36

Tasmanien. Er hatte Tasmanien erwähnt.
Sadie setzte sich kerzengerade im Bett auf. Sie wusste nicht, wie spät es war, was sie geweckt hatte, aber sie wusste nun, warum dieser Journalist sie so beschäftigt hatte. Er hatte Tasmanien erwähnt.
Wie konnte er davon wissen? Sie hatte es ihm nicht erzählt. In ihren Broschüren fand sich auch nichts darüber. Sie hatte mit Larry oder Maudie niemals über Tasmanien gesprochen. Sie glaubten beide, sie stammte aus Adelaide.
Sie ging die Unterhaltung noch einmal in Gedanken durch. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, sich das bloß eingebildet. Ihre Familie spukte ihr schließlich schon seit einer ganzen Woche im Kopf herum, wie immer um diese Jahreszeit, besonders seit Sadie vor einigen Jahren erfahren hatte, dass sich die anderen keine fünf Stunden von Dublin entfernt trafen.
Sie erinnerte sich noch lebhaft an ihren Schock. Maggies Brief stand ihr noch immer vor Augen. Er hatte mit der beiläufigen Bemerkung geschlossen, dass Leo wieder einmal alle überrumpelt hatte, indem er ein Ferienhaus gekauft hatte, »ausgerechnet in Donegal. Wir werden also künftig dort unsere Juli-Weihnachtsfeste feiern. Du bist uns von Herzen willkommen, sollte es dich jemals nach Irland ziehen.«
Daraufhin hatte sie den Brief, den Leo mitgeschickt hatte, sofort gelesen. Zum allerersten Mal. Sie las ihn immer erst später, je nachdem, in welcher Verfassung sie war. In seinem Brief war auch von dem Haus die Rede gewesen: »Falls du jemals dorthin kommen möchtest, um dich Tessa nahe zu fühlen, ich würde dir gerne die Reise bezahlen.«
Sie hatte seinen Brief augenblicklich vernichtet, dann Maggies. Sie hatte all ihre Briefe und Karten vernichtet. Das musste sie tun. Sie konnte nicht riskieren, dass sie Larry oder Maudie in die Hände fielen. Sie wusste nur zu gut, was daraus entstehen konnte, wenn man persönliche Dinge aufbewahrte. Doch die Neuigkeit mit dem Haus hatte sie nicht losgelassen.
Es war ein Leichtes gewesen herauszufinden, um welches Haus es sich handelte. Ein Anruf bei einem Auktionator in Letterkenny, der Kreisstadt von Donegal, eine beiläufige Frage, welche Häuser im Südwesten der Grafschaft, in der Nähe von Glencolmcille, in letzter Zeit verkauft worden waren. Sie wurde auf mehrere Websites verwiesen, auf denen zahlreiche Häuser aus der Gegend angeboten wurden. Sie hatte nicht einmal eine Stunde gebraucht: ein schönes, großzügig ausgebautes Haus, weiß getüncht, mit Blick auf See und Berge.
Sie war sogar einmal daran vorbeigekommen. Sie hatte mit Larry geschäftlich in Letterkenny zu tun gehabt, und auf dem Rückweg nach Dublin hatte er vorgeschlagen, ein wenig über Land zu fahren. Sie waren in ein Dorf gekommen, der Straße den Berg hinauf gefolgt, Sadie kannte den Weg aus dem Gedächtnis. Das Haus war nicht zu übersehen, es war das größte weit und breit. Im Vorgarten stand ein dezentes Schild: Zu vermieten. Darunter die Telefonnummer des Verwalters.
Sie hatte angehalten, den Motor laufen lassen. »Was meinst du? Wollen wir das mal den Sommer über mieten?«
Larry hatte geschaudert. »Nein, herzlichen Dank. Hier ist mir ein bisschen zu viel Natur.« Er war durch und durch Städter.
Sie war in Versuchung gewesen, das ließ sich nicht leugnen. Dort eine Weile zu wohnen, ganz allein, in ihrem Haus, ohne dass sie etwas ahnten … Oder in der Nähe zu bleiben, wenn sie alle dort waren. In denselben Geschäften einzukaufen, in denselben Pubs etwas zu trinken. Würden die anderen sie erkennen? Würde sie die anderen erkennen? Sie hatte sich nicht allzu sehr verändert. In jüngster Zeit waren einige graue Haare aufgetaucht, und sie kämpfte immer noch mit ihrem Gewicht, aber füllig war sie schon lange nicht mehr. Sie würden sie erkennen, da war sie sicher, und umgekehrt ebenso.
Sie mussten jetzt da sein. Sie hätte einfach aufstehen und sich ins Auto setzen, fünf Stunden fahren und ins Haus marschieren können. »Hallo, alle miteinander. Da bin ich wieder.«
Eher würde die Hölle zufrieren.
Sie stand dennoch auf, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie durfte jetzt nicht überreagieren. Dass der Mann Tasmanien erwähnt hatte, war bestimmt reiner Zufall.
Sie ging in die Küche und machte sich eine heiße Milch, obwohl die Nacht warm war. Wäre doch Larry bei ihr, dann bräuchte sie sich nur an ihn zu schmiegen, und schon wäre alles gut. Einmal hatte sie ihm das auch gesagt. Dass sie sich in seiner Gegenwart sicher fühlte, friedvoll. Vollkommen.
»Wir sind ja auch Seelenverwandte«, hatte er schlicht erwidert. »Wir sind füreinander bestimmt. Die Götter haben es gut mit uns gemeint. Wir beide sind vom Glück gesegnet.«
Dabei war Sadie damals vom Glück verlassen und wahrlich nicht gesegnet gewesen. Die Monate, bevor sie Larry begegnet war, waren die einsamsten und schrecklichsten ihres Lebens. Auch heute, im Rückblick, war sie noch manches Mal entsetzt. Es war, als schaute sie auf das Leben eines anderen Menschen. Eines zutiefst unglücklichen, verzweifelten Menschen.
Warum sie weggelaufen war, wusste sie genau. Aber wenn sie heute jemand fragen würde, warum sie Maggie mitgenommen hatte, könnte sie es noch immer nicht sagen. Aus Wut? Verzweiflung? War es der Schock? Um ihrer Familie wehzutun, damit sie ebenso litt? Oder aus einem ganz anderen Grund?
So viel war damals falsch gelaufen. Sie hatte sich so verloren gefühlt, so fehl am Platz. Ungeliebt. Eine Fremde inmitten der eigenen Familie. Wenn sie sich nicht das Zimmer mit Eliza geteilt hätte, hätte sie sich jede Nacht in den Schlaf geweint. Das einzig Gute in ihrem damaligen Leben war Maggie. Sie war die einzige Person in ihrer Familie, der sie sich verbunden fühlte. Maggie hatte nicht auf ihr herumgehackt, über sie geurteilt, sie heruntergeputzt oder mit ihr konkurriert. Sie war einfach gerne in ihrer Nähe. Manchmal hatten ihnen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren, Passanten zugelächelt. »Wie alt ist Ihre Tochter denn? Ihre Tochter hat aber ein reizendes Lächeln.« Natürlich bedeutete das nichts, trotzdem hatte sie es gerne gehört. Es vermittelte ihr das Gefühl, dass sie und Maggie zusammengehörten. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Freude in einer Zeit der Trostlosigkeit. Sie hatte sehr wohl gewusst, dass sie ihre Schwestern verrückt machte. Sie hatte Leos Enttäuschung gespürt. Sie konnte mit den anderen nicht mithalten, nicht einmal ansatzweise erreichen, was sie erreicht hatten. Aber warum? Was war bei ihr schiefgegangen?
Als sie die Tagebücher entdeckt hatte, hatte sie endlich die Antwort gefunden. Es erklärte so vieles. Niemals würde sie das Gefühl vergessen. Je mehr sie gelesen hatte, umso verstörter wurde sie. Wie konnte Leo mit so viel Hingabe von Tessa sprechen? Er musste das doch auch alles gelesen haben, und dennoch hatte er sich entschieden, all ihre Traditionen fortzuführen, das Bild der perfekten Mutter, der glücklichen Familie aufrechtzuerhalten.
Am meisten hatte sie ein Eintrag verletzt, den ihre Mutter zwei Tage nach Sadies zehntem Geburtstag, wenige Monate vor Tessas Tod, geschrieben hatte. Sadie erinnerte sich ganz deutlich an jene Zeit. So unbeholfen, so ungeschickt war sie damals, so verzweifelt bemüht, so hübsch und geistreich und klug wie ihre Schwestern zu sein. Sie hatte ihren Geburtstag feiern wollen, und Tessa und Leo hatten ihr erlaubt, drei Freundinnen einzuladen. Die Liste zu schreiben hatte ewig gedauert, denn sie hatte sich nicht zwischen den Mädchen in ihrer Klasse entscheiden können. Sie hatte die Einladungskarten selbst gemalt, ungeachtet Mirandas gemeiner Bemerkung, dass ihre Katzen wie missratene Mäuse aussähen. Sie war am nächsten Tag mit den Einladungen zur Schule und in der Pause stolz zu den drei Mädchen gegangen, sie hatte ihnen die Karten gegeben und gewartet, gegrinst, sich ihre Reaktion ausgemalt: »Eine Party? Super. Danke, Sadie.« Eines nach dem anderen hatten sie die Umschläge geöffnet. Kym, das größte Mädchen, hatte wenigstens den Anstand gehabt, beschämt auszusehen. »An dem Tag können wir nicht Sadie, tut mir leid.«
»Warum?«
Sie hatten mit den Füßen gescharrt, einander angeschaut, an Sadie vorbei, bis endlich ein Mädchen sagte: »Weil wir schon auf eine andere Feier gehen.«
Kyms Geburtstagsfeier am gleichen Tag. Alle waren eingeladen, mit Ausnahme von Sadie und drei anderen Mädchen, die selbst sie für das Letzte hielt.
Sie war nach der Schule zu ihrer Mutter nach Hause gerannt. Ihr Onkel Bill war zu Besuch gewesen und hatte rauchend auf der Veranda gesessen. Sie war an ihm vorbeigestürmt, weinend ins Haus gestürzt, hatte von ihrer Mutter umarmt und getröstet werden wollen. Ihre Mutter hatte im Bett gelegen. Sie wussten, dass sie bei ihrem Mittagsschlaf nicht gestört werden durfte, aber das war eine Ausnahme. Sadie brauchte sie. Sie war ins Zimmer gestolpert, weinend, hatte angefangen, alles zu erzählen. Dann der Schock, als sich ihre Mutter aufgesetzt und gesagt hatte, sie solle den Mund halten und sie in Ruhe lassen.
Als Sadie die Tagebücher gelesen und erfahren hatte, wie ihre Mutter diesen Tag schilderte, war es, als würde ihr ein Dolch ins Herz gestoßen. Tessa musste das Tagebuch gleich in die Hand genommen haben, nachdem Sadie das Zimmer verlassen hatte.
Sadie hatte mitten in der Nacht im Schuppen gesessen, die Tränen waren ihr übers Gesicht gelaufen. In jener Nacht hatte sie beschlossen, ihre Familie zu verlassen. Wenn Leo ein Leben aus Lügen leben und Tessa als perfekte Ehefrau und perfekte Mutter darstellen wollte, war das seine Entscheidung, aber Sadie konnte daran nicht länger teilhaben. Sie musste gehen, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihre Familie bringen.
Sie hatte vorgehabt, die beiden Wochen in Melbourne zum Nachdenken zu nutzen. Sie hatte vorgehabt, auf Miranda zu warten, damit Miranda Maggie zurück nach Hobart bringen konnte. Sie selbst hatte weiterziehen wollen nach Perth oder vielleicht Darwin. Nur weit weg.
Die Umstände hatten dann dazu geführt, dass sie Maggie mitgenommen hatte. Weil sie ihr von dem Abenteuer erzählt und gemerkt hatte, wie aufgeregt sie war. Weil sie so viel Spaß zusammen hatten. Weil Maggie ihr an jenem Abend in ihrer einmaligen Art gesagt hatte: »Ich muss dir ein Geheimnis verraten. Du bist meine Lieblingstante.« Sadie war das Herz aufgegangen. In dem Moment hatte sie gewusst, dass sie sich nicht von Maggie verabschieden konnte. Noch nicht.
Sie erinnerte sich an jede Einzelheit des Abends, als Leo und Clementine aufgetaucht waren. Es war ein Schock – Clementine hatte sie geschlagen, Leo ihr Maggie entrissen, als hätte sie in Gefahr geschwebt, dann war er zu ihr zurückgekommen und hatte immer wieder gefragt: »Warum, Sadie? Warum hast du das getan? Ist dir irgendetwas widerfahren? Wir lieben dich. Wir sind eine Familie. Sag es mir doch.«
Er hätte seine Worte nicht schlechter wählen können. Sie hatte es nicht sagen wollen, aber es war aus ihr herausgebrochen. »Lüg mich nicht an, Dad. Ich habe ihre Tagebücher gelesen. Ich kenne die Wahrheit.«
Niemals würde sie den Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen. Eine Maske war abgefallen und eine andere dahinter zum Vorschein gekommen. Er hatte genau gewusst, wovon sie sprach. In dem Moment war jede Hoffnung, dass Leo sagen könnte: »Aber nein, du irrst dich«, gestorben. Sie hatte sich weggedreht, sie hatte nicht länger zuhören können.
Sie war um ihr Leben gerannt. Sie hatte den Campingplatz noch vor sieben Uhr morgens verlassen, zum Erstaunen des Besitzers, der kaum wach war, die Rechnung bezahlt und ihm eine Tüte mit Maggies Sachen gegeben. Sie hatte eine halbe Stunde an einer Bushaltestelle außerhalb der Stadt gewartet, sich immer wieder im Schatten der drei Bäume verborgen, voller Angst, dass Leo und Clementine vorbeifahren könnten. Leo hatte gesagt, dass er am nächsten Morgen zurückkommen würde. Bis dahin wollte sie viele Meilen fort sein.
Schließlich hatte sie trampen müssen. Eine ältere Frau hatte sie mitgenommen. Sie war strikt gegen das Trampen, hatte sie Sadie erklärt und ihr während der ganzen Fahrt einen Vortrag gehalten. Sadie hatte das gerne in Kauf genommen, beschämt den Kopf hängen lassen und die Frau innerlich angefleht, schneller zu fahren.
Zwei Stunden später war sie in Brisbane. Zum ersten Mal. Sie hatte Angst, kaum Geld und war allein. Sie hatte sich verboten, über das Vergangene oder das, was vor ihr lag, nachzugrübeln. Sie hatte sich eingeredet, sie wäre im Urlaub, erlebte ein Abenteuer. Sie sprach mit sich selbst, wie sie zuvor mit Maggie gesprochen hatte. Es war doch aufregend, es machte Spaß. Sie kämpfte gegen Gedanken an ihre Familie an. Sie drangen trotzdem zu ihr durch. Miranda schnauzte sie an: »Was, zur Hölle, hast du dir dabei gedacht? Bist du jetzt noch irrer als sonst?« Juliet, mütterlich, besorgt, belehrend: »Hast du irgendeine Vorstellung davon, was wir uns für Sorgen gemacht haben? Wie konntest du so gedankenlos sein?« Eliza hätte sie abgeurteilt. Was Clementine und Leo gesagt hätten, brauchte sie sich ja nicht auszumalen. Leos Wut war zu Fassungslosigkeit geworden, als er gehört hatte, dass sie die Tagebücher gelesen, dass sie seine Scharade durchschaut hatte.
Die erste Nacht hatte sie in einem Hostel verbracht, dem billigsten, das sie finden konnte, inmitten fröhlicher, lärmender Mädchen aus Deutschland, Irland, der Schweiz und den USA, auf dem letzten Stopp einer einjährigen Abenteuerreise. Sie hatte im Bett gelegen und zugehört, wie sie sich Tipps gaben, lustige Geschichten erzählten und Informationen über Sehenswertes austauschten. Beim Frühstück hatten sich zwei Mädchen in der Gemeinschaftsküche zu ihr gesellt. Sadie hatte noch etwas Obst übrig und es ihnen angeboten, dafür Käse mit Crackern erhalten.
Sie hatten sie mit Fragen bombardiert. »Du bist aus Australien, oder? Wie heißt du?«
»Sally«, hatte sie gesagt, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, und »Sally Donovan« mit Nachdruck hinzugefügt.
Es war so einfach. Sie erzählte den beiden Mädchen, dass sie gerade ihr Studium beendet hatte und sich ein Jahr Auszeit gönnen würde.
Sie erzählten ihr, wo sie überall gewesen waren, im äußersten Norden von Queensland, wo sie gegen Kost und Logis Obst gepflückt, geputzt oder Waren verpackt hatten. Sie sagten ihr, welches Hostel man in Darwin besser mied, weil der Besitzer ein schmieriger Widerling war. Sie erzählten ihr von einem Café in Cairns, das als inoffizielle Jobbörse für Rucksacktouristen fungierte. Wenn du nicht zimperlich bist, kannst du überall arbeiten, sagten sie. Besonders in Brisbane.
Sadie war nicht zimperlich. Ihr war egal, was sie tat. Sie wollte nur niemals wieder nach Hobart zurück. Niemals.
Im Laufe der folgenden Wochen spülte sie Geschirr und putzte Badezimmer, die Küchen der Pubs und Restaurants von Brisbane. Sie arbeitete tagsüber hart, damit sie nachts schlafen konnte. Die Belegung in ihrem Schlafsaal wechselte. Sadie ergänzte ihre Geschichte um weitere Details. Es war so leicht, wenn man sich nicht gegen jemanden wie Miranda durchsetzen musste, der einem mit einer spitzen Bemerkung den Boden unter den Füßen wegziehen konnte.
Sie färbte sich mit einer billigen Mixtur aus der Drogerie das Haar schwarz und versaute das Gemeinschaftsbad im Hostel so sehr, dass sie zum Putzen zwei Stunden und eine ganze Flasche Bleiche benötigte. Sie hatte erwartet, dass die anderen Mädchen sie schelten würden, so wie Juliet und Eliza. Doch eine Italienerin namens Maria hatte nur gelacht. Ein anderes Mädchen hatte angeboten zu helfen, als Sadie auf den Knien lag, um die schwarzen Farbspritzer wegzuwischen.
Tagsüber gelang es ihr, die Gedanken an ihre Familie zu verdrängen. Außer an Maggie. Es bestürzte sie, wie sehr sie ihre Nichte vermisste. Sie hatte sich nicht von ihr verabschieden können. Was, wenn Maggie nun glaubte, Sadie hätte sie vergessen? Was hatten sie Maggie erzählt? Das beschäftigte sie. Aber was konnte sie tun? Sie konnte kaum zu Hause anrufen, sich Maggie geben lassen und versuchen, einer Fünfjährigen die Situation zu erklären. Außerdem wusste sie nicht, was Clementine tun würde. Sie anzeigen?
Dann war ihr die Idee gekommen, über Vater Cavalli mit Maggie Kontakt aufzunehmen. Auf dem Rückweg von einem ihrer Gelegenheitsjobs war sie an einem Priester vorbeigekommen, der mit einer jungen Frau gesprochen hatte. Das Bild hatte sich ihr eingeprägt. Drei Tage später stand sie in einer Telefonzelle. Vater Cavalli war selbst ans Telefon gegangen. Wenn nicht, hätte Sadie wohl aufgelegt. Sie hatte nicht viel erzählt. Ob er überhaupt etwas von der ganzen Sache wusste? Wahrscheinlich nicht. Die Faradays gingen nicht mehr zur Kirche. Sie hatte ihm gesagt, dass es Streit gegeben hätte, ohne näher ins Detail zu gehen. Sie wollte eine Weile allein sein, aber Maggie sollte nicht glauben, es sei ihre Schuld. Wenn sie eine Karte an Maggie schicken würde, an die Adresse des Priesters, würde er sie wohl an Maggie weiterleiten?
Er hatte einige Plattitüden von sich gegeben, die sie nach Kräften ignoriert hatte. Das war schließlich sein Job, also hatte sie so getan, als würde sie zuhören. Er hatte sie gedrängt, in ihrem Herzen Vergebung zu finden, zu erkennen, dass alle Familien durch schwere Zeiten gingen, und betont, dass die Liebe alles überwinden konnte.
»Was aber, wenn es keine Liebe gibt, Vater?«
Er hatte geschwiegen.
»Die Liebe in der Familie ist die stärkste Liebe, Sadie.«
Danach hatte sie sich verabschiedet. Aber sie war ihm dankbar. Er hatte zugesagt, als Mittler zu agieren. Sie hatte ihm ein Postfach in der Hauptpost von Brisbane als Anschrift gegeben. Wenn sich ihre Adresse ändern würde, würde sie es ihm mitteilen.
»Du musst beten, Sadie«, hatte er sie gedrängt.
Sie hatte seit Jahren nicht mehr gebetet und nicht vor, es wieder zu tun. Das hatte sie ihm aber nicht gesagt.
Am nächsten Tag hatte sie Maggie eine Geburtstagskarte geschickt, eine, die ihr gefallen würde, mit tanzenden Mäusen darauf. Zwei Wochen später war ihr täglicher Gang zur Post belohnt worden. Auf sie hatte ein Umschlag mit fremder Schrift gewartet. Wohl die von Vater Cavalli. Im Innern hatte eine Karte gelegen. Maggie dankte ihr und berichtete, dass sie in der Schule gerade in zwei Fächern eine Eins plus bekommen hätte. Ich vermiss Dich und hab Dich ganz doll lieb, Maggie xxxxxx. Im Umschlag hatte auch eine Nachricht von Leo gesteckt. Sadie las sie nicht.
Während der folgenden Monate lebte sie das Leben einer Rucksacktouristin. Sie ging, wohin es sie verschlug. Sie reiste nach Norden zur Mango-Ernte und schlief in Hostels, die neben Menschen auch große Spinnen, Schlangen und Fruchtfledermäuse beherbergten. Eines Nachts wurde sie wach, als eine Spinne über ihr Kopfkissen krabbelte. Noch am gleichen Abend war sie wieder in Brisbane, in ihrem alten Hostel. Am Tag darauf fand sie Arbeit in einem Pub im Stadtzentrum. So leicht ging das.
Warum hatte sie das nicht längst getan? Sie hatte nicht gewusst, dass man so leben, so frei sein konnte. Sie genoss das unglaubliche Gefühl, als sie selbst zu gelten, nicht als eines der Faraday-Mädchen, als Mirandas weniger glamouröse Schwester, Clementines weniger kluge, Juliets weniger fleißige oder Elizas weniger sportliche Schwester. Sie war einfach sie selbst.
Sie erfand ständig neue Kapitel zu ihrem Leben, je nachdem, was sie gefragt wurde. Sie erzählte, dass sie aus Adelaide stammte. Dass ihre Eltern Lehrer waren. Dass sie darauf bestanden, dass sie auch Lehrerin wurde, sie aber erst ein wenig von der Welt sehen wollte. Ihre Zimmergenossinnen zeigten Mitleid und Mitgefühl. Alle nahmen sie so, wie sie war.
Zu ihrer Überraschung veranstaltete das Hostel auch eine Juli-Weihnachtsfeier. Sadie hatte immer geglaubt, das wäre allein eine Faraday’sche Familientradition. Die Rucksacktouristen aus England, Irland und anderen Teilen Europas stürzten sich mit Eifer ins Festgetümmel. Sadie ging stattdessen ins Kino. Sie sah sich nacheinander drei Filme an und kam erst zurück, als das Fest schon lange vorbei war.
Die gleiche Begeisterung kam im Dezember auf – alle redeten darüber, wie lustig es war, Weihnachten zu feiern, wenn es heiß war, alle standen Schlange, um ihre Angehörigen auf der anderen Seite der Welt anzurufen. Ruth, ein Mädchen aus Schottland, war aufgefallen, dass Sadie niemanden anrief.
»Kannst du es dir nicht leisten?«, flüsterte sie. »Ich geb dir gerne Geld, wenn du willst.«
»Nein, aber danke.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Wir haben uns furchtbar zerstritten«, sagte Sadie. Das kam der Wahrheit bisher am nächsten.
»Dafür sind Familien doch da, oder? Ihr werdet euch schon wieder vertragen.« Ruth war so bemüht und optimistisch.
»Ich glaube nicht«, sagte Sadie.
»Liegt es an dir? Fehlt dir deine Familie nicht?«
Sie fehlte ihr nicht. Noch nicht. Ihr ging es mit jedem Tag ohne ihre Familie besser. Nur Maggie fehlte ihr.
Sadie war spazieren gegangen. In der Zwischenzeit hatte Ruth den anderen erzählt, dass Sadie traurig war, weil sie sich mit ihrer Familie zerstritten hatte. Einige der Mädchen waren zu ihr gekommen, hatten sie bemitleidet und umarmt. »Wir sind da, falls du darüber reden möchtest«, hatte eine junge Frau aus Kanada gesagt.
Und so hatte Sadie geredet. Ihnen alles erzählt. Doch nicht die wahre Geschichte. Eine andere Geschichte, deren Worte einfach aus ihr herauspurzelten. Von ihrem gewalttätigen Vater, der ihre Mutter angeblich seit Jahren schlug. Eines Tages hätte Sadie sich ihm in den Weg gestellt. Er hätte einen Stuhl nach ihr geworfen. Sie zeigte ihnen die Narbe an der Stirn. In Wahrheit stammte sie von einem Sturz von der Schaukel, Sadie war damals sechs Jahre alt gewesen.
Die anderen Mädchen hatten sie mit offenem Mund angestarrt. So viel Aufmerksamkeit war Sadie noch nie zuteilgeworden. Bei dem Gedanken an Leo, der niemals die Hand gegen eine seiner Töchter erhoben hatte, hatte sie schon ein wenig das schlechte Gewissen gedrückt. Aber dann hatte sie wieder auf ihr Publikum geschaut, das an ihren Lippen hing.
Über Nacht wurde sie zum Vorbild in Sachen Überlebenskunst. Sie fühlte sich schuldig. Manche Menschen erlebten das alles wirklich, was sie nur erfunden hatte. Doch nun war es zu spät, nun konnte sie nichts mehr zurücknehmen.
Einen Monat später war sie in eine Wohngemeinschaft gezogen, und eines der Mädchen aus dem Hostel war auch dort eingezogen. Es war ein typisches Queensland-Haus auf Stelzen, damit die Luft besser zirkulieren konnte, und mit großen Veranden, auf denen genauso viele Möbel wie im Innern des Hauses standen. Sadie besaß nicht viel, aber nun hatte sie endlich ein eigenes Zimmer mit einer Schaumstoffmatratze auf dem Boden, einem Kleiderständer und einem Spiegel. Mehr brauchte sie nicht.
Einer ihrer Mitbewohner hatte ihr von einem Job in einem großen Hotel erzählt. Eine Putzstelle. Die Arbeitszeiten wären schrecklich, sagte er. Sie müsste um sechs Uhr morgens anfangen, aber dafür hätte sie schon um elf Uhr vormittags Feierabend und den ganzen Tag noch vor sich.
Ihr sagte das zu. Sie hatte angefangen, regelmäßig zu schwimmen, sie genoss das Gefühl, den Widerstand des Wassers zu spüren und kräftig und ausdauernd zu werden. Wenn sie morgens früh arbeitete, könnte sie danach an den Strand fahren und den ganzen Tag lang schwimmen und lesen.
Sie ging zum Vorstellungstermin, erzählte wahrheitsgemäß von all ihren Putzstellen, machte unwahrheitsgemäße Angaben zu ihrem Namen und ihrer Herkunft. Sie war darin schon so geübt, dass ihr Gegenüber niemals gemerkt hätte, dass sie log. Am nächsten Tag erhielt sie den Anruf. Sie sollte am kommenden Montag anfangen. Sie würden zu zweit arbeiten, sie und ein junger Kerl aus Irland namens Peter O’Toole.
»Sag Larry zu mir«, hatte er zur Begrüßung gemeint.
Sie hatte ihn auf der Stelle gemocht. Er hatte so fröhlich gelächelt. Wenn sie in späteren Jahren Freunden davon erzählten, sagte Sadie immer, dass es keine Liebe auf den ersten Blick war. »Es war Mögen auf den ersten Blick«, erklärte sie.
»Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick«, sagte Larry dann immer.
Ihr erster Eindruck erwies sich als zutreffend. Er sah so fröhlich aus, weil er so fröhlich war. Seinen Spitznamen hatte er nach Lawrence von Arabien erhalten, der berühmtesten Rolle seines irischen Namensvetters Peter O’Toole. Er war nur einen Meter siebzig groß, hatte ein rundes Gesicht, Sommersprossen, einen stämmigen Körper, blaue Augen und das breiteste, heiterste Lächeln, das Sadie jemals gesehen hatte.
Ihr war auch noch nie jemand begegnet, der so enthusiastisch war. Er fand Australien großartig, meinte, dass die Putzstelle »der Hammerjob« war: »Morgens fünf Stunden putzen und dann den ganzen Tag frei. Und das nennt sich Arbeit?«
Sie waren ein tolles Team, das merkten sie gleich in der ersten Woche. Am Wochenende mussten sie den Nachtclubbereich des Hotels putzen, während der Woche die Konferenzräume und die Bar in der Lobby. Larry übernahm die körperlich schwere Arbeit: Er schob die Möbel beiseite, machte die Bodenreinigung und schleppte die Tabletts mit den leeren Flaschen zum Altglascontainer. Sadie arbeitete hinter ihm her, sie polierte, wischte und füllte die Regale nach. Sie wechselten sich bei den Toiletten ab, aber wenn sie besonders eklig waren, putzten sie gemeinsam. Sie entwickelten einen derart effizienten Arbeitsablauf, dass eines Morgens sogar der Hotelmanager zu ihnen kam, um ihre Arbeit zu loben.
Larry hatte vorgeschlagen, noch früher anzufangen, damit sie noch früher Feierabend machen konnten. »Wenn wir um fünf anfangen würden, wären wir um zehn fertig. Was hältst du davon?«
»Und was sollen wir dann machen?«
»Was immer wir wollen. Eine Stunde macht viel aus. Ich will Surfen lernen et cetera.« Er sagte oft und fälschlicherweise »et cetera« statt »beispielsweise«. Sie fand das sehr charmant. »Komm, lass uns zusammen Surfen lernen, Sally.«
Sie lernten Surfen, dann entschieden sie sich, es auch mit Windsurfen zu versuchen. Sadie machte bei beidem keine gute Figur, aber Larry spottete nicht. »Mach dir nichts draus. Steig aufs Brett und versuch’s gleich noch mal«, sagte er immer. Und das tat sie.
Sie unterhielten sich während der Arbeit, auf dem Weg zum Strand, bei billiger Pizza und beim Billardspielen. Er kam mehrmals in der Woche zu ihr. Als in ihrer Wohngemeinschaft ein Zimmer frei wurde, zog er aus seinem Hostel aus und in ihrem Haus ein. Sie redeten noch mehr. Er erzählte ihr von seiner Kindheit in Dublin. Sie blieb bei ihrer Adelaide-Version. Sie erfuhr nach und nach, dass er keine einfache Kindheit gehabt hatte. Seine Mutter hatte seinen Vater verlassen, als Larry erst fünf Jahre alt war. Sie waren oft umgezogen. Seine Mutter hatte in Hotelbars gearbeitet. Dort war sie leider zu leicht an Alkohol gekommen.
»Deshalb trinkst du nie?« Erst in dem Moment war ihr aufgegangen, dass sie ihn niemals mit einem Drink gesehen hatte, nicht einmal mit einem Bier.
Er machte kein großes Aufhebens. »Für mich hat es nie nach einem Vergnügen ausgesehen.«
Also trank sie in seiner Gesellschaft auch nicht. Es machte ohnehin keinen Sinn, da sie beide um vier Uhr morgens aufstehen mussten.
Sie hörte schreckliche Geschichten von Nächten, in denen er seiner Mutter die Stufen zum Schlafzimmer hinaufhelfen musste, in denen sie volltrunken vor dem Haus lag, in denen Horden von Männern durch ihr Bett und ihr Leben gewandert waren. Er fragte Sadie nach ihrer Familie. Ihm war die Geschichte zu Ohren gekommen, die sie damals im Hostel erzählt hatte. Sadie hatte ein schlechtes Gewissen und versuchte, dem Thema auszuweichen. Ihre Geschichte war erfunden. Seine nicht. Er war verletzt, dass sie sich ihm verschloss und ihm nicht vertraute, also erzählte sie. Zum Ausgleich schmückte sie ihre Geschichte noch mehr aus, schilderte eine schwierige Kindheit, einen gewalttätigen Vater, ein Leben in ständiger Angst. Sadie wusste nicht, woher all diese Geschichten kamen, aber sie ließen sich nicht aufhalten. Sie wurden immer detailreicher, als sie erzählte, wie sie in der Schule schikaniert worden war und sich ihre Eltern Nacht für Nacht gestritten hatten. Je mehr sie erzählte, umso realer kam es ihr vor.
Eines Abends hatten sie draußen auf der Veranda gesessen, den warmen Abend genossen und dem Zirpen der Grillen gelauscht. Er hatte sie nach ihrer Schulzeit gefragt, und sie antwortete mit einer tragischen Geschichte. Sie hätte in einem Theaterstück mitgespielt, doch weder Vater noch Mutter waren zur Aufführung erschienen, und als sie nach Hause gekommen war, hatte ihr Vater erst ihre Mutter geschlagen, dann sie. Die Worte waren ihr einfach so entglitten. Danach hatte er lange geschwiegen, und sie hatte sich entsetzlich gefühlt, ein schlechtes Gewissen gehabt, sich geschämt. Sie war zu weit gegangen.
Dann hatte Larry ihre Hand genommen und sie an sein Herz gelegt. »Wir passen zusammen wie Topf und Deckel, du und ich.« Dann hatte er ihr gesagt, wie sehr er sie bewunderte, wie unglaublich es war, dass sie so stark und fröhlich und glücklich war, nach allem, was sie erlebt hatte. Und dann küsste er sie.
Sadie hatte niemals eine lange Beziehung, überhaupt eine Beziehung gehabt. Sie hatte als Teenager gelegentlich rumgeknutscht und ihre Jungfräulichkeit mit neunzehn bei einer Party verloren, zu der sie sich mit ihrer Freundin selbst eingeladen hatte. Sie kannte den Jungen von der Universität, hatte mit ihm in einem der Schlafzimmer Sex, ihm ihre Nummer gegeben und niemals wieder von ihm gehört.
Sie erwiderte den Kuss nur zögernd. Larry hörte mittendrin auf und wich zurück.
»Ich bin nicht besonders gut in so was«, sagte er.
»Ich auch nicht.«
»Du? Du musst doch Heerscharen von Verehrern gehabt haben.«
Sadie sagte ihm die Wahrheit. Er glaubte ihr nicht. »Du hattest noch nie einen richtigen Freund? Dann stimmt es ja doch. Australische Typen sind völlig beknackt.«
Sie küssten sich wieder. Als sie sich voneinander lösten, lächelte er. Strahlte sie an.
»Was ist so komisch?«
»Nichts ist komisch«, sagte er.
»Warum grinst du dann so?«
»Weil ich darauf seit Wochen gewartet habe.« Er liebte sie, sagte er. So einfach war das. Er fand sie großartig. Er liebte alles an ihr, ihr Aussehen, ihre Art zu reden, zu arbeiten, zu lachen.
Sie antwortete beinahe fassungslos, dass sie ihm gegenüber genauso empfand. Das war ihr bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen. Nur, dass sie seine Gesellschaft genoss, dass ihr die Arbeit mit ihm nicht wie Arbeit vorkam, dass es ihr nichts ausmachte, Tanzböden zu polieren, hunderte Gläser zu spülen oder versiffte Toilettenanlagen zu schrubben. Mit ihm machte es Spaß.
Sie küssten sich wieder, bis einer ihrer Mitbewohner nach draußen kam und applaudierte. »Das wurde aber auch verdammt Zeit.«
Larry war noch in derselben Nacht in ihr Zimmer gezogen und von dem Moment an waren sie ein Liebespaar. Sie arbeiteten zusammen und verbrachten ihre Freizeit zusammen.
So etwas hatte Sadie noch niemals erlebt. Sie fühlte sich nicht nur geliebt, sondern auch beschützt. Er war immer an ihrer Seite. Nach und nach baute er ihr Selbstbewusstsein auf, jeden Tag, mit kleinen Komplimenten und Ermunterungen. Natürlich herrschte nicht nur eitel Sonnenschein. Sie stritten sich auch, aber wenn es seine Schuld war, entschuldigte er sich immer gleich, und wenn es ihre war, bat sie um Verzeihung.
Zu heiraten war der nächste logische Schritt. Sie entschieden sich für ein Standesamt. Er besaß eine Aufenthaltsgenehmigung, sie hatte Geburtsurkunde und Pass bei sich. Also waren keine Probleme zu erwarten. Bis Sadie einfiel, dass er auf dem Standesamt erfahren würde, dass sie nicht Sally Donovan hieß.
Sie machte sich tagelang Gedanken. Eines Nachts, als sie im Bett lagen, drang seine Stimme durch die Dunkelheit.
»Hast du deine Meinung geändert, Sally?«
»Weswegen?«
»Wegen der Heirat.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Was stimmt denn dann nicht? Seit wir beschlossen haben zu heiraten, wälzt du dich jede Nacht im Bett herum.«
Sie traf eine Entscheidung. »Es gibt da etwas, was ich dir noch nicht erzählt habe.«
»Du bist schon verheiratet?«
»Nein, das ist es nicht.« Sie zögerte. »Ich heiße nicht Sally Donovan. Das ist nicht mein richtiger Name. Ich habe meinen Namen geändert, als ich weggelaufen bin. Das musste ich.«
»Wie heißt du denn wirklich?«
»Sadie. Sadie Faraday.«
»Den Namen hätte ich auch geändert. Sally Donovan klingt viel schöner.«
»Es macht dir nichts aus?«
»Natürlich nicht. Was soll ich denn sagen? Ich heiße ja auch nicht Larry.« Er zog sie an sich und wurde ernst. »Sally, wir taten beide, was wir tun mussten, um ein besseres Leben zu haben. Du hast deinen Namen geändert und bist nach Queensland geflohen. Ich habe meinen Namen geändert und bin nach Australien geflohen. Und dann haben wir uns getroffen, und jetzt werden wir denselben Namen tragen. Natürlich nur, falls du künftig O’Toole heißen willst. Ich finde, Sally O’Toole klingt sogar noch besser.«
Sie brach in Tränen aus. »Ich auch. Ich würde gerne O’-Toole heißen.«
»Dann hör auf zu weinen. Wir können doch nicht von Stund an glücklich bis ans Ende unserer Tage leben, wenn du weinen musst, oder?«
Er hatte recht. Dies war ihr gemeinsamer Neubeginn. In dem Moment beschloss sie, dass er über ihre Vergangenheit nicht mehr wissen musste. »Womit habe ich dich verdient?«, fragte sie. Sie meinte die Frage ernst.
Er küsste sie. »Das frage ich mich umgekehrt auch.«
Sie heirateten und gaben ein kleines Fest. Sie arbeiteten weiter, einigten sich, dass sie später in die Flitterwochen fahren wollten, wenn sie noch etwas mehr gespart hatten. Sie zogen gemeinsam in eine billige Wohnung. Sie machten sich um Verhütung keine Gedanken. Sechs Wochen nach der Hochzeit stellten sie fest, dass sie das sowieso nicht mehr mussten. Sadie war schwanger. Zehn Monate nach der Hochzeit wurde Maudie geboren.
Larry wählte den Namen aus. Es war kein Name aus seiner Familie. »Es ist zwar ein bisschen sentimental, aber als Kind hatte ich ein Lieblingsgedicht. Es ist das einzige, das ich in der Schule auswendig gelernt habe. Aber wenn du meinst, es ist zu altmodisch …?«
Er sagte das Gedicht für sie auf. »Komm’ in den Garten, Maud« von Alfred Tennyson:
Komm’ in den Garten, Maud,
Nacht, die schwarze, senkt ihr’n Flor,
Komm’ in den Garten, Maud,
Ich harre deiner dort am Tor;
Und die Heckenkirsche duftet würzig rot,
Und der Rose Moschus weht empor.
Sadie fand es wundervoll. Larry hatte, ohne es zu ahnen, eine Faraday’sche Familientradition fortgeführt. Sadie war einige Tage lang traurig, bis sie sich ins Gedächtnis rief, dass Larry den Namen ausgesucht hatte, nicht sie. Und bald darauf hatte sie zu viel um die Ohren, um sich Gedanken über ihre Familie und deren Traditionen zu machen.
Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass sich ihr Leben einmal so entwickeln würde. Sie hatte einen Ehemann, der sie liebte und den sie liebte, und eine Tochter, die ohne Schwierigkeiten auf die Welt gekommen war und ihnen nur Freude machte. Sadie hatte sich vom ersten Augenblick an in sie verliebt, in dem Moment, als die Hebamme sie ihr in die Arme gelegt hatte. An ihren Gefühlen hatte sich seither nichts geändert.
Larry war ebenso hingerissen. Er bewunderte Sadies mütterliches Talent. »Du machst das so selbstverständlich«, sagte er oft, wenn er zusah, wie sie Windeln wechselte oder ihrer Tochter, später dann, das Zählen beibrachte. »Hast du mir eine Ausbildung zur Kindergärtnerin verschwiegen?«
Sie lachte. Reiner Instinkt, sagte sie. Instinkt und Liebe. Und so war es auch. Sie hatte Maggie wirklich geliebt, aber die Gefühle für ihre eigene Tochter hatten sie überwältigt. Sie kostete jeden Moment aus: wie sie aussah, wie sie duftete, wie weich ihre Haut war. Wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte, wie sie ihre kleinen Händchen wie Seesterne öffnete und schloss, wie sie sich konzentrierte, wenn sie sich reckte. Sadies Faszination wuchs mit den Jahren. Sie hielt jeden wichtigen Moment fest. Nicht jedoch in einem Sammelbuch. Dazu konnte sie sich nicht überwinden. Stattdessen legte sie Fotoalben an, viele Alben, mit detaillierten Beschreibungen zu jedem Bild.
Je mehr sie mit ihrer eigenen kleinen Familie in Brisbane beschäftigt war, umso mehr wurden die Gedanken an ihre Familie in Hobart in den Hintergrund gedrängt. Sie schrieb Maggie immer noch jedes Jahr an die Adresse des Priesters eine Karte, mit einer kurzen Nachricht: »Mir geht es sehr gut und ich hoffe, Dir auch.« Sie erhielt immer Antwort von Maggie, mit allen Neuigkeiten. Maggies Karte lag auch immer ein Brief von Leo bei, gelegentlich sogar Briefe oder Botschaften von ihren Schwestern. Manchmal las sie darin, manchmal auch nicht. Dieser Kontakt genügte ihr. Ihr Gewissen war beruhigt. Sie wusste, dass es ihnen gut ging. Sie wussten, dass es ihr gut ging. Sie hatte ohnehin viel zu viel um die Ohren, um sich Gedanken um die anderen zu machen. Larry hatte mit ihr ein Reinigungsunternehmen gegründet, und sie arbeiteten fast sechzehn Stunden am Tag. Wenn es ging, nahmen sie Maudie zur Arbeit mit, ansonsten kümmerten sie sich abwechselnd um sie.
Als Maudie vier Jahre alt war, erhielt Larry einen Brief von einem Anwalt aus Irland. Seine Mutter war gestorben, und er war der einzige Erbe. Zu seiner großen Überraschung hatte sie im Laufe der Jahre ein kleines Vermögen angespart.
Drei Monate später zogen sie nach Dublin. Sie hatten genug Geld, um sich gleich ein Haus zu kaufen, das Haus in Phibsboro, in dem sie immer noch lebten. Larry hatte sich sofort damit beschäftigt, den Markt in Dublin zu analysieren. Es gab eindeutig Bedarf an Reinigungsfirmen, erklärte er. Wenn sie bereit wären, wieder viele Stunden zu schuften, sich die Arbeit zu teilen, und möglichst viel erledigten, während Maudie in der Schule war, könnten sie erneut eine Firma gründen, so wie in Australien.
Es war allmählich ins Laufen gekommen. Sie hatten im richtigen Moment angefangen, mit dem richtigen Konzept, und bekamen rasch den Ruf, hart und zuverlässig zu arbeiten. Sie versuchten auch, noch ein Kind zu bekommen. Sadie war jeden Monat aufs Neue enttäuscht.
Larry ließ zu viel Traurigkeit gar nicht erst aufkommen. »Wir haben mit Maudie so viel Glück gehabt, warum es noch mal probieren?«
»Hättest du denn nicht auch gerne mehrere Kinder? Wie kannst du nur immer so positiv sein?«
Er war nicht darauf eingegangen. »Das Leben stellt einen vor die Wahl, Sally. Man kann in allem das Gute oder das Schlechte sehen. Ich entscheide mich stets für das Gute.«
Aber würde er das unter allen Umständen tun? Manchmal stellte sie sich vor, wie er reagieren würde, wenn sie ihm die Wahrheit erzählen würde. Er würde es gut aufnehmen: »Du hast die ganze Zeit gelogen? Du hast gar keine häusliche Gewalt erlebt? Maudie hat eine Cousine, einen Großvater und vier Tanten? Fantastisch! Willst du nach Tasmanien? Wollen wir eine Familienzusammenführung organisieren?«
Er nahm es schlecht auf: »Du hast mich von Anfang an belogen? Du hast das mit deiner schrecklichen Kindheit erfunden, obwohl du weißt, dass ich das wirklich erlebt habe? Unser ganzes Leben, aufgebaut auf Lügen? Erwartest du wirklich, dass ich dir je wieder vertrauen kann?«
Aufrichtigkeit war Larry sehr wichtig. Sadie hatte erlebt, wie enttäuscht er war, wenn Maudie auch nur eine kleine Notlüge erfand. Sie konnte es nicht riskieren.
Die Wahrheit wäre auch für ihre Tochter ein Schock, und das konnte Sadie ihr nicht antun. Maudie wusste nur, dass ihre Mutter eine schwierige Kindheit gehabt und sich entschieden hatte, sich von ihrer Familie loszusagen. Maudie hatte das einfach so hingenommen und niemals hinterfragt. Warum auch? Warum sollte ihre Mutter sie bei so etwas Wesentlichem belügen?
Sadie vermisste ihre Familie kaum. Larry und Maudie waren jetzt ihre Familie. Und es war ja keine vollständige Entfremdung. Sadie wusste, welchen Erfolg Leo mit seinen Erfindungen hatte, dass Myles und Juliet nach Manchester gezogen waren und ihr Geschäft expandierte, dass Miranda in Singapur lebte, Eliza einen Unfall gehabt und sich danach als Lebenscoach neu erfunden hatte, dass Clementine Forschungsprojekte in der Antarktis und Maggie einen tollen Job in London hatte. Sie hätte jederzeit das Telefon in die Hand nehmen und sich mühelos wieder in ihrer aller Leben eingliedern können. Doch damit hätte sie das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, mit einem Atemzug zerstört.
Als sie allein im Wohnzimmer saß und in den Garten sah, entschied Sadie, dass sie sich nicht ständig so viele Gedanken machen durfte. Dass der Journalist Tasmanien erwähnt hatte, war reiner Zufall. Sie musste sich auf die großartigen Dinge in ihrem Leben konzentrieren – Larry, Maudie und ihr erstes Enkelkind, das bald zur Welt kommen würde. Das war wesentlich. Sie würde Larry die Wahrheit nicht sagen. Warum auch? Sie hatte ihre Familie vor zwanzig Jahren verlassen. Die Entscheidung war damals richtig gewesen, und sie war es auch heute noch.
Zeit, ins Bett zu gehen. Sie stand auf, schloss die Vorhänge, räumte einige Zeitungen weg und glättete die Sofakissen. Als sie das rote Kissen aufschüttelte, fiel ihr eine komische Beule auf. Sie fasste in die Kissenhülle. Eine Flasche aus violettem Glas. Ein Parfumflakon. »Moonstruck«.
Sie lächelte. Sie hatte schon darauf gewartet. Es war bereits einige Wochen her, dass es ihr gelungen war, den Flakon in Maudies Tasche zu schmuggeln, in einen Elternratgeber.
Das Parfum wanderte jetzt seit über zwei Jahren zwischen ihnen hin und her, seit Maudie die Flasche in Sadies Schrank entdeckt hatte. Sadie hatte es all die Jahre behalten, es war mit ihr durch Australien gereist, von Hostel zu Hostel, bis nach Irland. Es war das einzige Band zu ihren Schwestern. Eines, an das sich schöne Erinnerungen knüpften.
Sadie hatte Maudie nicht erzählt, dass das Parfum einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie hatte spontan eine Geschichte erfunden. Sie und eine Schulfreundin hätten ein Spiel gespielt, es untereinander hin-und hergereicht, aber die Regel war, es durfte nicht darüber gesprochen werden. Maudie hatte den Flakon aufgeschraubt und das Gesicht verzogen. »Kein Wunder, dass du das nicht behalten wolltest. Ist ja widerlich.«
Sadie hatte so getan, als hätte sie nicht gemerkt, dass Maudie die Flasche in ihren Beutel gesteckt hatte. Sie hatte auch nichts gesagt, als der Flakon eine Woche später beim Frühstück mit lautem Scheppern aus einer Packung Cornflakes in ihre Schüssel gefallen war.
»Du liebe Güte«, hatte Larry gesagt. »Dieses blöde Plastikspielzeug, das in den Packungen steckt, wird auch immer größer.«
Einmal hatte Sadie die Flasche bei einem Besuch bei Maudie und Lorcam in der Obstschale versteckt. Vierzehn Tage später hatte sie das Parfum in einem Blumenkasten entdeckt. Im vergangenen Jahr hatte es an ihrem Weihnachtsbaum gehangen. Die Flasche wanderte hin und her, ohne dass sie auch nur ein Wort darüber verloren hätten.
Als Sadie nach oben ins Schlafzimmer ging, lächelte sie.