12

Sadie war noch nie so beschäftigt gewesen. An fünf Wochentagen und manchmal sogar am Wochenende kümmerte sie sich um Maggie. Das Sammelbuch nahm ihre restliche Zeit in Anspruch. Es war fast fertig – mehr als vierzig Seiten voller Zeichnungen, Fotografien, Notizen und kleiner Erinnerungsstücke. Jetzt blieb nur noch der Umschlag. Außerdem musste sich Sadie um ein anderes geheimes Vorhaben kümmern. Sie musste das Parfum verstecken.
Die violette Flasche war vor drei Wochen urplötzlich aufgetaucht, in ihrem Kissenbezug. Seit sie den Flakon zum ersten Mal in ihrer Tasche entdeckt hatte, vor mehr als vier Jahren, war er über ein Dutzend Mal ohne Vorwarnung in ihrem Zimmer oder zwischen ihren Sachen aufgetaucht. Darüber gesprochen wurde niemals. Es gab auch keine Regelmäßigkeit. Manchmal sah sie das Parfum wochenlang nicht. Einmal waren es sogar vier Monate gewesen. In der Zeit war es wohl zwischen ihren Schwestern hin und her gewandert. Im vergangenen Winter hatte sie es dafür drei Mal innerhalb weniger Wochen gesehen.
Es war immer aufregend. An einem besonders kalten Winterabend hatte sie die Flasche in ihrem Bett gefunden, im Bezug ihrer Wärmflasche. Wer immer sie dort versteckt hatte, war sehr schnell gewesen, denn Sadie war nur eine Minute ins Bad gegangen, um sich die Zähne zu putzen. Einmal hatte sie den Flakon mit der Post erhalten, ihr Name und die Adresse hatten in Maschinenschrift auf dem Paket gestanden, der Poststempel war aus Hobart. Nichts hatte den Absender verraten. Aber sie selbst war auch ziemlich einfallsreich. Einmal hatte sie das Fläschchen ins Futter von Elizas Allwettermantel gesteckt. In Mirandas Schachtel mit organischem Müsli – »Anfassen streng verboten« -, die sie in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte, damit niemand auch nur einen Krümel stahl. Ein anderes Mal hatte sie eine Schulfreundin dazu überredet, Juliet das Parfum ins Café zu liefern, im Innern einer großen Kaffeedose. Nun dachte sie schon seit Tagen vergnügt darüber nach, wer den Flakon auf welchem Wege als Nächste erhalten sollte.
Am Samstagnachmittag war sie endlich allein. Den ganzen Morgen lang hatte Trubel geherrscht. Lautes Rufen, Gespräche, Türenschlagen. Sadie war im Bett geblieben und hatte getan, als würde sie schlafen.
Als alle fort waren, machte sie sich rasch Frühstück – wie üblich Toast ohne Aufstrich und Tee -, um sofort anzufangen. Als Erstes warf sie einen Blick in die Zimmer ihrer Schwestern. Juliets Zimmer war immer eine kleine Untersuchung wert, vor allem, seit sie einen Freund hatte. Aber am interessantesten war Mirandas Zimmer, mit all den neuen Parfums und Cremes, die sich auf der Kommode fanden, und den vielen neuen Dekorationsstücken, die ständig dort auftauchten. Sadie trug einen Duft auf und fuhr mit der Hand über Mirandas neue Bettlampe. Der Schirm bestand aus blauen, roten und grünen Perlenschnüren. Sadie machte die Lampe an und bestaunte das farbige Licht. Sie hielt die Hand vor die Glühbirne und sah auf den Schatten an der Wand. Der exakte Umriss ihrer Hand, in drei Farbtönen …
Es war schwieriger als erwartet. Sie versuchte, den Flakon im Lampenschirm zu verstecken, aber er hielt nicht. Klebeband würde schmelzen. Eine Kordel würde auffallen. Sie brauchte etwas Unsichtbares. Angelschnur. So etwas gab es im Schuppen bestimmt. Denkland war zwar tabu, wenn Leo nicht da war, aber wie sollte er es herausfinden? Sie wollte doch nur eine Minute hineinhuschen.
Der Schuppen war verschlossen, aber alle wussten, wo der Schlüsselbund lag. Die Tür ging ganz leicht auf. Es war komisch, allein dort zu sein. Beängstigend und aufregend zugleich. Sadie konnte nirgendwo Angelschnur entdecken. Sie versuchte es mit dem hölzernen Schrank, der eine ganze Wand einnahm. Er war verschlossen. Sie probierte einen anderen Schlüssel aus. Er passte. Der Schrank hatte fünf Fächer, eines ordentlicher als das andere. Auf einem standen Aktenordner. Metallstücke, kleine Fläschchen mit Flüssigkeit und Lötmaterial auf einem anderen. Stapel mit Leos Notizbüchern, Schachteln mit Reagenzgläsern, eine altmodische Waage auf einem noch anderen. Auf dem untersten Fach befand sich ein hellroter, geflochtener Korb mit Deckel. Er stach unter all den grauen Ordnern, Plastikdosen mit Draht, Schrauben und anderen unidentifizierbaren Gegenständen deutlich hervor.
Er hatte ihrer Mutter gehört. Sadie erinnerte sich, den Korb auf dem Nachttischchen im Schlafzimmer ihrer Eltern gesehen zu haben. Warum hatte Leo ihn hier in seinem Schuppen verborgen? Wussten ihre Schwestern davon? Sollte sie auf die anderen warten? Es ihnen erzählen, damit sie ihren Vater gemeinsam fragen konnten? Sie zögerte kurz. Sie sah zum Haus. Nichts rührte sich. Noch hatte sie Zeit.
Langsam nahm sie den Deckel ab. Obenauf lagen drei Zeitschriften. Woman’s Own von 1971, dem Jahr, in dem ihre Mutter gestorben war. Die Hefte waren wohl noch einige Monate aus England gekommen, bis jemand das Abonnement gekündigt hatte. Sadie widerstand der Versuchung hineinzuschauen. Sie legte sie beiseite und stieß auf ein Sammelbuch. Sie schlug es auf. Die Seiten waren leer. Darunter befand sich eine farbige Plastikdose. Sadie holte auch sie heraus. Es klapperte. Sie lüftete den Deckel. Im Innern waren Kleber, Schere und farbige Stifte. Sadie berührte sie sanft, die Schere, die Stifte, die ihre Mutter benutzt hatte.
Auf dem Boden des Korbs lag eine letzte Schachtel. Sadie hob sie heraus, ihr Herz schlug schneller. Sie konnte nicht sagen, warum, aber im Nachhinein wurde ihr deutlich, dass sie in dem Moment schon gewusst hatte, was die Schachtel barg: zwei Bündel mit kleinen blauen Notizbüchern. Die Tagebücher ihrer Mutter.
Sadie schaute sie lange an. Vielleicht täuschte sie sich ja. Vielleicht waren sie leer, hatte ihre Mutter diese hier nicht mehr schreiben können. Sie wischte sich die Hände an ihren Jeans ab, dann nahm sie eines der Bündel heraus und zog ein Tagebuch unter dem Gummiband hervor. »Tessa Faraday« stand in geschwungener Schrift auf dem Einband. Sadie schlug es auf. Dort prangte wieder der Namenszug ihrer Mutter. Sadie blätterte eine Seite weiter. Viele Seiten weiter. Die Schrift ihrer Mutter, auf jeder einzelnen Seite, die Worte drängten sich Sadie entgegen. Sie schloss das Tagebuch und öffnete ein weiteres. Es stammte aus einem anderen Jahr, auch hier war jede Seite randvoll beschrieben. Sadie rechnete schnell nach. Es gab neun Tagebücher. Sie schaute auf die Jahreszahlen. Jedes Buch umfasste zwei Jahre. Das erste setzte 1953 ein, das letzte in dem Jahr, in dem ihre Mutter gestorben war, 1971. Achtzehn Jahre aus dem Leben ihrer Mutter, niedergeschrieben auf diesen Seiten, hier vor ihren Augen.
Der Hund der Nachbarn zwei Häuser weiter schlug an. Eilig legte Sadie die Tagebücher zurück in die Schachtel, machte den Deckel zu, legte die Plastikdose darauf, dann die Zeitschriften, schob alles zurück in den Schrank und schloss die Tür. Ihre Hände zitterten. Sie benötigte drei Anläufe, um den Schuppen abzuschließen.
Als Miranda auf der Veranda erschien, zupfte Sadie betont geschäftig totes Laub aus dem Zitronenbaum.
»Ist Dad da?«, rief Miranda.
»Ich hab ihn nicht gesehen«, rief Sadie zurück.
»Du bist übrigens mit der Wäsche dran.«
»Mach ich nachher.«
»Vergiss es nicht.« Miranda ging zurück ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Sadie blieb noch einige Minuten im Garten und dachte angestrengt nach. Sie hatte vorgehabt, Miranda und all ihren Schwestern von ihrem Fund zu erzählen. Aber sie hatte sich spontan dagegen entschieden. Sie wollte es ihnen noch nicht sagen. Sie zupfte noch einige Blätter ab, dann folgte sie Miranda ins Haus.
Die anderen kamen spät heim, Leo zuletzt. Sadie war überzeugt, dass man es ihr ansah. Sie hatte das Gefühl, dass es ihr auf der Stirn geschrieben stand: »Ich hab Mums Tagebücher gefunden! Ich war im Schuppen!« Doch das Gefühl, dass es ihre Entdeckung war, ihr Geheimnis, und sie am besten gar nichts sagte, war genauso stark.
Sie verlor das Interesse daran, das Parfum zu verstecken. Als sie das nächste Mal allein zu Hause war, schob sie den Flakon in einen von Elizas Getränkebehältern in ihrer Sporttasche. Sadie eilte zum Schuppen. Sie hatte die Tagebücher kaum aus ihrem Versteck geholt, da bellte der Hund. Sie fluchte atemlos, schob alles wieder, so schnell sie konnte, an seinen Platz, schloss ab, rannte durch den Garten, über die Veranda und durch die Hintertür ins Haus. Sie hatte sich gerade auf ihr Bett geworfen, ein beliebiges Buch in der Hand, als Eliza ins Zimmer kam.
Sie sah Sadie nur kurz an. »Was hast du denn angestellt? Du siehst so unglaublich schuldbewusst aus.«
»Nichts. Und das geht dich sowieso nichts an.«
»Du hast wieder rumgeschnüffelt, Sadie. Diesen Gesichtsausdruck hast du immer, wenn du irgendetwas angestellt hast.«
Sadie hätte es ihr fast gesagt. Es lag ihr auf der Zunge. Aber was dann? Eliza würde es Juliet erzählen, Juliet wiederum Miranda, die es Clementine erzählen würde, und dann würden sie geschlossen zu Leo gehen, der Nein sagen würde. Nein, sie dürften die Tagebücher nicht lesen. Vielleicht würde er sie daraufhin wirklich verbrennen. Sadie würde Ärger bekommen – großen Ärger -, weil sie unerlaubterweise in Leos Schuppen gegangen war. Sie konnte es Eliza nicht erzählen. Sie wollte es ihr auch nicht erzählen. Sie wollte die Erste sein, die in den Tagebüchern ihrer Mutter las.
»Sag schon«, drängte Eliza und zwickte sie.
Sadie sah betont auf Elizas Sporttasche. Wieder hoch zu Eliza. Wieder auf die Sporttasche. »Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« Fast hätte sie hinzugefügt: »Riechst du denn nichts?«, aber das war zu offensichtlich. Eliza verstand den Wink auch so. Sadie glitt vom Bett, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Als sich Eliza wenige Minuten später zu ihr gesellte, war sie verändert. Sadie kannte den verschwörerischen, amüsierten Ausdruck, den sie alle hin und wieder hatten, wenn das »Moonstruck« weitergewandert war.
»Willst du Tee, Sadie?«
»O gerne, danke«, sagte sie.
Während der nächsten Tage ging Sadie bei jeder Gelegenheit in den Schuppen. Was sich selten genug ergab. Während der Woche musste sie auf Maggie aufpassen und konnte es nicht riskieren, sie mitzunehmen. Ihre Nichte sprach schon zu viel – und registrierte auch schon zu viel. Sie würde ganz sicher während des Abendessens darüber plappern, dass sie mit Sadie zusammen in Tollpatschs Schuppen gewesen war und in alte Bücher geschaut hatte. Und an den Wochenenden war Leo meist dort.
Sadie wagte nicht, die Tagebücher aus dem Schuppen zu holen. Sie wagte kaum, das erste zu lesen. Aber als sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Es war so tröstlich, die Seiten zu berühren, die ihre Mutter berührt hatte. Noch viel aufregender war es, zu lesen, was ihre Mutter gedacht hatte. Das Schicksal musste Sadie an jenem Tag in den Schuppen geführt haben. Sie hatte mit dem ersten Tagebuch begonnen. Es war seltsam, denn sie selbst war älter als ihre Mutter zum Zeitpunkt der ersten Einträge. Tessa schrieb über ihre Arbeit als Sekretärin, ihre abendlichen Unternehmungen in London, Treffen mit Freundinnen, Einkaufstouren. Sie hatte kleine Zitate notiert, die ihr gefallen hatten. Auf einer Seite klebte eine Theaterkarte. Manches las sich ein wenig unangenehm. Tessa war wohl die Hübscheste, und es gab zahlreiche Bemerkungen über ihr Äußeres und ihre Kleider, neben gelegentlichen abfälligen Kommentaren über das Aussehen ihrer Freundinnen. Sadie genoss trotz ihres schlechten Gewissens jedes einzelne Wort. Ihre Mutter konnte sich sehr gut ausdrücken, bei den Beschreibungen ihrer Kleider ebenso wie bei den kleinen Sticheleien über Bekannte.
Sadie gestattete sich bei jedem Besuch zehn Seiten. Es war, als würde sie einen Roman lesen, dessen Handlung sie bereits kannte – als Letztes hatte Sadie gelesen, dass Tessa sich zurechtgemacht hatte, um mit Freundinnen tanzen zu gehen, und dass sie in einen Jungen aus ihrer Heimatstadt verknallt war. Sadie hatte ausgerechnet, dass ihre Mutter damals zwanzig Jahre alt gewesen sein musste. Dann waren es nur noch acht Monate bis zu ihrer Begegnung mit Leo. Selbst wenn Sadie vor Neugierde umkam, sie hielt sich streng an ihr Pensum.