischen ihren
Schwestern hin und her gewandert. Im vergangenen Winter hatte sie
es dafür drei Mal innerhalb weniger Wochen gesehen.
Es war immer
aufregend. An einem besonders kalten Winterabend hatte sie die
Flasche in ihrem Bett gefunden, im Bezug ihrer Wärmflasche. Wer
immer sie dort versteckt hatte, war sehr schnell gewesen, denn
Sadie war nur eine Minute ins Bad gegangen, um sich die Zähne zu
putzen. Einmal hatte sie den Flakon mit
der Post erhalten, ihr Name und die Adresse hatten in
Maschinenschrift auf dem Paket gestanden, der Poststempel war aus
Hobart. Nichts hatte den Absender verraten. Aber sie selbst war
auch ziemlich einfallsreich. Einmal
hatte sie das Fläschchen ins Futter von Elizas Allwettermantel
gesteckt. In Mirandas Schachtel mit organischem Müsli – »Anfassen
streng verboten« -, die sie in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte,
damit niemand auch nur einen Krümel stahl. Ein anderes Mal hatte
sie eine Schulfreundin dazu überredet, Juliet das Parfum ins Café
zu liefern, im Innern einer großen Kaffeedose. Nun dachte sie schon
seit Tagen vergnügt darüber nach, wer den Flakon auf welchem Wege
als Nächste erhalten sollte.
Am Samstagnachmittag
war sie endlich allein. Den ganzen Morgen lang hatte Trubel
geherrscht. Lautes Rufen, Gespräche, Türenschlagen. Sadie war im
Bett geblieben und hatte getan, als würde sie
schlafen.
Als alle fort waren,
machte sie sich rasch Frühstück – wie üblich Toast ohne Aufstrich
und Tee -, um sofort anzufangen. Als Erstes warf sie einen Blick in
die Zimmer ihrer Schwestern. Juliets Zimmer war immer eine kleine
Untersuchung wert, vor allem, seit sie einen Freund hatte. Aber am
interessantesten war Mirandas Zimmer, mit all den neuen Parfums und
Cremes, die sich auf der Kommode fanden, und den vielen neuen
Dekorationsstücken, die ständig dort auftauchten. Sadie trug einen
Duft auf und fuhr mit der Hand über Mirandas neue Bettlampe. Der
Schirm bestand aus blauen, roten und grünen Perlenschnüren. Sadie
machte die Lampe an und bestaunte das farbige Licht. Sie hielt die
Hand vor die Glühbirne und sah auf den Schatten an der Wand. Der
exakte Umriss ihrer Hand, in drei Farbtönen …
Es war schwieriger
als erwartet. Sie versuchte, den Flakon im Lampenschirm zu
verstecken, aber er hielt nicht. Klebeband würde schmelzen. Eine
Kordel würde auffallen. Sie brauchte etwas Unsichtbares.
Angelschnur. So etwas gab es im Schuppen bestimmt. Denkland war
zwar tabu, wenn Leo nicht da war, aber wie sollte er es
herausfinden? Sie wollte doch nur eine Minute
hineinhuschen.
Der Schuppen war
verschlossen, aber alle wussten, wo der Schlüsselbund lag. Die Tür
ging ganz leicht auf. Es war komisch, allein dort zu sein.
Beängstigend und aufregend zugleich. Sadie konnte nirgendwo
Angelschnur entdecken. Sie versuchte es mit dem hölzernen Schrank,
der eine ganze Wand einnahm. Er war verschlossen. Sie probierte
einen anderen Schlüssel aus. Er passte. Der Schrank hatte fünf
Fächer, eines ordentlicher als das andere. Auf einem standen
Aktenordner. Metallstücke, kleine Fläschchen mit Flüssigkeit und
Lötmaterial auf einem anderen. Stapel mit Leos Notizbüchern,
Schachteln mit Reagenzgläsern, eine altmodische Waage auf einem
noch anderen. Auf dem untersten Fach befand sich ein hellroter,
geflochtener Korb mit Deckel. Er stach unter all den grauen
Ordnern, Plastikdosen mit Draht, Schrauben und anderen
unidentifizierbaren Gegenständen deutlich hervor.
Er hatte ihrer
Mutter gehört. Sadie erinnerte sich, den Korb auf dem
Nachttischchen im Schlafzimmer ihrer Eltern gesehen zu haben. Warum
hatte Leo ihn hier in seinem Schuppen verborgen? Wussten ihre
Schwestern davon? Sollte sie auf die anderen warten? Es ihnen
erzählen, damit sie ihren Vater gemeinsam fragen konnten? Sie
zögerte kurz. Sie sah zum Haus. Nichts rührte sich. Noch hatte sie
Zeit.
Langsam nahm sie den
Deckel ab. Obenauf lagen drei Zeitschriften. Woman’s Own von 1971, dem Jahr, in dem ihre Mutter
gestorben war. Die Hefte waren wohl noch einige Monate aus England
gekommen, bis jemand das Abonnement gekündigt hatte. Sadie
widerstand der Versuchung hineinzuschauen. Sie legte sie beiseite
und stieß auf ein Sammelbuch. Sie schlug es auf. Die Seiten waren
leer. Darunter befand sich eine farbige Plastikdose. Sadie holte
auch sie heraus. Es klapperte. Sie lüftete den Deckel. Im Innern
waren Kleber, Schere und farbige Stifte. Sadie berührte sie sanft,
die Schere, die Stifte, die ihre Mutter benutzt hatte.
Auf dem Boden des
Korbs lag eine letzte Schachtel. Sadie hob sie heraus, ihr Herz
schlug schneller. Sie konnte nicht sagen, warum, aber im Nachhinein
wurde ihr deutlich, dass sie in dem Moment schon gewusst hatte, was
die Schachtel barg: zwei Bündel mit kleinen blauen Notizbüchern.
Die Tagebücher ihrer Mutter.
Sadie schaute sie
lange an. Vielleicht täuschte sie sich ja. Vielleicht waren sie
leer, hatte ihre Mutter diese hier nicht mehr schreiben können. Sie
wischte sich die Hände an ihren Jeans ab, dann nahm sie eines der
Bündel heraus und zog ein Tagebuch unter dem Gummiband hervor.
»Tessa Faraday« stand in geschwungener
Schrift auf dem Einband. Sadie schlug es auf. Dort prangte wieder
der Namenszug ihrer Mutter. Sadie blätterte eine Seite weiter.
Viele Seiten weiter. Die Schrift ihrer Mutter, auf jeder einzelnen
Seite, die Worte drängten sich Sadie entgegen. Sie schloss das
Tagebuch und öffnete ein weiteres. Es stammte aus einem anderen
Jahr, auch hier war jede Seite randvoll beschrieben. Sadie rechnete
schnell nach. Es gab neun Tagebücher. Sie schaute auf die
Jahreszahlen. Jedes Buch umfasste zwei Jahre. Das erste setzte 1953
ein, das letzte in dem Jahr, in dem ihre Mutter gestorben war,
1971. Achtzehn Jahre aus dem Leben ihrer Mutter, niedergeschrieben
auf diesen Seiten, hier vor ihren Augen.
Der Hund der
Nachbarn zwei Häuser weiter schlug an. Eilig legte Sadie die
Tagebücher zurück in die Schachtel, machte den Deckel zu, legte die
Plastikdose darauf, dann die Zeitschriften, schob alles zurück in
den Schrank und schloss die Tür. Ihre Hände zitterten. Sie
benötigte drei Anläufe, um den Schuppen abzuschließen.
Als Miranda auf der
Veranda erschien, zupfte Sadie betont geschäftig totes Laub aus dem
Zitronenbaum.
»Ist Dad da?«, rief
Miranda.
»Ich hab ihn nicht
gesehen«, rief Sadie zurück.
»Du bist übrigens
mit der Wäsche dran.«
»Mach ich
nachher.«
»Vergiss es nicht.«
Miranda ging zurück ins Haus und schlug die Tür hinter sich
zu.
Sadie blieb noch
einige Minuten im Garten und dachte angestrengt nach. Sie hatte
vorgehabt, Miranda und all ihren Schwestern von ihrem Fund zu
erzählen. Aber sie hatte sich spontan dagegen entschieden. Sie
wollte es ihnen noch nicht sagen. Sie zupfte noch einige Blätter
ab, dann folgte sie Miranda ins Haus.
Die anderen kamen
spät heim, Leo zuletzt. Sadie war überzeugt, dass man es ihr ansah.
Sie hatte das Gefühl, dass es ihr auf der Stirn geschrieben stand:
»Ich hab Mums Tagebücher gefunden! Ich war im Schuppen!« Doch das
Gefühl, dass es ihre Entdeckung war, ihr Geheimnis, und sie am
besten gar nichts sagte, war genauso stark.
Sie verlor das
Interesse daran, das Parfum zu verstecken. Als sie das nächste Mal
allein zu Hause war, schob sie den Flakon in einen von Elizas
Getränkebehältern in ihrer Sporttasche. Sadie eilte zum Schuppen.
Sie hatte die Tagebücher kaum aus ihrem Versteck geholt, da bellte
der Hund. Sie fluchte atemlos, schob alles wieder, so schnell sie
konnte, an seinen Platz, schloss ab, rannte durch den Garten, über
die Veranda und durch die Hintertür ins Haus. Sie hatte sich gerade
auf ihr Bett geworfen, ein beliebiges Buch in der Hand, als Eliza
ins Zimmer kam.
Sie sah Sadie nur
kurz an. »Was hast du denn angestellt? Du siehst so unglaublich
schuldbewusst aus.«
»Nichts. Und das
geht dich sowieso nichts an.«
»Du hast wieder
rumgeschnüffelt, Sadie. Diesen Gesichtsausdruck hast du immer, wenn
du irgendetwas angestellt hast.«
Sadie hätte es ihr
fast gesagt. Es lag ihr auf der Zunge. Aber was dann? Eliza würde
es Juliet erzählen, Juliet wiederum Miranda, die es Clementine
erzählen würde, und dann würden sie geschlossen zu Leo gehen, der
Nein sagen würde. Nein, sie dürften die Tagebücher nicht lesen.
Vielleicht würde er sie daraufhin wirklich verbrennen. Sadie würde
Ärger bekommen – großen Ärger -, weil sie unerlaubterweise in Leos
Schuppen gegangen war. Sie konnte es Eliza nicht erzählen. Sie
wollte es ihr auch nicht erzählen. Sie wollte die Erste sein, die
in den Tagebüchern ihrer Mutter las.
»Sag schon«, drängte
Eliza und zwickte sie.
Sadie sah betont auf
Elizas Sporttasche. Wieder hoch zu Eliza. Wieder auf die
Sporttasche. »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« Fast hätte
sie hinzugefügt: »Riechst du denn nichts?«, aber das war zu
offensichtlich. Eliza verstand den Wink auch so. Sadie glitt vom
Bett, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher
ein.
Als sich Eliza
wenige Minuten später zu ihr gesellte, war sie verändert. Sadie
kannte den verschwörerischen, amüsierten Ausdruck, den sie alle hin
und wieder hatten, wenn das »Moonstruck« weitergewandert
war.
»Willst du Tee,
Sadie?«
»O gerne, danke«,
sagte sie.
Während der nächsten
Tage ging Sadie bei jeder Gelegenheit in den Schuppen. Was sich
selten genug ergab. Während der Woche musste sie auf Maggie
aufpassen und konnte es nicht riskieren, sie mitzunehmen. Ihre
Nichte sprach schon zu viel – und registrierte auch schon zu viel.
Sie würde ganz sicher während des Abendessens darüber plappern,
dass sie mit Sadie zusammen in Tollpatschs Schuppen gewesen war und
in alte Bücher geschaut hatte. Und an den Wochenenden war Leo meist
dort.
Sadie wagte nicht,
die Tagebücher aus dem Schuppen zu holen. Sie wagte kaum, das erste
zu lesen. Aber als sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht
mehr aufhören. Es war so tröstlich, die Seiten zu berühren, die
ihre Mutter berührt hatte. Noch viel aufregender war es, zu lesen,
was ihre Mutter gedacht hatte. Das Schicksal musste Sadie an jenem
Tag in den Schuppen geführt haben. Sie hatte mit dem ersten
Tagebuch begonnen. Es war seltsam, denn sie selbst war älter als
ihre Mutter zum Zeitpunkt der ersten Einträge. Tessa schrieb über
ihre Arbeit als Sekretärin, ihre abendlichen Unternehmungen in
London, Treffen mit Freundinnen, Einkaufstouren. Sie hatte kleine
Zitate notiert, die ihr gefallen hatten. Auf einer Seite klebte
eine Theaterkarte. Manches las sich ein wenig unangenehm. Tessa war
wohl die Hübscheste, und es gab zahlreiche Bemerkungen über ihr
Äußeres und ihre Kleider, neben gelegentlichen abfälligen
Kommentaren über das Aussehen ihrer Freundinnen. Sadie genoss trotz
ihres schlechten Gewissens jedes einzelne Wort. Ihre Mutter konnte
sich sehr gut ausdrücken, bei den Beschreibungen ihrer Kleider
ebenso wie bei den kleinen Sticheleien über Bekannte.
Sadie gestattete
sich bei jedem Besuch zehn Seiten. Es war, als würde sie einen
Roman lesen, dessen Handlung sie bereits kannte – als Letztes hatte
Sadie gelesen, dass Tessa sich zurechtgemacht hatte, um mit
Freundinnen tanzen zu gehen, und dass sie in einen Jungen aus ihrer
Heimatstadt verknallt war. Sadie hatte ausgerechnet, dass ihre
Mutter damals zwanzig Jahre alt gewesen sein musste. Dann waren es
nur noch acht Monate bis zu ihrer Begegnung mit Leo. Selbst wenn
Sadie vor Neugierde umkam, sie hielt sich streng an ihr
Pensum.