5

Ihre Mutter war wegen einer simplen Operation ins Krankenhaus gekommen. »Frauenprobleme«, hatte es geheißen.
Juliet hatte mit Begeisterung den Haushalt übernommen. Es wäre ja nur für eine Woche. Und Tessa würde die Ruhe guttun, wie die Nachbarn alle meinten. Die arme Frau musste ja erschöpft sein, bei fünf Töchtern.
Tessa war auf einer kleinen Station, mit nur drei anderen Frauen. Sie besuchten sie regelmäßig. Die dreizehnjährige Miranda war vor allem die Kommentare leid, die jeden Gruppenbesuch begleiteten.
»Ah, die Trapp-Familie ist wieder da«, sagte der muntere Portier immer, wenn sie zu fünft durch den Flur kamen.
Ihre Mutter sollte am fünfzehnten April entlassen werden. Alle sehnten ihre Heimkehr herbei, besonders Juliet. Das Abenteuer Haushalt war nach einer langen Woche nicht mehr wirklich spannend. Auch hatte der neue Tagesablauf – nach der Schule nach Hause eilen, schnell etwas essen und dann jeden Abend ins Krankenhaus – bald seinen Reiz verloren. Das Krankenhaus hatte schließlich darum gebeten, die Besuche auf jeweils nur zwei Kinder zu beschränken. Es war Mirandas Schuld, das wussten alle, aber sie hatten sie nicht verraten. Die Stationsschwester hatte Miranda im Lagerraum erwischt. Sie hatte sich an den Verbandskästen bedient und die achtjährige Clementine in eine kleine Mumie verwandelt. »Wir wollten unsere Mutter nur ein bisschen aufheitern«, hatte sie unverfroren entgegnet. Clementine – oder was von ihr sichtbar war – hatte reglos danebengestanden und mit dunklen Augen durch die weißen Verbände geschaut. »Lachen ist doch die beste Medizin, oder etwa nicht?«, hatte Miranda gesagt.
Das war am dreizehnten April geschehen. Noch zwei Tage. Leo hatte einen Kalender neben die Aufgabenpläne gehängt und jeden einzelnen Tag durchgestrichen. Nach dem Abendessen hatte er seinen Tee ausgetrunken, war aufgestanden und hatte nach seinem Mantel gegriffen. »Zeit für den Besuch. Na kommt, Juliet und Clementine, ihr seid dran.«
»Die Freiheit naht, halleluja«, sagte Tessa, als sie ins Zimmer kamen. Obwohl sie im Krankenhaus lag, war sie perfekt zurechtgemacht, das Haar gelockt, die Augen dunkel umrandet, die Lippen rot. »Ihr müsst die Besuche doch genauso leid sein wie ich mein Krankenbett.« Sie hatte das Zimmer für sich. Die anderen Betten waren alle leer. Tessa arbeitete an einem ihrer Sammelbücher.
»Du bist mehr Elster als Elternteil«, sagte Juliet mit Blick auf die Schnipsel, Fotografien, den Leim und die Scheren auf dem Bett.
»Ich habe es gerne, wenn es um mich herum leuchtet und funkelt. Deshalb habe ich ja auch fünf von eurer Sorte bekommen«, sagte sie, als sie sich in den unbequemen Stühlen niederließen. »Sagt mal, was haltet ihr davon, wollen wir nicht Weihnachten zusätzlich im Juli feiern? Und im Dezember?«
»Zweimal Weihnachten?«, fragte Clementine. »Zweimal Geschenke, Weihnachtsbaum und alles?«
»Genau. Wir könnten ganz normal Weihnachten im Sommer feiern und dann unser ganz besonderes, eigenes Weihnachten im Winter, so als ob wir noch in England leben würden.« Tessa zeigte ihnen einen Artikel über englische Auswanderer in Australien, die Weihnachten im Juli feierten. Er stand in der britischen Ausgabe der Woman’s Own, die Tessa abonniert hatte. Die Hefte brauchten drei Monate mit der Post bis Tasmanien und hinkten mit allem immer eine Saison hinterher.
»Lasst uns dieses Jahr anfangen. Was meinst du, Leo? Kannst du uns einen Baum besorgen? Natürlich. Du kannst uns tausend Bäume besorgen. Clementine, würdest du dich um die Dekoration kümmern? Und hilfst du mir bei den Puddings, Juliet?«
Leo sagte, das klänge großartig. Das sagte er zu all ihren Vorschlägen.
Es war nichts Ungewöhnliches an der Art und Weise, wie sie sich dann eine Stunde später von ihrer Mutter verabschiedeten, auch später nicht an dem kleinen Snack aus heißer Schokolade und Keksen, als sie wieder zu Hause waren. Es war nichts Ungewöhnliches an der Art und Weise, wie Juliet Clementines Schulsachen für den nächsten Morgen bereitlegte und Leo in seinen Schuppen ging, in Gedanken schon bei seiner neuesten Erfindung.
Es war 3:15 Uhr frühmorgens. Juliet hörte das Telefon. Sie setzte sich abrupt auf. Ihr Vater ging an den Apparat. »Nein«, sagte er, ein wenig zu laut. Immer und immer wieder. Juliet stand auf und ging in den Flur. Er hörte irgendjemandem zu, schüttelte den Kopf und wiederholte immer nur »Nein«. Juliets erster Gedanke war, dass seinem Bruder Bill, der noch in England lebte, etwas passiert war.
Er legte auf. In dem trüben Licht konnte sie sehen, dass seine Hand zitterte. Nicht nur seine Hand, er zitterte am ganzen Körper. Sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst.
»Dad?«
»Es ist wegen Tessa.« Nicht »eurer Mutter«, was er sonst immer sagte.
»Was wollte sie denn? Was ist denn passiert?«
»Sie ist tot.«
»Nein.«
»Eine Schwester hat sie gefunden. Sie …«
»Nein, Dad.«
Das musste ein Albtraum sein. Sie hatte ihre Mutter doch abends noch gesehen. Mit ihr gelacht. Über ihr Weihnachtsfest im Juli gesprochen. Wie konnte sie tot sein?
Hinter ihr regte sich etwas. Sie drehte sich um. Miranda, gähnend. »Was ist denn los?«
»Juliet, weck die anderen auf.«

Sie fuhren alle ins Krankenhaus. Es kam nicht in Frage, dass irgendjemand zu Hause blieb. Clementine war noch im Schlafanzug, Juliet trug sie. Ein Arzt erwartete sie. Ja, Tessa hätte sich von ihrer Hysterektomie gut erholt. Jedoch hätte ihr Herz plötzlich wegen einer nicht diagnostizierten Thrombose versagt. Der Arzt kondolierte ihnen hastig, dann spulte er seine Sätze ab. Niemand, so sagte er, hätte das voraussehen können. Wir haben getan, was in unserer Macht stand. Juliet fiel auf, dass er ständig auf die Uhr sah. Er wartete auf das Ende seiner Schicht.
Die Neuigkeit hatte sich noch vor dem Morgen verbreitet. Die Nachbarn kamen. Wisperten. Ein Skandal. Man sollte den Arzt verklagen. Das Krankenhaus verklagen. Sie war eine Woche dort und dann wurde eine Thrombose übersehen? Was für ein Krankenhaus war das denn? Ihr Vater schüttelte zu allem nur den Kopf. Der Gemeindepfarrer kam fast jeden Tag. Er sagte immer wieder: »Ja, es ist ein tragischer Fehler, aber ein Prozess macht sie auch nicht wieder lebendig.«
Ein weiterer Tag, weitere Besucher. Die Beerdigung. Nach Tagen voller Herbstsonne wurde das Wetter kalt und grau. Auf dem Berg der erste Schnee. Der Wind war eisig. Juliet stand neben ihrem Vater, drückte die weinende Clementine an sich, neben ihnen weinten Sadie, Eliza und Miranda, und dann mussten sie alle zusehen, wie der Sarg ihrer Mutter in die dunkle, feuchte Erde des Cornelian-Bay-Friedhofs hinabgelassen wurde.
Wenn Juliet an die ersten Tage und Wochen nach dem Tod ihrer Mutter dachte, war es, als blickte sie durch ein zugefrorenes Fenster. Alles war verschwommen, konturlos, undeutlich. Sie hatte stundenlang geweint, jeden Tag. Sie alle. Aus den Tränen war Wut geworden, und aus der Wut noch mehr Tränen. Sie blieben beieinander, rückten zusammen, versuchten, sich gegenseitig zu trösten, bis eine unter all dem Druck aufgab und mit Freunden wegging, bis ihr auch das zu viel wurde. Sie hetzten fast wieder zurück nach Hause. Draußen war es nicht sicher.
Ihr Vater wurde über Nacht zu einem anderen. Juliet fiel es am stärksten auf. Als Älteste hatte sie auch am meisten von den Flüstereien ihrer Besucher gehört, die immer verstummten, wenn die anderen Mädchen ins Zimmer kamen. Es war wohl eine Ehre, dass man sie für alt genug hielt zuzuhören: »Der arme Leo und die armen kleinen Mädchen …« Immer und immer wieder.
Leo versuchte nicht einmal, seinen übermächtigen Kummer zu verbergen. Juliet sah, wie er trauerte, hörte das Weinen, das tief aus seinem Innersten kam. Er war untröstlich. In seltenen Momenten wurde er wieder ihr Vater, war mehr um ihren Verlust als um seinen bekümmert. Doch solche Augenblicke dauerten nicht lange. Der andere, der Mann, der Tessa geliebt hatte, war stärker, unglücklicher. Juliet gab es nicht gerne zu, aber die Wucht seines Kummers hatte sie schockiert. Die Hilflosigkeit, die damit einherging. Die Verzweiflung. Begriff er denn nicht, dass er um ihretwillen stark sein musste?
Juliet kümmerte sich zunehmend um den Haushalt und die Familie. Damals gab es noch kein System, keine Pläne, keine Anweisungen. Sie machte alles. In den ersten Wochen musste allerdings auch noch niemand kochen. Braten, Eintöpfe, Pasteten, Kuchen, Torten und Kekse wurden regelmäßig vor die Tür gestellt. Leo konnte nicht auf die Straße gehen, ohne dass jemand auf ihn zukam und murmelnd sein Beileid bekundete. Im ersten Monat erschienen jeden Samstagmorgen einige Frauen, mit Putzlappen und Staubtüchern. Sie ignorierten den verstörten Ausdruck auf den Gesichtern der Mädchen und Leos Einwände. Bevor sie überhaupt begriffen, wie ihnen geschah, waren sie alle sechs auf einem Spaziergang. Wenn sie eine Stunde später nach Hause kamen, waren die Böden gefegt und gewischt, die Schränke aufgeräumt, der Kühlschrank sauber und neu bestückt, die Betten frisch bezogen, die Wäscheleine im Garten schwer von wogenden Laken, die im Wind flatterten.
Juliet hatte dem nach vier Wochen ein Ende gesetzt und erklärt, es wäre an der Zeit, dass die Familie sich wieder um sich selbst kümmerte. Miranda hatte sich bitter beklagt: »Hätten wir denn nicht wenigstens warten können, bis sie noch einmal alles aufgeräumt haben?«
Juliet hatte dem kein Gehör geschenkt. Sie ignorierte Miranda nach Kräften. Sie konnte nicht verstehen, wieso Miranda immer noch so kratzbürstig und anmaßend war. Juliet hatte das Gefühl, ihr wären sämtliche Kleider zu eng geworden, als schnürten sie ihr den Leib ein, besonders das Herz. Es war so schwierig, zu atmen, zu sprechen, zu lächeln, aufzustehen, weiterzumachen, wo sie doch nur weinen, heulen, irgendjemanden dafür verantwortlich machen wollte. Sie wollte zu ihrer Mutter gehen und ihr sagen, wie elend sie sich fühlte, und genau das war nicht möglich.
Eliza zog sich zurück. Juliet war aufgefallen, dass sie abnahm, aber im Grunde war es ihr egal, ob Eliza richtig aß oder nicht.
Sadie schien sie alle zu beobachten, um ihr eigenes Verhalten entsprechend anzupassen. An manchen Tagen war sie schon beim Aufwachen in Tränen aufgelöst, an anderen war sie so wütend wie Miranda, fuhr alle an, zwickte Clementine so fest, dass sie aufschrie, und wischte nur flüchtig mit dem Handtuch über das Geschirr. Einmal ließ sie absichtlich zwei Gläser fallen und reagierte kaum, als sie auf dem Boden zersprangen.
Clementine war vollkommen verstört. Sie hatte schon nicht richtig verstanden, warum ihre Mutter ins Krankenhaus gekommen war, wie hätte sie da begreifen können, was es bedeutete, als Leo sie sich auf die Knie setzte und ihr erzählte, dass Mum von ihnen gegangen, ihr Herz erschöpft, und sie jetzt im Himmel wäre. Clementine irrte durchs Haus, als ob sie ihre Mutter suchte, als ob ihre Mutter jeden Augenblick im Wohnzimmer oder in der Küche stehen würde. Als Clementine wieder in die Schule musste, hatte Juliet sie in der Küche entdeckt, mit ihrer Proviantdose in der Hand. Sie hatte nicht geweint, sondern einfach nur gewartet. Tessa hatte Clementine immer etwas zurechtgemacht. Juliet war es gelungen, in dem Moment nicht vor Clementine zu weinen, aber nachdem sie das Sandwich – mit besonders viel Butter und Marmelade – zubereitet und in die Plastikdose gelegt hatte, war sie nach draußen gegangen und in Tränen ausgebrochen, dass ihr die Brust schmerzte.
Ihr Vater war keine Hilfe. Sollte er Juliet an diesem Morgen vom Küchenfenster aus gesehen haben, mit roten Augen, hatte er nichts dazu gesagt. Er hatte sich körperlich und geistig von ihnen abgeschottet. Er sprach morgens kaum ein Wort, wenn sie sich für die Schule richteten und er sich für die Arbeit fertig machte. Nur eine Woche nach der Beerdigung war er wieder ins Büro gegangen. Vorher hatte er oft noch spät gearbeitet, im Labor oder auf den Eukalyptusplantagen in den Hügeln bei Hobart. Er hatte immer eine seiner Töchter mitgenommen, ihr die Reihen der kleinen Setzlinge gezeigt, über die verschiedenen Arten gesprochen und erklärt, warum es mehr Sinn machte, Bäume für die Holzwirtschaft anzupflanzen, anstatt die alten Wälder zu roden, die seit Hunderten von Jahren schon standen.
Juliet fragte sich, wer sich jetzt um die Setzlinge und Plantagen kümmerte. Ihr Vater bestimmt nicht. Er machte Dienst nach Vorschrift und verbrachte die übrige Zeit in seinem Schuppen. Das Licht brannte ständig.
An dem Tag, an dem gleich drei Rechnungen in rot umrahmten Umschlägen eintrafen, wurde Juliet bewusst, dass etwas geschehen musste. Sie versuchte, sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Sie konnte den anderen nicht alles abnehmen. Ihr selbst blieben weder Raum noch Zeit, das Geschehene zu verarbeiten. Es wurde alles zu viel. Sie wollte auch trauern und leiden und weinen.
Sie entschied, ihren Vater nach dem Essen anzusprechen. Die drei überfälligen Rechnungen lagen auf seinem Platzdeckchen. Sie war zu müde und zu wütend, um das Thema diskret anzuschneiden. Als sie eine der alten Kasserollen nahm und zum Tisch trug, brach einer der Griffe ab. Die Schüssel fiel ihr in Zeitlupe aus der Hand, heiße Sauce, Fleisch und Gemüse landeten auf dem Boden und dem handgeschriebenen Kochbuch ihrer Mutter. Juliet tat nichts, sie stand nur da und sah auf die Pfütze zu ihren Füßen. Miranda erschien im Türrahmen.
»Alles in Ordnung? Ich hab da was gehört …«
Juliet stürmte wortlos an ihr vorbei. Sie ging durch die Hintertür über die Veranda, durch den Garten, der schon feucht vom Tau war. Sie klopfte nicht an. Er saß an seiner Werkbank. Er arbeitete nicht. Er saß nur da.
»Ich kann nicht mehr, Dad.«
»Was?« Er drehte sich nicht um.
»Mum sein. Du musst mir helfen.«
»Ich kann nicht.«
Sie sah es an seinen hängenden Schultern. An seinem wirren Haar.
»Wir trauern auch, Dad. Uns fehlt sie doch auch.«
Er drehte sich um. Seine Augen waren gerötet, und er war wütend. So viel Gefühl hatte er seit Wochen nicht mehr gezeigt. »Aber nicht so wie ich. Ihr könnt nicht so trauern wie ich.«
Sie zügelte sich. »Wir trauern anders.«
Schweigen.
»Wir brauchen deine Hilfe.«
Er holte tief Luft. Er stand kurz davor, zu sprechen, etwas Wichtiges zu sagen. Dann ein Geräusch. Clementine, in Schlafanzug und Bademantel, ohne Schuhe. Ihre Füße waren nass, und sie zitterte.
»Clemmie, was machst du denn hier?«
»Ich hab den Matsch weggemacht.«
»Welchen Matsch?« Ihr Vater sprach.
»Juliet hat unser Essen auf den Boden geschmissen.«
»Es ist mir hingefallen. Ich habe es nicht hingeschmissen.«
»Ich kann heute Abend Toast machen, wenn du willst«, sagte Clementine. »Wenn mir jemand den Toaster aus dem Schrank holt.«
Juliet war nicht hungrig. Sie wollte nur fort, sich irgendwo zusammenrollen, weinen und dann schlafen. Aber ihre kleine Schwester wartete. »Gute Idee, Clemmie.« Juliet versuchte, heiter zu klingen. »Essen wir Toast mit Käse.«
Sie waren schon auf dem Weg zurück ins Haus, da erschien ihr Vater auf der Schwelle seines Schuppens. »Nein«, rief er ihnen nach. »Kein Toast mit Käse.«
Juliet blieb stehen. »Bitte?«
»Kein Toast mit Käse. Wir gehen aus.«
Ihr Vater redete, er lächelte sogar. Juliet erkannte die gleiche aufgesetzte Fröhlichkeit, die aus ihr sprach. »Na los, holt die anderen.«
Miranda wollte nicht mit. Eliza hatte keinen Hunger. Sadie hatte schon geschlafen und war wütend, dass sie geweckt wurde. Clementine schien als Einzige aufgeregt.
Juliet stellte Miranda, Sadie und Eliza in ihrem Zimmer zur Rede. »Ihr müsst mitkommen. Das ist wichtig.«
Miranda verdrehte die Augen. »O ja, und wie. Ein einschneidender Moment für unsere Familie. Ich sehe uns schon in der Zeitung stehen. ›Nach dem Tod unserer Mutter waren wir ja alle so unglücklich, aber dann sind wir gestern Abend in Hobarts besten Pub zum Essen gegangen. Nun schauen wir nur noch nach vorn. Außerdem, wer braucht schon eine Mutter? So ist es viel besser. Und billiger, ein Maul weniger, das gestopft -‹ Au!«
Juliet war genauso schockiert wie Miranda, als ihre Hand im Gesicht ihrer Schwester landete. »Halt den Mund, Miranda, verstanden? Halt nur ein einziges Mal den Mund.«
»Schlag mich niemals wieder.« Ihre Stimme war eisig.
»Sprich niemals wieder so über Mum.«
Mirandas Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie hielt sich die Wange.
Sadie und Eliza sahen schockiert zwischen den beiden hin und her.
Juliet war verzweifelt. »Eine Stunde. Mehr verlange ich doch gar nicht. Eine Stunde, in der wir in der Öffentlichkeit so tun, als wären wir eine Familie.«
»Ich gehe nicht.« Jetzt mischte sich Eliza ein. »Denkt doch an das Getuschel. ›Diese armen Faraday-Mädchen.‹«
»Man wird uns doch nicht einmal bemerken. Na los. Es ist das erste Mal, dass Dad …« Sie brach ab. »Es ist wichtig für Dad.«
»Dad?« Miranda hatte sich wieder erholt. »Wer ist das? Ach, dieser Kerl, der da draußen im Schuppen haust?«
»Ich bin so weit.«
Clementine stand dort, in den gleichen Kleidern, die sie zur Beerdigung ihrer Mutter getragen hatte. Ihrem Sonntagsstaat. Blauer Wollmantel. Dunkelblaue Stiefel. Ein Rotkehlchen auf der Schulter, und sie hätte einer alten englischen Weihnachtskarte entstammen können.
»Wir gehen doch, oder?«
Juliet wagte es, ihren Schwestern zu trotzen. »Ja, Clementine, wir gehen.«
Es war eine Katastrophe. Als sie das Restaurant betraten, brachen alle Gespräche ab. Drei Frauen kamen während des Essens zu ihnen an den Tisch, um ihnen zu kondolieren. Leo sprach mit gekünstelt fröhlicher Stimme und befragte Clementine viel zu ausführlich nach ihren Hausaufgaben.
Das Essen war schrecklich, der Fisch verkocht, die Fritten matschig, das Steak verbrannt, die Sauce klumpig, das Gemüse aus der Dose.
»Will jemand Nachtisch? Schließlich ist heute ein besonderer Abend«, sagte Leo so betont guten Mutes, dass er wie ein Prediger aus den amerikanischen Südstaaten klang.
»So dick brauchst du nicht aufzutragen, Dad.« Das kam von Miranda.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du unser besorgter Vater. Wir haben uns an ein Leben ohne dich gewöhnt. Es ist ja nett, dass du uns eine Stunde deiner Zeit gewährst, aber die Mühe brauchst du dir so schnell nicht wieder zu machen. Vielleicht wieder zu Mums Jahresgedächtnis. Oder zu Weihnachten, falls wir dann noch alle zusammen sind. Oder sollen wir das mit dem Weihnachtsfest im Juli versuchen? Ihr habt doch alle ihr Sammelbuch gesehen, oder?« Ihre Augen waren zu weit aufgerissen, ihr Lächeln zu gezwungen. Sie wirkte wie eine Schauspielerin kurz vor dem Zusammenbruch.
»Das reicht, Miranda.« Leo klang sehr ruhig.
»Ach, wir werden ja so viel Spaß haben. Ich kann es kaum erwarten. Du siehst gar nicht begeistert aus, Dad. Hab ich dir die Überraschung verdorben? Na komm. Wir schaffen das schon. Wir haben doch noch sechs Wochen.«
Sadie, Eliza, Juliet und Clementine verhielten sich ruhig. Das war eine Auseinandersetzung zwischen Miranda und ihrem Vater.
Sie fuhr im gleichen Plauderton fort. »Tut mir leid, Dad, dass du nach Mums Tod der Hinterbliebene bist. Und hier mit uns festsitzt. Ich würde ja auch lieber meine Zeit in einem Schuppen verbringen und mit niemandem sprechen. Wollen wir nicht fünf weitere Schuppen bauen, was meinst du? Einen für jede von uns? Dann brauchen wir mit niemandem mehr zu sprechen, wir schließen uns einfach ein. Clementine, du kannst mich natürlich jederzeit besuchen« – sie hatte den entsetzten Gesichtsausdruck ihrer kleinen Schwester bemerkt -, »aber ich glaube, so ist es künftig für uns alle am besten.«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»O nein, natürlich nicht, du bist ja nur unser …« Mirandas Ton wurde scharf. Ein Blick von Sadie und eine Berührung von Eliza brachten sie zum Schweigen.
Sie hörten ihn kaum. »Das war nicht vorgesehen. Sie sollte doch nach Hause kommen. Du hast sie doch noch gesehen, Juliet. Du doch auch, Clementine. Am letzten … an dem Abend, an dem wir sie besucht haben. Sie war so glücklich, oder? Sie hat doch Pläne geschmiedet. Von ihrer Idee mit dem Weihnachtsfest gesprochen.«
Juliet nickte. Clementine schwieg, aber sie legte ihre Hand in Juliets.
»Wir haben nie besprochen, was ich tun sollte, falls … falls so etwas jemals passieren würde. Ob wir zurück nach England gehen sollten. Es ist einfach passiert.« Er sah Miranda direkt an. »Du hast recht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich sehe all die vielen Jahre vor mir, ohne sie, ohne ihre Ratschläge für euch, ohne Einkaufsbummel mit euch, ich sehe eure Hochzeiten und Kinder, unsere Enkel. Ich habe Bilder im Kopf, wir haben uns doch unser Leben ausgemalt, und sie erscheint in jedem einzelnen Bild. Die Lücke, die sie gerissen hat, war nicht vorgesehen, und ich kann sie nicht füllen. Ich kann doch nicht ihren Teil leben. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich ohne sie leben soll.«
Dann weinte er wieder, mitten im Lokal, die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, ungeachtet der unverhohlenen Blicke der anderen Gäste und seiner Töchter.
Keines der Mädchen sprach. Er weinte lautlos und lange.
Schließlich stand Clementine auf und ging zu ihrem Vater. »Willst du ein Taschentuch, Dad?« Er nahm es aus ihrer Hand. Er wischte sich die Augen. Juliet, Miranda, Sadie und Eliza sahen schweigend zu. Nach ein oder zwei Minuten streckte Clementine die Hand wieder aus. Leo gab ihr das Taschentuch zurück, und sie setzte sich wieder an ihren Platz.
Miranda nahm die Speisekarte. »Ich möchte doch noch Nachtisch, Dad.« Ihre Stimme klang wieder normal. Nur die geröteten Wangen verrieten den inneren Aufruhr. Sie rief den Kellner. »Fünf große Schokoladeneis, bitte. Dad, für dich auch eins?«
Er nickte.
»Also sechs Eis«, sagte sie.
An diesem Abend ging ihr Vater nicht wieder in seinen Schuppen. Er berief den Familienrat ein.
»Miranda hat vorhin den Nagel auf den Kopf getroffen. Wir müssen den Laden wieder zum Laufen bringen. Das sind wir eurer Mutter schuldig.« Diesen Satz sollten sie im Laufe der nächsten Jahre häufig hören. »Also, holt mal die Pläne, und dann wollen wir mal sehen, wie eure Mutter das immer geregelt hat. Und ich werde mich nicht drücken. Ich setze meinen Namen mit auf die Liste.«
Ein unterdrückter Aufschrei von Miranda. Juliet warf ihr einen warnenden Blick zu. Miranda verdrehte die Augen, sagte aber nichts.
»Jede von euch hat eine besondere Gabe bekommen«, sagte er. Dann brach er ab. Das Wort »Gabe« hatte ihre Mutter oft benutzt.
»So wie zu Weihnachten, Dad?«, fragte Clementine. »Meinst du Geschenke? Machen wir Mums Juli-Weihnachten?«
Er schien erleichtert, das Thema wechseln zu können. Er legte wieder den wackeren Tonfall an den Tag. »Was meint ihr, Mädchen? Juliet? Hast du Lust? Ich wage mich auch gerne selbst an den Truthahn, aber eure Mutter hat immer gesagt, du wärst die geborene Köchin.«
Juliet machte mit. Sie kam sich wie eine Schauspielerin vor, die genau im richtigen Moment vortrat und ihren Satz aufsagte. »Das würde ich gerne tun. Das könnte Spaß machen.« Sie wusste nicht, ob ihr jemals wieder irgendetwas Spaß machen könnte.
»Mum hat gesagt, dass ich den Baum schmücken soll.« Clementine lief aus dem Zimmer und kam mit Tessas letztem Sammelbuch zurück. »Ich mache eine Lichterkette wie die hier, guckt mal.«
Ihre Mutter hatte Bilder von acht unterschiedlichen Dekorationen ausgeschnitten und ordentlich auf die Seite geklebt. Der Anblick dieser sorgfältigen Arbeit, der Gedanke, dass ihre Mutter jedes einzelne Papier liebevoll in das Sammelbuch geklebt hatte, war zu viel. Es traf Juliet mit Macht, ein dröhnendes Gefühl rauschte von den Füßen her durch sie hindurch. Sie schaffte es gerade rechtzeitig nach draußen, wo sie sich heftig erbrach.
Sadie, oder auch Eliza, folgte ihr. Juliet drehte sich nicht um, sie spürte nur eine beruhigende Hand auf dem Rücken. Sie schüttelte den Kopf, schüttelte die Hand ab. »Es geht schon. Lass mich einfach in Ruhe.«
Warten, eine weitere kurze Berührung, und wer es auch war, ging fort.
Als Juliet zehn Minuten später wieder in die Küche kam, war schon alles organisiert. Clementine hüpfte vor Aufregung auf und ab. Das erste Juli-Weihnachtsfest der Faradays würde in sechs Wochen stattfinden. Mit einem Truthahn. Einem Baum. Einem Pudding. Mit allem Drum und Dran. Sie hatten es Clementine versprochen.
Später kam Miranda zu Juliet ins Zimmer. Sie setzte sich auf ihr Bett.
»Mir ist das alles zuwider, Juliet. So sehr, dass es wehtut. Ich will sie zurück. Ich will unser altes Leben zurück.«
»Ich auch.«
Die Tür ging auf. Es war Clementine mit ihrer Lieblingsdecke.
»Juliet, darf ich reinkommen?«
»Natürlich, Clemmie.«
Sie schluchzte. »Ich vermiss meine Mum.«
»Ach, Herzchen, komm her.« Juliet hielt die Decke hoch, Clementine kletterte zu ihr ins Bett. Juliet breitete die Arme aus und hielt ihre kleine Schwester fest, die immer heftiger weinte. »Mach dir keine Sorgen, Clemmie. Ich bin ja da. Ich kümmere mich um dich.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Darf ich heute Nacht hier schlafen?«
»Natürlich.« Juliet strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Das Weinen ließ endlich nach. Clementines Atem ging ruhiger, sie schlief allmählich ein. Juliet strich ihr weiter übers Haar.
»Juliet?« Mirandas Stimme klang sanft durch die Dunkelheit.
»Hm?«
»Kümmerst du dich auch um mich?«
»Natürlich.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«