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Tasmanien. Er hatte
Tasmanien erwähnt.
Sadie setzte sich
kerzengerade im Bett auf. Sie wusste nicht, wie spät es war, was
sie geweckt hatte, aber sie wusste nun, warum dieser Journalist sie
so beschäftigt hatte. Er hatte Tasmanien erwähnt.
Wie konnte er davon
wissen? Sie hatte es ihm nicht erzählt. In ihren Broschüren fand
sich auch nichts darüber. Sie hatte mit Larry oder Maudie niemals
über Tasmanien gesprochen. Sie glaubten beide, sie stammte aus
Adelaide.
Sie ging die
Unterhaltung noch einmal in Gedanken durch. Vielleicht hatte sie
sich getäuscht, sich das bloß eingebildet. Ihre Familie spukte ihr
schließlich schon seit einer ganzen Woche im Kopf herum, wie immer
um diese Jahreszeit, besonders seit Sadie vor einigen Jahren
erfahren hatte, dass sich die anderen keine fünf Stunden von Dublin
entfernt trafen.
Sie erinnerte sich
noch lebhaft an ihren Schock. Maggies Brief stand ihr noch immer
vor Augen. Er hatte mit der beiläufigen Bemerkung geschlossen, dass
Leo wieder einmal alle überrumpelt hatte, indem er ein Ferienhaus
gekauft hatte, »ausgerechnet in Donegal. Wir werden also künftig
dort unsere Juli-Weihnachtsfeste feiern. Du bist uns von Herzen
willkommen, sollte es dich jemals nach Irland ziehen.«
Daraufhin hatte sie
den Brief, den Leo mitgeschickt hatte, sofort gelesen. Zum
allerersten Mal. Sie las ihn immer erst später, je nachdem, in
welcher Verfassung sie war. In seinem Brief war auch von dem Haus
die Rede gewesen: »Falls du jemals dorthin kommen möchtest, um dich
Tessa nahe zu fühlen, ich würde dir gerne die Reise
bezahlen.«
Sie hatte seinen
Brief augenblicklich vernichtet, dann Maggies. Sie hatte all ihre
Briefe und Karten vernichtet. Das musste sie tun. Sie konnte nicht
riskieren, dass sie Larry oder Maudie in die Hände fielen. Sie
wusste nur zu gut, was daraus entstehen konnte, wenn man
persönliche Dinge aufbewahrte. Doch die Neuigkeit mit dem Haus
hatte sie nicht losgelassen.
Es war ein Leichtes
gewesen herauszufinden, um welches Haus es sich handelte. Ein Anruf
bei einem Auktionator in Letterkenny, der Kreisstadt von Donegal,
eine beiläufige Frage, welche Häuser im Südwesten der Grafschaft,
in der Nähe von Glencolmcille, in letzter Zeit verkauft worden
waren. Sie wurde auf mehrere Websites verwiesen, auf denen
zahlreiche Häuser aus der Gegend angeboten wurden. Sie hatte nicht
einmal eine Stunde gebraucht: ein schönes, großzügig ausgebautes
Haus, weiß getüncht, mit Blick auf See und Berge.
Sie war sogar einmal
daran vorbeigekommen. Sie hatte mit Larry geschäftlich in
Letterkenny zu tun gehabt, und auf dem Rückweg nach Dublin hatte er
vorgeschlagen, ein wenig über Land zu fahren. Sie waren in ein Dorf
gekommen, der Straße den Berg hinauf gefolgt, Sadie kannte den Weg
aus dem Gedächtnis. Das Haus war nicht zu übersehen, es war das
größte weit und breit. Im Vorgarten stand ein dezentes Schild:
Zu vermieten. Darunter die
Telefonnummer des Verwalters.
Sie hatte
angehalten, den Motor laufen lassen. »Was meinst du? Wollen wir das
mal den Sommer über mieten?«
Larry hatte
geschaudert. »Nein, herzlichen Dank. Hier ist mir ein bisschen zu
viel Natur.« Er war durch und durch Städter.
Sie war in
Versuchung gewesen, das ließ sich nicht leugnen. Dort eine Weile zu
wohnen, ganz allein, in ihrem Haus, ohne dass sie etwas ahnten …
Oder in der Nähe zu bleiben, wenn sie alle dort waren. In denselben
Geschäften einzukaufen, in denselben Pubs etwas zu trinken. Würden
die anderen sie erkennen? Würde sie die anderen erkennen? Sie hatte
sich nicht allzu sehr verändert. In jüngster Zeit waren einige
graue Haare aufgetaucht, und sie kämpfte immer noch mit ihrem
Gewicht, aber füllig war sie schon lange nicht mehr. Sie würden sie
erkennen, da war sie sicher, und umgekehrt ebenso.
Sie mussten jetzt da
sein. Sie hätte einfach aufstehen und sich ins Auto setzen, fünf
Stunden fahren und ins Haus marschieren können. »Hallo, alle
miteinander. Da bin ich wieder.«
Eher würde die Hölle
zufrieren.
Sie stand dennoch
auf, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie durfte jetzt nicht
überreagieren. Dass der Mann Tasmanien erwähnt hatte, war bestimmt
reiner Zufall.
Sie ging in die
Küche und machte sich eine heiße Milch, obwohl die Nacht warm war.
Wäre doch Larry bei ihr, dann bräuchte sie sich nur an ihn zu
schmiegen, und schon wäre alles gut. Einmal hatte sie ihm das auch
gesagt. Dass sie sich in seiner Gegenwart sicher fühlte, friedvoll.
Vollkommen.
»Wir sind ja auch
Seelenverwandte«, hatte er schlicht erwidert. »Wir sind füreinander
bestimmt. Die Götter haben es gut mit uns gemeint. Wir beide sind
vom Glück gesegnet.«
Dabei war Sadie
damals vom Glück verlassen und wahrlich nicht gesegnet gewesen. Die
Monate, bevor sie Larry begegnet war, waren die einsamsten und
schrecklichsten ihres Lebens. Auch heute, im Rückblick, war sie
noch manches Mal entsetzt. Es war, als schaute sie auf das Leben
eines anderen Menschen. Eines zutiefst unglücklichen, verzweifelten
Menschen.
Warum sie weggelaufen war, wusste sie genau. Aber wenn
sie heute jemand fragen würde, warum sie Maggie mitgenommen hatte,
könnte sie es noch immer nicht sagen. Aus Wut? Verzweiflung? War es
der Schock? Um ihrer Familie wehzutun, damit sie ebenso litt? Oder
aus einem ganz anderen Grund?
So viel war damals
falsch gelaufen. Sie hatte sich so verloren gefühlt, so fehl am
Platz. Ungeliebt. Eine Fremde inmitten der eigenen Familie. Wenn
sie sich nicht das Zimmer mit Eliza geteilt hätte, hätte sie sich
jede Nacht in den Schlaf geweint. Das einzig Gute in ihrem
damaligen Leben war Maggie. Sie war die einzige Person in ihrer
Familie, der sie sich verbunden fühlte. Maggie hatte nicht auf ihr
herumgehackt, über sie geurteilt, sie heruntergeputzt oder mit ihr
konkurriert. Sie war einfach gerne in ihrer Nähe. Manchmal hatten
ihnen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren, Passanten zugelächelt.
»Wie alt ist Ihre Tochter denn? Ihre Tochter hat aber ein reizendes
Lächeln.« Natürlich bedeutete das nichts, trotzdem hatte sie es
gerne gehört. Es vermittelte ihr das Gefühl, dass sie und Maggie
zusammengehörten. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Freude in einer
Zeit der Trostlosigkeit. Sie hatte sehr wohl gewusst, dass sie ihre
Schwestern verrückt machte. Sie hatte Leos Enttäuschung gespürt.
Sie konnte mit den anderen nicht mithalten, nicht einmal
ansatzweise erreichen, was sie erreicht hatten. Aber warum? Was war
bei ihr schiefgegangen?
Als sie die
Tagebücher entdeckt hatte, hatte sie endlich die Antwort gefunden.
Es erklärte so vieles. Niemals würde sie das Gefühl vergessen. Je
mehr sie gelesen hatte, umso verstörter wurde sie. Wie konnte Leo
mit so viel Hingabe von Tessa sprechen? Er musste das doch auch
alles gelesen haben, und dennoch hatte er sich entschieden, all
ihre Traditionen fortzuführen, das Bild der perfekten Mutter, der
glücklichen Familie aufrechtzuerhalten.
Am meisten hatte sie
ein Eintrag verletzt, den ihre Mutter zwei Tage nach Sadies zehntem
Geburtstag, wenige Monate vor Tessas Tod, geschrieben hatte. Sadie
erinnerte sich ganz deutlich an jene Zeit. So unbeholfen, so
ungeschickt war sie damals, so verzweifelt bemüht, so hübsch und
geistreich und klug wie ihre Schwestern zu sein. Sie hatte ihren
Geburtstag feiern wollen, und Tessa und Leo hatten ihr erlaubt,
drei Freundinnen einzuladen. Die Liste zu schreiben hatte ewig
gedauert, denn sie hatte sich nicht zwischen den Mädchen in ihrer
Klasse entscheiden können. Sie hatte die Einladungskarten selbst
gemalt, ungeachtet Mirandas gemeiner Bemerkung, dass ihre Katzen
wie missratene Mäuse aussähen. Sie war am nächsten Tag mit den
Einladungen zur Schule und in der Pause stolz zu den drei Mädchen
gegangen, sie hatte ihnen die Karten gegeben und gewartet,
gegrinst, sich ihre Reaktion ausgemalt: »Eine Party? Super. Danke,
Sadie.« Eines nach dem anderen hatten sie die Umschläge geöffnet.
Kym, das größte Mädchen, hatte wenigstens den Anstand gehabt,
beschämt auszusehen. »An dem Tag können wir nicht Sadie, tut mir
leid.«
»Warum?«
Sie hatten mit den
Füßen gescharrt, einander angeschaut, an Sadie vorbei, bis endlich
ein Mädchen sagte: »Weil wir schon auf eine andere Feier
gehen.«
Kyms
Geburtstagsfeier am gleichen Tag. Alle waren eingeladen, mit
Ausnahme von Sadie und drei anderen Mädchen, die selbst sie für das
Letzte hielt.
Sie war nach der
Schule zu ihrer Mutter nach Hause gerannt. Ihr Onkel Bill war zu
Besuch gewesen und hatte rauchend auf der Veranda gesessen. Sie war
an ihm vorbeigestürmt, weinend ins Haus gestürzt, hatte von ihrer
Mutter umarmt und getröstet werden wollen. Ihre Mutter hatte im
Bett gelegen. Sie wussten, dass sie bei ihrem Mittagsschlaf nicht
gestört werden durfte, aber das war eine Ausnahme. Sadie brauchte
sie. Sie war ins Zimmer gestolpert, weinend, hatte angefangen,
alles zu erzählen. Dann der Schock, als sich ihre Mutter aufgesetzt
und gesagt hatte, sie solle den Mund halten und sie in Ruhe
lassen.
Als Sadie die
Tagebücher gelesen und erfahren hatte, wie ihre Mutter diesen Tag
schilderte, war es, als würde ihr ein Dolch ins Herz gestoßen.
Tessa musste das Tagebuch gleich in die Hand genommen haben,
nachdem Sadie das Zimmer verlassen hatte.
Sadie hatte mitten
in der Nacht im Schuppen gesessen, die Tränen waren ihr übers
Gesicht gelaufen. In jener Nacht hatte sie beschlossen, ihre
Familie zu verlassen. Wenn Leo ein Leben aus Lügen leben und Tessa
als perfekte Ehefrau und perfekte Mutter darstellen wollte, war das
seine Entscheidung, aber Sadie konnte daran nicht länger teilhaben.
Sie musste gehen, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und
ihre Familie bringen.
Sie hatte vorgehabt,
die beiden Wochen in Melbourne zum Nachdenken zu nutzen. Sie hatte
vorgehabt, auf Miranda zu warten, damit Miranda Maggie zurück nach
Hobart bringen konnte. Sie selbst hatte weiterziehen wollen nach
Perth oder vielleicht Darwin. Nur weit weg.
Die Umstände hatten
dann dazu geführt, dass sie Maggie mitgenommen hatte. Weil sie ihr
von dem Abenteuer erzählt und gemerkt hatte, wie aufgeregt sie war.
Weil sie so viel Spaß zusammen hatten. Weil Maggie ihr an jenem
Abend in ihrer einmaligen Art gesagt hatte: »Ich muss dir ein
Geheimnis verraten. Du bist meine Lieblingstante.« Sadie war das
Herz aufgegangen. In dem Moment hatte sie gewusst, dass sie sich
nicht von Maggie verabschieden konnte. Noch nicht.
Sie erinnerte sich
an jede Einzelheit des Abends, als Leo und Clementine aufgetaucht
waren. Es war ein Schock – Clementine hatte sie geschlagen, Leo ihr
Maggie entrissen, als hätte sie in Gefahr geschwebt, dann war er zu
ihr zurückgekommen und hatte immer wieder gefragt: »Warum, Sadie?
Warum hast du das getan? Ist dir irgendetwas widerfahren? Wir
lieben dich. Wir sind eine Familie. Sag es mir doch.«
Er hätte seine Worte
nicht schlechter wählen können. Sie hatte es nicht sagen wollen,
aber es war aus ihr herausgebrochen. »Lüg mich nicht an, Dad. Ich
habe ihre Tagebücher gelesen. Ich kenne die Wahrheit.«
Niemals würde sie
den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen. Eine Maske war
abgefallen und eine andere dahinter zum Vorschein gekommen. Er
hatte genau gewusst, wovon sie sprach. In dem Moment war jede
Hoffnung, dass Leo sagen könnte: »Aber nein, du irrst dich«,
gestorben. Sie hatte sich weggedreht, sie hatte nicht länger
zuhören können.
Sie war um ihr Leben
gerannt. Sie hatte den Campingplatz noch vor sieben Uhr morgens
verlassen, zum Erstaunen des Besitzers, der kaum wach war, die
Rechnung bezahlt und ihm eine Tüte mit Maggies Sachen gegeben. Sie
hatte eine halbe Stunde an einer Bushaltestelle außerhalb der Stadt
gewartet, sich immer wieder im Schatten der drei Bäume verborgen,
voller Angst, dass Leo und Clementine vorbeifahren könnten. Leo
hatte gesagt, dass er am nächsten Morgen zurückkommen würde. Bis
dahin wollte sie viele Meilen fort sein.
Schließlich hatte
sie trampen müssen. Eine ältere Frau hatte sie mitgenommen. Sie war
strikt gegen das Trampen, hatte sie Sadie erklärt und ihr während
der ganzen Fahrt einen Vortrag gehalten. Sadie hatte das gerne in
Kauf genommen, beschämt den Kopf hängen lassen und die Frau
innerlich angefleht, schneller zu fahren.
Zwei Stunden später
war sie in Brisbane. Zum ersten Mal. Sie hatte Angst, kaum Geld und
war allein. Sie hatte sich verboten, über das Vergangene oder das,
was vor ihr lag, nachzugrübeln. Sie hatte sich eingeredet, sie wäre
im Urlaub, erlebte ein Abenteuer. Sie sprach mit sich selbst, wie
sie zuvor mit Maggie gesprochen hatte. Es war doch aufregend, es
machte Spaß. Sie kämpfte gegen Gedanken an ihre Familie an. Sie
drangen trotzdem zu ihr durch. Miranda schnauzte sie an: »Was, zur
Hölle, hast du dir dabei gedacht? Bist du jetzt noch irrer als
sonst?« Juliet, mütterlich, besorgt, belehrend: »Hast du irgendeine
Vorstellung davon, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Wie
konntest du so gedankenlos sein?« Eliza hätte sie abgeurteilt. Was
Clementine und Leo gesagt hätten, brauchte sie sich ja nicht
auszumalen. Leos Wut war zu Fassungslosigkeit geworden, als er
gehört hatte, dass sie die Tagebücher gelesen, dass sie seine
Scharade durchschaut hatte.
Die erste Nacht
hatte sie in einem Hostel verbracht, dem billigsten, das sie finden
konnte, inmitten fröhlicher, lärmender Mädchen aus Deutschland,
Irland, der Schweiz und den USA, auf dem letzten Stopp einer
einjährigen Abenteuerreise. Sie hatte im Bett gelegen und zugehört,
wie sie sich Tipps gaben, lustige Geschichten erzählten und
Informationen über Sehenswertes austauschten. Beim Frühstück hatten
sich zwei Mädchen in der Gemeinschaftsküche zu ihr gesellt. Sadie
hatte noch etwas Obst übrig und es ihnen angeboten, dafür Käse mit
Crackern erhalten.
Sie hatten sie mit
Fragen bombardiert. »Du bist aus Australien, oder? Wie heißt
du?«
»Sally«, hatte sie
gesagt, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, und »Sally
Donovan« mit Nachdruck hinzugefügt.
Es war so einfach.
Sie erzählte den beiden Mädchen, dass sie gerade ihr Studium
beendet hatte und sich ein Jahr Auszeit gönnen würde.
Sie erzählten ihr,
wo sie überall gewesen waren, im äußersten Norden von Queensland,
wo sie gegen Kost und Logis Obst gepflückt, geputzt oder Waren
verpackt hatten. Sie sagten ihr, welches Hostel man in Darwin
besser mied, weil der Besitzer ein schmieriger Widerling war. Sie
erzählten ihr von einem Café in Cairns, das als inoffizielle
Jobbörse für Rucksacktouristen fungierte. Wenn du nicht zimperlich
bist, kannst du überall arbeiten, sagten sie. Besonders in
Brisbane.
Sadie war nicht
zimperlich. Ihr war egal, was sie tat. Sie wollte nur niemals
wieder nach Hobart zurück. Niemals.
Im Laufe der
folgenden Wochen spülte sie Geschirr und putzte Badezimmer, die
Küchen der Pubs und Restaurants von Brisbane. Sie arbeitete
tagsüber hart, damit sie nachts schlafen konnte. Die Belegung in
ihrem Schlafsaal wechselte. Sadie ergänzte ihre Geschichte um
weitere Details. Es war so leicht, wenn man sich nicht gegen
jemanden wie Miranda durchsetzen musste, der einem mit einer
spitzen Bemerkung den Boden unter den Füßen wegziehen
konnte.
Sie färbte sich mit
einer billigen Mixtur aus der Drogerie das Haar schwarz und
versaute das Gemeinschaftsbad im Hostel so sehr, dass sie zum
Putzen zwei Stunden und eine ganze Flasche Bleiche benötigte. Sie
hatte erwartet, dass die anderen Mädchen sie schelten würden, so
wie Juliet und Eliza. Doch eine Italienerin namens Maria hatte nur
gelacht. Ein anderes Mädchen hatte angeboten zu helfen, als Sadie
auf den Knien lag, um die schwarzen Farbspritzer
wegzuwischen.
Tagsüber gelang es
ihr, die Gedanken an ihre Familie zu verdrängen. Außer an Maggie.
Es bestürzte sie, wie sehr sie ihre Nichte vermisste. Sie hatte
sich nicht von ihr verabschieden können. Was, wenn Maggie nun
glaubte, Sadie hätte sie vergessen? Was hatten sie Maggie erzählt?
Das beschäftigte sie. Aber was konnte sie tun? Sie konnte kaum zu
Hause anrufen, sich Maggie geben lassen und versuchen, einer
Fünfjährigen die Situation zu erklären. Außerdem wusste sie nicht,
was Clementine tun würde. Sie anzeigen?
Dann war ihr die
Idee gekommen, über Vater Cavalli mit Maggie Kontakt aufzunehmen.
Auf dem Rückweg von einem ihrer Gelegenheitsjobs war sie an einem
Priester vorbeigekommen, der mit einer jungen Frau gesprochen
hatte. Das Bild hatte sich ihr eingeprägt. Drei Tage später stand
sie in einer Telefonzelle. Vater Cavalli war selbst ans Telefon
gegangen. Wenn nicht, hätte Sadie wohl aufgelegt. Sie hatte nicht
viel erzählt. Ob er überhaupt etwas von der ganzen Sache wusste?
Wahrscheinlich nicht. Die Faradays gingen nicht mehr zur Kirche.
Sie hatte ihm gesagt, dass es Streit gegeben hätte, ohne näher ins
Detail zu gehen. Sie wollte eine Weile allein sein, aber Maggie
sollte nicht glauben, es sei ihre Schuld. Wenn sie eine Karte an
Maggie schicken würde, an die Adresse des Priesters, würde er sie
wohl an Maggie weiterleiten?
Er hatte einige
Plattitüden von sich gegeben, die sie nach Kräften ignoriert hatte.
Das war schließlich sein Job, also hatte sie so getan, als würde
sie zuhören. Er hatte sie gedrängt, in ihrem Herzen Vergebung zu
finden, zu erkennen, dass alle Familien durch schwere Zeiten
gingen, und betont, dass die Liebe alles überwinden
konnte.
»Was aber, wenn es
keine Liebe gibt, Vater?«
Er hatte
geschwiegen.
»Die Liebe in der
Familie ist die stärkste Liebe, Sadie.«
Danach hatte sie
sich verabschiedet. Aber sie war ihm dankbar. Er hatte zugesagt,
als Mittler zu agieren. Sie hatte ihm ein Postfach in der Hauptpost
von Brisbane als Anschrift gegeben. Wenn sich ihre Adresse ändern
würde, würde sie es ihm mitteilen.
»Du musst beten,
Sadie«, hatte er sie gedrängt.
Sie hatte seit
Jahren nicht mehr gebetet und nicht vor, es wieder zu tun. Das
hatte sie ihm aber nicht gesagt.
Am nächsten Tag
hatte sie Maggie eine Geburtstagskarte geschickt, eine, die ihr
gefallen würde, mit tanzenden Mäusen darauf. Zwei Wochen später war
ihr täglicher Gang zur Post belohnt worden. Auf sie hatte ein
Umschlag mit fremder Schrift gewartet. Wohl die von Vater Cavalli.
Im Innern hatte eine Karte gelegen. Maggie dankte ihr und
berichtete, dass sie in der Schule gerade in zwei Fächern eine Eins
plus bekommen hätte. Ich vermiss Dich und hab
Dich ganz doll lieb, Maggie xxxxxx. Im Umschlag hatte auch
eine Nachricht von Leo gesteckt. Sadie las sie nicht.
Während der
folgenden Monate lebte sie das Leben einer Rucksacktouristin. Sie
ging, wohin es sie verschlug. Sie reiste nach Norden zur
Mango-Ernte und schlief in Hostels, die neben Menschen auch große
Spinnen, Schlangen und Fruchtfledermäuse beherbergten. Eines Nachts
wurde sie wach, als eine Spinne über ihr Kopfkissen krabbelte. Noch
am gleichen Abend war sie wieder in Brisbane, in ihrem alten
Hostel. Am Tag darauf fand sie Arbeit in einem Pub im Stadtzentrum.
So leicht ging das.
Warum hatte sie das
nicht längst getan? Sie hatte nicht gewusst, dass man so leben, so
frei sein konnte. Sie genoss das unglaubliche Gefühl, als sie
selbst zu gelten, nicht als eines der Faraday-Mädchen, als Mirandas
weniger glamouröse Schwester, Clementines weniger kluge, Juliets
weniger fleißige oder Elizas weniger sportliche Schwester. Sie war
einfach sie selbst.
Sie erfand ständig
neue Kapitel zu ihrem Leben, je nachdem, was sie gefragt wurde. Sie
erzählte, dass sie aus Adelaide stammte. Dass ihre Eltern Lehrer
waren. Dass sie darauf bestanden, dass sie auch Lehrerin wurde, sie
aber erst ein wenig von der Welt sehen wollte. Ihre
Zimmergenossinnen zeigten Mitleid und Mitgefühl. Alle nahmen sie
so, wie sie war.
Zu ihrer
Überraschung veranstaltete das Hostel auch eine
Juli-Weihnachtsfeier. Sadie hatte immer geglaubt, das wäre allein
eine Faraday’sche Familientradition. Die Rucksacktouristen aus
England, Irland und anderen Teilen Europas stürzten sich mit Eifer
ins Festgetümmel. Sadie ging stattdessen ins Kino. Sie sah sich
nacheinander drei Filme an und kam erst zurück, als das Fest schon
lange vorbei war.
Die gleiche
Begeisterung kam im Dezember auf – alle redeten darüber, wie lustig
es war, Weihnachten zu feiern, wenn es heiß war, alle standen
Schlange, um ihre Angehörigen auf der anderen Seite der Welt
anzurufen. Ruth, ein Mädchen aus Schottland, war aufgefallen, dass
Sadie niemanden anrief.
»Kannst du es dir
nicht leisten?«, flüsterte sie. »Ich geb dir gerne Geld, wenn du
willst.«
»Nein, aber
danke.«
»Ist alles in
Ordnung?«
»Wir haben uns
furchtbar zerstritten«, sagte Sadie. Das kam der Wahrheit bisher am
nächsten.
»Dafür sind Familien
doch da, oder? Ihr werdet euch schon wieder vertragen.« Ruth war so
bemüht und optimistisch.
»Ich glaube nicht«,
sagte Sadie.
»Liegt es an dir?
Fehlt dir deine Familie nicht?«
Sie fehlte ihr
nicht. Noch nicht. Ihr ging es mit jedem Tag ohne ihre Familie
besser. Nur Maggie fehlte ihr.
Sadie war spazieren
gegangen. In der Zwischenzeit hatte Ruth den anderen erzählt, dass
Sadie traurig war, weil sie sich mit ihrer Familie zerstritten
hatte. Einige der Mädchen waren zu ihr gekommen, hatten sie
bemitleidet und umarmt. »Wir sind da, falls du darüber reden
möchtest«, hatte eine junge Frau aus Kanada gesagt.
Und so hatte Sadie
geredet. Ihnen alles erzählt. Doch nicht die wahre Geschichte. Eine
andere Geschichte, deren Worte einfach aus ihr herauspurzelten. Von
ihrem gewalttätigen Vater, der ihre Mutter angeblich seit Jahren
schlug. Eines Tages hätte Sadie sich ihm in den Weg gestellt. Er
hätte einen Stuhl nach ihr geworfen. Sie zeigte ihnen die Narbe an
der Stirn. In Wahrheit stammte sie von einem Sturz von der
Schaukel, Sadie war damals sechs Jahre alt gewesen.
Die anderen Mädchen
hatten sie mit offenem Mund angestarrt. So viel Aufmerksamkeit war
Sadie noch nie zuteilgeworden. Bei dem Gedanken an Leo, der niemals
die Hand gegen eine seiner Töchter erhoben hatte, hatte sie schon
ein wenig das schlechte Gewissen gedrückt. Aber dann hatte sie
wieder auf ihr Publikum geschaut, das an ihren Lippen
hing.
Über Nacht wurde sie
zum Vorbild in Sachen Überlebenskunst. Sie fühlte sich schuldig.
Manche Menschen erlebten das alles wirklich, was sie nur erfunden
hatte. Doch nun war es zu spät, nun konnte sie nichts mehr
zurücknehmen.
Einen Monat später
war sie in eine Wohngemeinschaft gezogen, und eines der Mädchen aus
dem Hostel war auch dort eingezogen. Es war ein typisches
Queensland-Haus auf Stelzen, damit die Luft besser zirkulieren
konnte, und mit großen Veranden, auf denen genauso viele Möbel wie
im Innern des Hauses standen. Sadie besaß nicht viel, aber nun
hatte sie endlich ein eigenes Zimmer mit einer Schaumstoffmatratze
auf dem Boden, einem Kleiderständer und einem Spiegel. Mehr
brauchte sie nicht.
Einer ihrer
Mitbewohner hatte ihr von einem Job in einem großen Hotel erzählt.
Eine Putzstelle. Die Arbeitszeiten wären schrecklich, sagte er. Sie
müsste um sechs Uhr morgens anfangen, aber dafür hätte sie schon um
elf Uhr vormittags Feierabend und den ganzen Tag noch vor
sich.
Ihr sagte das zu.
Sie hatte angefangen, regelmäßig zu schwimmen, sie genoss das
Gefühl, den Widerstand des Wassers zu spüren und kräftig und
ausdauernd zu werden. Wenn sie morgens früh arbeitete, könnte sie
danach an den Strand fahren und den ganzen Tag lang schwimmen und
lesen.
Sie ging zum
Vorstellungstermin, erzählte wahrheitsgemäß von all ihren
Putzstellen, machte unwahrheitsgemäße Angaben zu ihrem Namen und
ihrer Herkunft. Sie war darin schon so geübt, dass ihr Gegenüber
niemals gemerkt hätte, dass sie log. Am nächsten Tag erhielt sie
den Anruf. Sie sollte am kommenden Montag anfangen. Sie würden zu
zweit arbeiten, sie und ein junger Kerl aus Irland namens Peter
O’Toole.
»Sag Larry zu mir«,
hatte er zur Begrüßung gemeint.
Sie hatte ihn auf
der Stelle gemocht. Er hatte so fröhlich gelächelt. Wenn sie in
späteren Jahren Freunden davon erzählten, sagte Sadie immer, dass
es keine Liebe auf den ersten Blick war. »Es war Mögen auf den
ersten Blick«, erklärte sie.
»Bei mir war es
Liebe auf den ersten Blick«, sagte Larry dann immer.
Ihr erster Eindruck
erwies sich als zutreffend. Er sah so fröhlich aus, weil er so
fröhlich war. Seinen Spitznamen hatte er nach Lawrence von Arabien
erhalten, der berühmtesten Rolle seines irischen Namensvetters
Peter O’Toole. Er war nur einen Meter siebzig groß, hatte ein
rundes Gesicht, Sommersprossen, einen stämmigen Körper, blaue Augen
und das breiteste, heiterste Lächeln, das Sadie jemals gesehen
hatte.
Ihr war auch noch
nie jemand begegnet, der so enthusiastisch war. Er fand Australien
großartig, meinte, dass die Putzstelle »der Hammerjob« war:
»Morgens fünf Stunden putzen und dann den ganzen Tag frei. Und das
nennt sich Arbeit?«
Sie waren ein tolles
Team, das merkten sie gleich in der ersten Woche. Am Wochenende
mussten sie den Nachtclubbereich des Hotels putzen, während der
Woche die Konferenzräume und die Bar in der Lobby. Larry übernahm
die körperlich schwere Arbeit: Er schob die Möbel beiseite, machte
die Bodenreinigung und schleppte die Tabletts mit den leeren
Flaschen zum Altglascontainer. Sadie arbeitete hinter ihm her, sie
polierte, wischte und füllte die Regale nach. Sie wechselten sich
bei den Toiletten ab, aber wenn sie besonders eklig waren, putzten
sie gemeinsam. Sie entwickelten einen derart effizienten
Arbeitsablauf, dass eines Morgens sogar der Hotelmanager zu ihnen
kam, um ihre Arbeit zu loben.
Larry hatte
vorgeschlagen, noch früher anzufangen, damit sie noch früher
Feierabend machen konnten. »Wenn wir um fünf anfangen würden, wären
wir um zehn fertig. Was hältst du davon?«
»Und was sollen wir
dann machen?«
»Was immer wir
wollen. Eine Stunde macht viel aus. Ich will Surfen lernen et
cetera.« Er sagte oft und fälschlicherweise »et cetera« statt
»beispielsweise«. Sie fand das sehr charmant. »Komm, lass uns
zusammen Surfen lernen, Sally.«
Sie lernten Surfen,
dann entschieden sie sich, es auch mit Windsurfen zu versuchen.
Sadie machte bei beidem keine gute Figur, aber Larry spottete
nicht. »Mach dir nichts draus. Steig aufs Brett und versuch’s
gleich noch mal«, sagte er immer. Und das tat sie.
Sie unterhielten
sich während der Arbeit, auf dem Weg zum Strand, bei billiger Pizza
und beim Billardspielen. Er kam mehrmals in der Woche zu ihr. Als
in ihrer Wohngemeinschaft ein Zimmer frei wurde, zog er aus seinem
Hostel aus und in ihrem Haus ein. Sie redeten noch mehr. Er
erzählte ihr von seiner Kindheit in Dublin. Sie blieb bei ihrer
Adelaide-Version. Sie erfuhr nach und nach, dass er keine einfache
Kindheit gehabt hatte. Seine Mutter hatte seinen Vater verlassen,
als Larry erst fünf Jahre alt war. Sie waren oft umgezogen. Seine
Mutter hatte in Hotelbars gearbeitet. Dort war sie leider zu leicht
an Alkohol gekommen.
»Deshalb trinkst du
nie?« Erst in dem Moment war ihr aufgegangen, dass sie ihn niemals
mit einem Drink gesehen hatte, nicht einmal mit einem
Bier.
Er machte kein
großes Aufhebens. »Für mich hat es nie nach einem Vergnügen
ausgesehen.«
Also trank sie in
seiner Gesellschaft auch nicht. Es machte ohnehin keinen Sinn, da
sie beide um vier Uhr morgens aufstehen mussten.
Sie hörte
schreckliche Geschichten von Nächten, in denen er seiner Mutter die
Stufen zum Schlafzimmer hinaufhelfen musste, in denen sie
volltrunken vor dem Haus lag, in denen Horden von Männern durch ihr
Bett und ihr Leben gewandert waren. Er fragte Sadie nach ihrer
Familie. Ihm war die Geschichte zu Ohren gekommen, die sie damals
im Hostel erzählt hatte. Sadie hatte ein schlechtes Gewissen und
versuchte, dem Thema auszuweichen. Ihre Geschichte war erfunden.
Seine nicht. Er war verletzt, dass sie sich ihm verschloss und ihm
nicht vertraute, also erzählte sie. Zum Ausgleich schmückte sie
ihre Geschichte noch mehr aus, schilderte eine schwierige Kindheit,
einen gewalttätigen Vater, ein Leben in ständiger Angst. Sadie
wusste nicht, woher all diese Geschichten kamen, aber sie ließen
sich nicht aufhalten. Sie wurden immer detailreicher, als sie
erzählte, wie sie in der Schule schikaniert worden war und sich
ihre Eltern Nacht für Nacht gestritten hatten. Je mehr sie
erzählte, umso realer kam es ihr vor.
Eines Abends hatten
sie draußen auf der Veranda gesessen, den warmen Abend genossen und
dem Zirpen der Grillen gelauscht. Er hatte sie nach ihrer Schulzeit
gefragt, und sie antwortete mit einer tragischen Geschichte. Sie
hätte in einem Theaterstück mitgespielt, doch weder Vater noch
Mutter waren zur Aufführung erschienen, und als sie nach Hause
gekommen war, hatte ihr Vater erst ihre Mutter geschlagen, dann
sie. Die Worte waren ihr einfach so entglitten. Danach hatte er
lange geschwiegen, und sie hatte sich entsetzlich gefühlt, ein
schlechtes Gewissen gehabt, sich geschämt. Sie war zu weit
gegangen.
Dann hatte Larry
ihre Hand genommen und sie an sein Herz gelegt. »Wir passen
zusammen wie Topf und Deckel, du und ich.« Dann hatte er ihr
gesagt, wie sehr er sie bewunderte, wie unglaublich es war, dass
sie so stark und fröhlich und glücklich war, nach allem, was sie
erlebt hatte. Und dann küsste er sie.
Sadie hatte niemals
eine lange Beziehung, überhaupt eine Beziehung gehabt. Sie hatte
als Teenager gelegentlich rumgeknutscht und ihre Jungfräulichkeit
mit neunzehn bei einer Party verloren, zu der sie sich mit ihrer
Freundin selbst eingeladen hatte. Sie kannte den Jungen von der
Universität, hatte mit ihm in einem der Schlafzimmer Sex, ihm ihre
Nummer gegeben und niemals wieder von ihm gehört.
Sie erwiderte den
Kuss nur zögernd. Larry hörte mittendrin auf und wich
zurück.
»Ich bin nicht
besonders gut in so was«, sagte er.
»Ich auch
nicht.«
»Du? Du musst doch
Heerscharen von Verehrern gehabt haben.«
Sadie sagte ihm die
Wahrheit. Er glaubte ihr nicht. »Du hattest noch nie einen
richtigen Freund? Dann stimmt es ja doch. Australische Typen sind
völlig beknackt.«
Sie küssten sich
wieder. Als sie sich voneinander lösten, lächelte er. Strahlte sie
an.
»Was ist so
komisch?«
»Nichts ist
komisch«, sagte er.
»Warum grinst du
dann so?«
»Weil ich darauf
seit Wochen gewartet habe.« Er liebte sie, sagte er. So einfach war
das. Er fand sie großartig. Er liebte alles an ihr, ihr Aussehen,
ihre Art zu reden, zu arbeiten, zu lachen.
Sie antwortete
beinahe fassungslos, dass sie ihm gegenüber genauso empfand. Das
war ihr bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen. Nur, dass sie
seine Gesellschaft genoss, dass ihr die Arbeit mit ihm nicht wie
Arbeit vorkam, dass es ihr nichts ausmachte, Tanzböden zu polieren,
hunderte Gläser zu spülen oder versiffte Toilettenanlagen zu
schrubben. Mit ihm machte es Spaß.
Sie küssten sich
wieder, bis einer ihrer Mitbewohner nach draußen kam und
applaudierte. »Das wurde aber auch verdammt Zeit.«
Larry war noch in
derselben Nacht in ihr Zimmer gezogen und von dem Moment an waren
sie ein Liebespaar. Sie arbeiteten zusammen und verbrachten ihre
Freizeit zusammen.
So etwas hatte Sadie
noch niemals erlebt. Sie fühlte sich nicht nur geliebt, sondern
auch beschützt. Er war immer an ihrer Seite. Nach und nach baute er
ihr Selbstbewusstsein auf, jeden Tag, mit kleinen Komplimenten und
Ermunterungen. Natürlich herrschte nicht nur eitel Sonnenschein.
Sie stritten sich auch, aber wenn es seine Schuld war,
entschuldigte er sich immer gleich, und wenn es ihre war, bat sie
um Verzeihung.
Zu heiraten war der
nächste logische Schritt. Sie entschieden sich für ein Standesamt.
Er besaß eine Aufenthaltsgenehmigung, sie hatte Geburtsurkunde und
Pass bei sich. Also waren keine Probleme zu erwarten. Bis Sadie
einfiel, dass er auf dem Standesamt erfahren würde, dass sie nicht
Sally Donovan hieß.
Sie machte sich
tagelang Gedanken. Eines Nachts, als sie im Bett lagen, drang seine
Stimme durch die Dunkelheit.
»Hast du deine
Meinung geändert, Sally?«
»Weswegen?«
»Wegen der
Heirat.«
»Nein, natürlich
nicht.«
»Was stimmt denn
dann nicht? Seit wir beschlossen haben zu heiraten, wälzt du dich
jede Nacht im Bett herum.«
Sie traf eine
Entscheidung. »Es gibt da etwas, was ich dir noch nicht erzählt
habe.«
»Du bist schon
verheiratet?«
»Nein, das ist es
nicht.« Sie zögerte. »Ich heiße nicht Sally Donovan. Das ist nicht
mein richtiger Name. Ich habe meinen Namen geändert, als ich
weggelaufen bin. Das musste ich.«
»Wie heißt du denn
wirklich?«
»Sadie. Sadie
Faraday.«
»Den Namen hätte ich
auch geändert. Sally Donovan klingt viel schöner.«
»Es macht dir nichts
aus?«
»Natürlich nicht.
Was soll ich denn sagen? Ich heiße ja auch nicht Larry.« Er zog sie
an sich und wurde ernst. »Sally, wir taten beide, was wir tun
mussten, um ein besseres Leben zu haben. Du hast deinen Namen
geändert und bist nach Queensland geflohen. Ich habe meinen Namen
geändert und bin nach Australien geflohen. Und dann haben wir uns
getroffen, und jetzt werden wir denselben Namen tragen. Natürlich
nur, falls du künftig O’Toole heißen willst. Ich finde, Sally
O’Toole klingt sogar noch besser.«
Sie brach in Tränen
aus. »Ich auch. Ich würde gerne O’-Toole heißen.«
»Dann hör auf zu
weinen. Wir können doch nicht von Stund an glücklich bis ans Ende
unserer Tage leben, wenn du weinen musst, oder?«
Er hatte recht. Dies
war ihr gemeinsamer Neubeginn. In dem Moment beschloss sie, dass er
über ihre Vergangenheit nicht mehr wissen musste. »Womit habe ich
dich verdient?«, fragte sie. Sie meinte die Frage
ernst.
Er küsste sie. »Das
frage ich mich umgekehrt auch.«
Sie heirateten und
gaben ein kleines Fest. Sie arbeiteten weiter, einigten sich, dass
sie später in die Flitterwochen fahren wollten, wenn sie noch etwas
mehr gespart hatten. Sie zogen gemeinsam in eine billige Wohnung.
Sie machten sich um Verhütung keine Gedanken. Sechs Wochen nach der
Hochzeit stellten sie fest, dass sie das sowieso nicht mehr
mussten. Sadie war schwanger. Zehn Monate nach der Hochzeit wurde
Maudie geboren.
Larry wählte den
Namen aus. Es war kein Name aus seiner Familie. »Es ist zwar ein
bisschen sentimental, aber als Kind hatte ich ein Lieblingsgedicht.
Es ist das einzige, das ich in der Schule auswendig gelernt habe.
Aber wenn du meinst, es ist zu altmodisch …?«
Er sagte das Gedicht für sie auf.
»Komm’ in den Garten, Maud« von Alfred Tennyson:
Komm’ in den Garten, Maud,
Nacht, die schwarze, senkt ihr’n Flor,
Komm’ in den Garten, Maud,
Ich harre deiner dort am Tor;
Und die Heckenkirsche duftet würzig rot,
Und der Rose Moschus weht empor.
Sadie fand es
wundervoll. Larry hatte, ohne es zu ahnen, eine Faraday’sche
Familientradition fortgeführt. Sadie war einige Tage lang traurig,
bis sie sich ins Gedächtnis rief, dass Larry den Namen ausgesucht
hatte, nicht sie. Und bald darauf hatte sie zu viel um die Ohren,
um sich Gedanken über ihre Familie und deren Traditionen zu
machen.
Sie hätte sich
niemals träumen lassen, dass sich ihr Leben einmal so entwickeln
würde. Sie hatte einen Ehemann, der sie liebte und den sie liebte,
und eine Tochter, die ohne Schwierigkeiten auf die Welt gekommen
war und ihnen nur Freude machte. Sadie hatte sich vom ersten
Augenblick an in sie verliebt, in dem Moment, als die Hebamme sie
ihr in die Arme gelegt hatte. An ihren Gefühlen hatte sich seither
nichts geändert.
Larry war ebenso
hingerissen. Er bewunderte Sadies mütterliches Talent. »Du machst
das so selbstverständlich«, sagte er oft, wenn er zusah, wie sie
Windeln wechselte oder ihrer Tochter, später dann, das Zählen
beibrachte. »Hast du mir eine Ausbildung zur Kindergärtnerin
verschwiegen?«
Sie lachte. Reiner
Instinkt, sagte sie. Instinkt und Liebe. Und so war es auch. Sie
hatte Maggie wirklich geliebt, aber die Gefühle für ihre eigene
Tochter hatten sie überwältigt. Sie kostete jeden Moment aus: wie
sie aussah, wie sie duftete, wie weich ihre Haut war. Wie sich ihr
Gesichtsausdruck änderte, wie sie ihre kleinen Händchen wie
Seesterne öffnete und schloss, wie sie sich konzentrierte, wenn sie
sich reckte. Sadies Faszination wuchs mit den Jahren. Sie hielt
jeden wichtigen Moment fest. Nicht jedoch in einem Sammelbuch. Dazu
konnte sie sich nicht überwinden. Stattdessen legte sie Fotoalben
an, viele Alben, mit detaillierten Beschreibungen zu jedem
Bild.
Je mehr sie mit
ihrer eigenen kleinen Familie in Brisbane beschäftigt war, umso
mehr wurden die Gedanken an ihre Familie in Hobart in den
Hintergrund gedrängt. Sie schrieb Maggie immer noch jedes Jahr an
die Adresse des Priesters eine Karte, mit einer kurzen Nachricht:
»Mir geht es sehr gut und ich hoffe, Dir auch.« Sie erhielt immer
Antwort von Maggie, mit allen Neuigkeiten. Maggies Karte lag auch
immer ein Brief von Leo bei, gelegentlich sogar Briefe oder
Botschaften von ihren Schwestern. Manchmal las sie darin, manchmal
auch nicht. Dieser Kontakt genügte ihr. Ihr Gewissen war beruhigt.
Sie wusste, dass es ihnen gut ging. Sie wussten, dass es ihr gut
ging. Sie hatte ohnehin viel zu viel um die Ohren, um sich Gedanken
um die anderen zu machen. Larry hatte mit ihr ein
Reinigungsunternehmen gegründet, und sie arbeiteten fast sechzehn
Stunden am Tag. Wenn es ging, nahmen sie Maudie zur Arbeit mit,
ansonsten kümmerten sie sich abwechselnd um sie.
Als Maudie vier
Jahre alt war, erhielt Larry einen Brief von einem Anwalt aus
Irland. Seine Mutter war gestorben, und er war der einzige Erbe. Zu
seiner großen Überraschung hatte sie im Laufe der Jahre ein kleines
Vermögen angespart.
Drei Monate später
zogen sie nach Dublin. Sie hatten genug Geld, um sich gleich ein
Haus zu kaufen, das Haus in Phibsboro, in dem sie immer noch
lebten. Larry hatte sich sofort damit beschäftigt, den Markt in
Dublin zu analysieren. Es gab eindeutig Bedarf an Reinigungsfirmen,
erklärte er. Wenn sie bereit wären, wieder viele Stunden zu
schuften, sich die Arbeit zu teilen, und möglichst viel erledigten,
während Maudie in der Schule war, könnten sie erneut eine Firma
gründen, so wie in Australien.
Es war allmählich
ins Laufen gekommen. Sie hatten im richtigen Moment angefangen, mit
dem richtigen Konzept, und bekamen rasch den Ruf, hart und
zuverlässig zu arbeiten. Sie versuchten auch, noch ein Kind zu
bekommen. Sadie war jeden Monat aufs Neue enttäuscht.
Larry ließ zu viel
Traurigkeit gar nicht erst aufkommen. »Wir haben mit Maudie so viel
Glück gehabt, warum es noch mal probieren?«
»Hättest du denn
nicht auch gerne mehrere Kinder? Wie kannst du nur immer so positiv
sein?«
Er war nicht darauf
eingegangen. »Das Leben stellt einen vor die Wahl, Sally. Man kann
in allem das Gute oder das Schlechte sehen. Ich entscheide mich
stets für das Gute.«
Aber würde er das
unter allen Umständen tun? Manchmal stellte sie sich vor, wie er
reagieren würde, wenn sie ihm die Wahrheit erzählen würde. Er würde
es gut aufnehmen: »Du hast die ganze Zeit gelogen? Du hast gar
keine häusliche Gewalt erlebt? Maudie hat eine Cousine, einen
Großvater und vier Tanten? Fantastisch! Willst du nach Tasmanien?
Wollen wir eine Familienzusammenführung organisieren?«
Er nahm es schlecht
auf: »Du hast mich von Anfang an belogen? Du hast das mit deiner
schrecklichen Kindheit erfunden, obwohl du weißt, dass ich das
wirklich erlebt habe? Unser ganzes Leben, aufgebaut auf Lügen?
Erwartest du wirklich, dass ich dir je wieder vertrauen
kann?«
Aufrichtigkeit war
Larry sehr wichtig. Sadie hatte erlebt, wie enttäuscht er war, wenn
Maudie auch nur eine kleine Notlüge erfand. Sie konnte es nicht
riskieren.
Die Wahrheit wäre
auch für ihre Tochter ein Schock, und das konnte Sadie ihr nicht
antun. Maudie wusste nur, dass ihre Mutter eine schwierige Kindheit
gehabt und sich entschieden hatte, sich von ihrer Familie
loszusagen. Maudie hatte das einfach so hingenommen und niemals
hinterfragt. Warum auch? Warum sollte ihre Mutter sie bei so etwas
Wesentlichem belügen?
Sadie vermisste ihre
Familie kaum. Larry und Maudie waren jetzt ihre Familie. Und es war
ja keine vollständige Entfremdung. Sadie wusste, welchen Erfolg Leo
mit seinen Erfindungen hatte, dass Myles und Juliet nach Manchester
gezogen waren und ihr Geschäft expandierte, dass Miranda in
Singapur lebte, Eliza einen Unfall gehabt und sich danach als
Lebenscoach neu erfunden hatte, dass Clementine Forschungsprojekte
in der Antarktis und Maggie einen tollen Job in London hatte. Sie
hätte jederzeit das Telefon in die Hand nehmen und sich mühelos
wieder in ihrer aller Leben eingliedern können. Doch damit hätte
sie das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, mit einem Atemzug
zerstört.
Als sie allein im
Wohnzimmer saß und in den Garten sah, entschied Sadie, dass sie
sich nicht ständig so viele Gedanken machen durfte. Dass der
Journalist Tasmanien erwähnt hatte, war reiner Zufall. Sie musste
sich auf die großartigen Dinge in ihrem Leben konzentrieren –
Larry, Maudie und ihr erstes Enkelkind, das bald zur Welt kommen
würde. Das war wesentlich. Sie würde Larry die Wahrheit nicht
sagen. Warum auch? Sie hatte ihre Familie vor zwanzig Jahren
verlassen. Die Entscheidung war damals richtig gewesen, und sie war
es auch heute noch.
Zeit, ins Bett zu
gehen. Sie stand auf, schloss die Vorhänge, räumte einige Zeitungen
weg und glättete die Sofakissen. Als sie das rote Kissen
aufschüttelte, fiel ihr eine komische Beule auf. Sie fasste in die
Kissenhülle. Eine Flasche aus violettem Glas. Ein Parfumflakon.
»Moonstruck«.
Sie lächelte. Sie
hatte schon darauf gewartet. Es war bereits einige Wochen her, dass
es ihr gelungen war, den Flakon in Maudies Tasche zu schmuggeln, in
einen Elternratgeber.
Das Parfum wanderte
jetzt seit über zwei Jahren zwischen ihnen hin und her, seit Maudie
die Flasche in Sadies Schrank entdeckt hatte. Sadie hatte es all
die Jahre behalten, es war mit ihr durch Australien gereist, von
Hostel zu Hostel, bis nach Irland. Es war das einzige Band zu ihren
Schwestern. Eines, an das sich schöne Erinnerungen
knüpften.
Sadie hatte Maudie
nicht erzählt, dass das Parfum einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie
hatte spontan eine Geschichte erfunden. Sie und eine Schulfreundin
hätten ein Spiel gespielt, es untereinander hin-und hergereicht,
aber die Regel war, es durfte nicht darüber gesprochen werden.
Maudie hatte den Flakon aufgeschraubt und das Gesicht verzogen.
»Kein Wunder, dass du das nicht behalten wolltest. Ist ja
widerlich.«
Sadie hatte so
getan, als hätte sie nicht gemerkt, dass Maudie die Flasche in
ihren Beutel gesteckt hatte. Sie hatte auch nichts gesagt, als der
Flakon eine Woche später beim Frühstück mit lautem Scheppern aus
einer Packung Cornflakes in ihre Schüssel gefallen
war.
»Du liebe Güte«,
hatte Larry gesagt. »Dieses blöde Plastikspielzeug, das in den
Packungen steckt, wird auch immer größer.«
Einmal hatte Sadie
die Flasche bei einem Besuch bei Maudie und Lorcam in der
Obstschale versteckt. Vierzehn Tage später hatte sie das Parfum in
einem Blumenkasten entdeckt. Im vergangenen Jahr hatte es an ihrem
Weihnachtsbaum gehangen. Die Flasche wanderte hin und her, ohne
dass sie auch nur ein Wort darüber verloren hätten.
Als Sadie nach oben
ins Schlafzimmer ging, lächelte sie.